Ansprache zur Beerdigung - Lebenslange Behinderung Joh. 15,5 Liebe Angehörige, liebe Trauergemeinde! Viele von uns haben G. Z. mehr oder weniger regelmäßig besucht. Die eine täglich, andere einmal in der Woche, manche von Zeit zu Zeit. Wir haben ihn - besonders in den letzten Jahren - in seinem Leid gesehen. Wir wußten, daß er schon seit Jahrzehnten ein schweres Leben hatte und mußten nun noch sehen, daß er in der letzten Zeit kaum noch laufen konnte, daß zu dem, was ihn schon so lange plagte, immer noch mehr hinzukam... Wir haben dabei besonders seine Geduld bewundert. Vielen von uns hat das auch hart zugesetzt. Wir haben laut oder mehr bei uns selbst gefragt: Warum nur müssen es manche Menschen so schwer haben? Warum diese Qualen, diese Schmerzen, dieses belastete, behinderte Leben? Vielleicht haben etliche auch so gedacht und bei sich gesprochen: Wie kann Gott solches Leiden zulassen. Sagen wir denn nicht, er sei die Liebe und die Barmherzigkeit? Mir haben sich manchesmal solche Gedanken aufgedrängt, solche Fragen, z.B. wenn ich mit G. Z. das Hausabendmahl gefeiert habe. Und die Kinder aus unserer Jungschar, mit denen ich ihm in der Vorweihnachtszeit Adventslieder gesungen habe, hatten auch immer Fragen im Gesicht geschrieben, die sie vielleicht so ausgedrückt hätten: Das ist doch ein so lieber alter Mann, warum muß der so be- hindert sein und darf nur so wenig Freude am Leben haben? Wir Erwachsene fassen die Frage vielleicht so: Wie reimt sich das: Guter Gott und ein solch schwe- res, behindertes Leben? Wie geht das zusammen: Vater im Himmel und gar nichts Schönes mehr ha- ben - über viele Jahre? Vielen, die G. Z. kannten, sind diese Gedanken gewiß auch begegnet. Man kann sich ja auch gar nicht dagegen wehren; wir haben schließlich mit eigenen Augen gesehen, wie es ihm ging. Da kommen halt solche Fragen: Warum? Warum er? Liebe Trauergemeinde! Wir könnten jetzt einen frohen Text aus dem Evangelium hören und be- trachten. Wir könnten den Zweifeln und trüben Gedanken, helle und schöne Dinge aus Gottes Wort gegenüberstellen, die gibt es ja auch! Wir würden damit unser "Warum" vielleicht zum Schweigen bringen. Die Fragen hätten wir verdrängt, für eine Weile jedenfalls. Aber wie lange? Denn werden die Zweifel nicht wiederkommen? Und werden die Fragen nicht wieder in uns aufstehen? Wie soll man denn in einer Welt, in der Kinder gequält, Gefangene gefoltert, Millionen am Hunger sterben, wie soll man denn da nicht immer wieder fragen, ja, es hinausschreien: Warum, warum, Gott? Und wir müssen da ja gar nicht nur an andere Menschen denken, - wir haben doch selbst jeder sein Päck- chen zu tragen: Eine Behinderung - vielleicht seit unserer Jugend, zerschlagene Lebenspläne, Angst, Hoffnungslosigkeit, die uns das Herz abschnürt, eine Krankheit, die früher oder später zum Tod füh- ren wird. Da fragt jeder ganz persönlich sein: Warum? Da ist auch manchem von uns ganz persön- lich schon der "liebe" Gott zerbrochen. Nein, wir sollten heute diese Fragen nicht verdrängen. Wir wollen uns ihnen lieber stellen. Wenn sie doch sowieso früher oder später wiederkehren, dann lieber heute über sie nachdenken, auch wo es uns unangenehm ist. Vielleicht, daß wir wenigstens eine Ah- nung von einer Antwort erhalten? Ich habe gestern angesichts dieser Fragen über den Konfirmationsspruch nachgedacht, der G. Z. vor 65 Jahren - hier in dieser Kirche - auf den Lebensweg mitgegeben wurde. Erst wollte ich den Vers aus dem Johannesevangelium ja wieder beiseite legen: Der paßt doch nicht für diese Stunde und auch nicht zu den vielen schweren Jahren von G. Z. Erst hat mir dieses Wort nichts gesagt, aber dann... Hier ist dieses Wort: Jesus sagt von sich: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der trägt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Lassen wir uns ein auf dieses Bild: Christus, der Weinstock...wir verbunden mit ihm, leben durch ihn, wachsen an ihm. Ein ganz klares Bild. Wer nicht - nicht mehr - an ihm hängt, verdorrt. Allein kann die Rebe nicht leben. Am Weinstock aber wird sie ernährt, wächst sie und reift der Ernte ent- gegen. Alles kommt darauf an, daß die Verbindung nicht abreißt. - Ein schönes Bild, ein gutes Beispiel für das Leben eines Christen. Aber: Eine Gefahr liegt auch in diesem Bild. Es ist vielleicht zu schön. Wir hören vom