Ansprache zur Beerdigung - Tod eines Mannes nach längerem Leiden Jer. 31,3 Liebe Angehörige, liebe Trauergemeinde Die Worte, die zum Abschied von einem lieben Menschen gesagt werden, sollen persönlich sein. Wir möchten darin die Züge des Verstorbenen erkennen, möchten sagen können: "Ja, so war er. So hat er gelebt. Das war ihm wichtig und ein Anliegen." Auf der anderen Seite gilt auch das: Am Grab muß das Wort Gottes gepredigt werden. Hier, wie nirgends anders, ist der Ort für die Botschaft von der Sache Gottes für seine Menschen, von Jesus Christus und von der Auferstehung der Toten. Auch das wird von vielen erwartet. Und das hat sein Recht! Denn schnell, sehr schnell wird zuviel von einem verstorbenen Menschen gesprochen und zu wenig vom lebendigen Gott. - Wie also reden - in einer solchen Stunde? Persönlich, daß wir spüren, die Erinnerung an den Verstorbenen ist unter uns lebendig...oder mit den Worten der Schrift, über das biblische Zeugnis von Tod und Auferstehung, als Stärkung unseres Glaubens? Ob wir nicht beides verbinden können? Ob sich nicht biblische Gedanken finden lassen, die zum Leben des Menschen, um den wir heute trauern, passen und die doch auch von den göttlichen Dingen reden, die wir Christen angesichts des Todes bezeugen müssen und sollen? Das wäre sicher gut, wenn wir heute nach dieser Beerdigung sagen könnten: Der Pfarrer ist dem Verstorbenen gerecht geworden, er hat aber auch das Wort der Schrift, die gute Nachricht nicht zu kurz kommen lassen? Diese Fragen haben mich bewegt, als ich über das Wort nachgedacht habe, daß Sie, liebe Angehörige, mir für heute genannt haben, daß ich darüber beim Abschied von G. T. spreche. Hier ist es, dieses Wort aus Jeremia im 31. Kapitel: Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. Dieses schöne Prophetenwort hat sozusagen eine persönliche Seite - und gewiß ist sie es gewesen, die sie da- zu geführt hat, gerade dieses Wort auszusuchen. Und es war wohl besonders der zweite Teil dieses Verses, der ihnen gefallen hat: ...ich habe dich zu mir gezogen aus lauter Güte. Und da wird dieses Wort wirklich sehr persönlich! G. T. hatte wohl schon seit einiger Zeit nur noch diesen einen Herzenswunsch: Sterben zu dürfen, dieses für ihn zuletzt wirklich sehr schwere, angegriffene und geschwächte Leben hinter sich zu las- sen! - Wie war er doch in seinen letzten Monaten und Wochen eingespannt, ja geradezu gefangen in der Folge immer wieder neuer Maßnahmen, Operationen und anderer Versuche, seinen schon so geschundenen, ange- schlagenen Leib zu erhalten, zu retten..., wie wir das vielleicht ein wenig ungenau nennen, denn bei Rettung geht es um mehr als daß ein Körper Puls hat und Atmung! Wie ist G. T. dabei doch immer tiefer hineingeraten in eine - bei aller gut gemeinten Hilfe - heute doch arg seelenlose Maschinerie aus medizinischem Bemühen und technischer Kunst, die alles tut und tun will, um ein Herz am Schlagen, eine Lunge am Atmen und einen Körper am Leben zu erhalten. Aber dabei geht heute zunehmend - weil eben so vieles machbar geworden ist - das Wissen verloren, daß unser Leben mehr ist, als daß wir atmen und unser Herz schlägt und daß unser Ge- schick und Schicksal zuletzt nicht abhängt von Maschinen, so fein sie auch erdacht sein mögen und nicht von den noch so geschickten Händen eines Chirurgen. Ich weiß es wohl, das sind sehr schwierige und auch heikle Gedanken - und doch will ich sie aussprechen: Manchmal scheint es mir schon so, als bezahlten wir für ein paar Wochen Verlängerung des Lebens einen hohen Preis in der Münze der totalen Abhängigkeit von Appara- ten, die unser Leben festhalten und nicht zu seinem natürlichen Ende kommen lassen und - oft genug - wird dann ja doch jede Hoffnung zerschlagen, wir haben es in der letzten Zeit viele Male so erlebt! Allerdings wur- de das Leid und das quälende Warten nur verlängert, und der Schmerz - wenn dann doch alles umsonst war - ist nur größer und manchmal unerträglich geworden. Liebe Gemeinde, wie gesagt, heikle, schwierige Gedanken. G. T. jedenfalls hat sich dem entzogen, das kön- nen wir wirklich so sagen. Er war selbst lange Jahre Krankenpfleger, darum wußte er um die Zwänge und si- cher oft auch den Wahn, wir Menschen müßten alle unsere Möglichkeiten ausnutzen, um ein paar Tage Leben zu schinden, die doch im Grunde diesen Namen nicht verdienen. Am vergangenen Mittwoch ist er nach Hause gekommen, schon einen quälend langen Tag später, als er es erbeten hatte. Nach Meinung der Ärzte wollte er für weitere Eingriffe Kräfte sammeln. Er selbst aber wollte sterben. Und es hat nur zwei Tage gedauert, da hatte er sich so weit losgelassen, daß er friedlich, ohne jeden Kampf, hinübergehen konnte. Und sie, liebe An- gehörige, haben ihm dabei nach Kräften geholfen. Sie haben ihn nicht mit Jammern und Wehklagen halten wollen, sondern ihm das leichte Gefühl gegeben: Es ist alles bereitet, es ist jeder versorgt - meine Dinge sind geregelt, mein Haus ist bestellt. So haben auch sie es ihm leicht gemacht, sich zuletzt so rasch von allem Irdi- schen zu lösen und heimzugehen zu dem, der allein wahres Leben schenkt und erhält und der es in der Ewig- keit erst zu seiner Vollendung führen will. Und so zuerst haben sie dieses Wort verstanden: ...ich habe dich zu mir gezogen aus lauter Güte. Daß nämlich Gott selbst es ihrem Verstorbenen geschenkt hat, so schnell seinen sterblichen Leib zu verlassen und seinen von manigfaltiger Krankheit geplagten Körper abzulegen, wie ein aufgebrauchtes Kleid. - Ich bin angesichts dieses Abschieds und der Gedanken, die mit ihm verbunden sind, sehr ins Nachdenken geraten: Ob Gott uns nicht vor dem Hintergrund dieses Sterbens wieder einmal sehr deutlich gezeigt hat, daß unser Glaube, alles machen zu können und das Leben selbst heute mit großem medizinischen Aufwand im Griff zu haben, eigentlich nur ein Wahn ist, ein Trugbild auch von dem, was wirk- liches Leben heißt. Ich will das für G. T. so sagen: Er hat das Leben verloren, das uns Apparate verlängern, ja, heute vielleicht gar über Jahre erhalten können. Aber er hat das Leben gewonnen und seine Würde be- wahrt, das uns von Gott herkommt und von ihm zu seiner, zur rechten Zeit, wieder genommen wird, um in ein ewiges Leben überzugehen. Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. Liebe Trauerge- meinde, das hat auch noch einen anderen, allgemeineren Sinn, dieses Wort. Das erinnert uns heute nämlich auch wieder einmal daran, was zuletzt Grund und Ursprung unseres Lebens ist: Gottes Liebe. Und auch das wird uns heute ja zunehmend verdunkelt. Vielleicht meinen wir, wenn wir noch jünger sind, wir lebten von der Kraft unserer Arme, der Schärfe unseres Verstandes oder gar unserem Durchsetzungsvermögen. Später nei- gen wir leicht dazu, in unserer Habe, unserem Verdienst und Vermögen das zu sehen, was unser Leben trägt. Und schließlich am Ende, wenn wir alt sind - da meinen wir, unser Leben machte aus, ob wir uns noch rüstig selbst versorgen können und ob die Rente reicht. Alles das aber ist es zuletzt nicht! Ich habe schon sehr viele gescheite und gut gebildete junge Menschen kennengelernt, aber