Weinstock und von seinen Reben- und wir denken doch unwillkürlich an einen kräftigen Rebstock mit grünen Blättern, gesunden Trieben und saftigen Früchten daran. Was aber ist, wenn der Weinstock eine dürre Zeit hat? Wenn er nicht genug Wasser bekommt? Wenn es an der Pflege mangelt? Wie werden die Reben dann aussehen? Können sie in Saft und Kraft stehen, während die Pflanze, die sie ernährt, Mangel hat? Anders gesagt: Ist das nur eine Schönwetter-Verbindung? Gilt das nicht auch in dürren Zeiten, bei Mangel und Entbeh- rung? Denken wir an den Mann, der von sich sagt: Ich bin der Weinstock... Wie sah sein Leben aus?: Ein Weg durch Glück, Freude und Anerkennung bei den Menschen? Oder so: Armut von Anfang an, Geburt im Viehstall, keinen Ort, an den er sein Haupt legen konnte, Verfolgung und Haß der Mäch- tigen, schließlich Gefangennahme, Folter, Leiden und Tod, ja, das schändlichste Sterben am Kreuz, kaum dreißig Jahre alt? Dieser sagt von sich: Ich bin der Weinstock... Darum noch einmal: Wird man den Reben nicht auch das ansehen, die an ihm hängen, daß ihr Weinstock auch schwere, böse Zeiten durchleben und durchleiden muß? Kann den Reben erspart bleiben, was der Weinstock erlitt? Schwierige Gedanken, liebe Gemeinde, ich spüre das auch. Aber kann ein Christ sein Leben lang oh- ne Leid sein, wenn er diesen Herrn hat? Noch deutlicher gefragt: Machen wir nicht immer wieder diese Erfahrung, daß gerade die guten Menschen, gerade solche, die sich wirklich um ein christliches Leben bemühen, ein Schicksalsschlag nach dem anderen ereilt und sie durch manche Leidenszeit hindurchmüssen - in viel größerem Maß als andere, die nichts von diesem Weinstock wissen wollen? Und umgekehrt - bis dahin ist es jetzt ja nur noch ein Schritt: Zeigt uns nicht vielleicht das bittere Leiden eines Menschen, mit welchem Herrn er verbunden ist? Soll das Bild vom Weinstock 'Chri- stus' und von uns den 'Reben', das wir für gute Lebenserfahrung, für Glück und Freude so gern in Anspruch nehmen, soll es etwa nicht auch für schwere Zeiten gelten, wenn wir in Schmerzen und Krankheit sind - und selbst, wenn uns der Atem ausgeht? Ich bin der Weinstock, ihr seid die Re- ben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der trägt viel Frucht... Frucht, was könnte da nun gemeint sein? Alles kommt offenbar darauf an, daß die Verbindung nicht abreißt - zwischen Weinstock und Reben, zwischen Christus und den Seinen. Wenn wir gute Zeiten haben, wenn uns alles wohl gerät, mag das ja leicht sein, an ihm zu bleiben. Was ist, wenn die dunk- len Tage kommen? Welche Früchte bringen wir dann noch hervor? Erinnern wir uns jetzt an G. Z. Ich finde, er hat uns mindestens eine Frucht der Verbindung mit Christus vorgelebt: Geduld. Jeder, der ihn kannte, hat das an ihm erfahren: Wie er an seinen Be- schwerden getragen hat, ohne zu klagen. Ja, es ist ihm dabei nicht einmal der Humor ausgegangen! Er hat ausgehalten, was uns manchmal die Tränen in die Augen trieb. Wir haben sein Leid gesehen und haben gefragt: Warum? Er hat es getragen und ertragen, wie es der Herr getragen hat, von dem wir alle abhängen. "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben!" Wir sind ganz offenbar auch dann nicht allein und verlassen, wenn wir schwere Zeiten haben. Wir bekommen dann Hilfe und werden ernährt und getragen von dem, der unser Weinstock ist: Christus! Liebe Trauergemeinde! Das "Warum" ist nun nicht gelöst. Wir wissen noch lange nicht, wieso einer unter Schmerzen und jahrelanger Krankheit leben und sterben muß, der andere bis ins hohe Alter ge- sund sein und dann im Schlaf hinübergehen darf. Eines aber wissen wir: Auch die schwere Lebens- erfahrung kommt von dem her, der sich den "Weinstock" nennt. Auch und gerade in einem schweren Leben zeigt sich, daß wir mit ihm Verbindung haben. Die Früchte, die er an den Seinen wirkt, sind immer zweierlei: Freude, wenn wir im Glück sind, Geduld, wenn wir leiden müssen. Beides kommt von ihm. Wir sollen's von ihm annehmen, tragen, es soll uns nicht von ihm trennen. An G. Z. haben wir erfahren, daß es geht und daß dieses Wort auch im Leiden stimmt: Wer in mir bleibt und ich in ihm, der trägt viel Frucht. Wir dürfen G. Z. nun ganz dem überlassen, mit dem er ein Leben lang an guten Tagen in Freude an schweren Tagen in Geduld - verbunden war: Jesus Christus.