ein Leben, das auch Tiefe hat und wesentlich ist, haben sie nicht geführt. Und noch die reichsten Leute können sich mit allem Geld und materiellen Kram ja nicht das Leben kaufen, das man gern lebt und als erfüllt und sinnvoll erfährt. Und die Rente...und daß wir rüstig sind, macht das wirklich das Leben im Alter rund und wertvoll? Wie oft sind alte Menschen so einsam und allein! Sie entbehren nichts im Sinn der Welt und es fehlt ihnen doch alles, was wirkliches Leben heißt! Ich habe dich je und je geliebt... Hier ist der tiefste Grund des Lebens angesprochen: Haben wir Gottes Liebe zu uns, ja, ist sogar ein Mensch in unserer Nähe, der uns diese Liebe Gottes weitergibt, -schenkt und spüren läßt, dann kann ein Leben gelingen! Dann sind wir verbunden mit dem tragenden Grund allen Lebens. Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. "Güte" - hier kommt noch das zweite ins Gespräch, das Gottes Wesen uns Menschen gegenüber ausmacht. Wir können uns eben nichts bei ihm verdienen. Nicht durch das größte Geschick, den Einsatz unserer ganzen Kraft oder unse- rer besten Ideen läßt Gott sich irgendetwas abtrotzen. Alles ist Geschenk, eben Güte, freiwillige Gnade. Und wie sollte auch Verdienst sein, was doch auch von Gott herkommt? Wie kann ich für die Stärke meines Ar- mes oder meine Klugheit von Gott einen Lohn erwarten? Von wem habe ich denn, was Gott mir dann auch noch belohnen soll? Ja, auch diese zweite, allgemeinere Deutung dieses Wortes ist beherzigenswert! Ich habe dich je und je ge- liebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. Daß wir uns heute neu darauf besinnen, daß unser Leben von Gott herkommt, aus seiner Liebe entspringt und von seiner Güte allein erhalten wird. Und daß wir - bei allen Begabungen und Gaben - unser Leben nicht erfüllt und lebenswert machen können. Und ich glaube fest, der allgemeine und der mehr persönliche Sinn dieses Wortes hingen zusammen, hätten einer mit dem anderen zu tun, wie Ursache und Wirkung, wie Anstoß und Folge... Aber das will ich noch einmal an dem deutlich machen, was wir am Leben von G. T. und besonders an seiner letzten Zeit wahrnehmen können: Er hat das am eigenen Leib erfahren, erfahren müssen in sehr schweren, leidvollen Jahren: Daß unser Leben aus uns selbst nichts ist, daß wir keine Kraft aus den eigenen Armen haben und keine Idee aus dem eigenen Kopf. Alles ist Liebe, alles ist Güte Gottes. G. T. hat diese Lektion gelernt, schmerzlich lernen müssen oder sagen wir, lernen dürfen! Denn das Wissen um diese tiefste Wahrheit des Lebens, daß wir von Gottes Güte und Liebe leben, das hat es ihm zuletzt leicht gemacht, sich von allem zu lösen, was ihn hier noch halten woll- te. Weil wir alle wissen, was auch G. T. wußte, daß nämlich nach dem irdischen Leben erst das Leben beginnt, darum wollen auch wir ihn jetzt seelenruhig loslassen und unserem Gott überlassen. Wir müssen uns um ihn nicht mehr sorgen. Vielleicht erwächst uns über der Erfahrung dieses Sterbens neu die Erkenntnis und der Wille uns darauf einzu- lassen, daß unser Leben in dieser Welt in Gottes Liebe entspringt, seinen Lauf und sein Ziel allein in seiner Güte hat. Das könnte manches zurechtrücken, was heute oft in Unordnung geraten ist. Unser Leben ist nicht Hab und Gut, nicht die Kraft unserer Arme, das Geschick unserer Hände und nicht die medizinische Kunst oder die Fähigkeit noch des besten Chirurgen. Hier erfahren wir, was unser Leben immer war, ist und bleibt, solange Gott Menschen auf seiner Erde wohnen läßt: Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.