Ansprache zur Beerdigung - Langes Leiden einer 70jährigen Ps. 31,6 Liebe Angehörige, liebe Trauergemeinde! Sie, liebe Angehörige, wollten es mir überlassen, ein Wort auszusuchen, über das wir jetzt nachden- ken können, jetzt, da das Leben von E. I. zuende gegangen ist. Was mich bei dieser Suche geleitet hat, war der Gedanke, daß hier eine Frau doch wenig, allzu wenig von ihrem Leben gehabt hat. Man möchte unendlich traurig darüber werden, wie eingeschränkt doch ihre Wahrnehmung zuletzt gewe- sen ist, wie geschlagen sie war, wie bedauernswert in ihrem Dunkel, das die Krankheit über sie ge- breitet und mit dem sie E. I. immer mehr von allen Beziehungen und menschlichen Kontakten abge- schnitten hat. - Meine Suche nach einem Wort, das jetzt passen könnte, hat mich zum Psalm 31 ge- führt. So heißt der Vers, den ich unserer Verstorbenen heute widmen möchte: In deine Hände befehle ich meinen Geist, du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott. Dieses Wort spricht gewiß mit uns! Wir hören: "Du hast mich erlöst..." und wir denken an die 20 Jahre der fortschreitenden Krankheit und Behinderung, die E. I. auferlegt waren. "20 Jahre"... In drei Sekunden habe ich das eben gesagt! Mir geht dabei auf, daß wir davon mit Worten kaum spre- chen können, jedenfalls nicht so, daß wirklich deutlich wird, was das heißt: 20 Jahre der schwersten geistigen Behinderung, die wir uns vorstellen können, der zunehmenden Isolation von allen Men- schen, viele Jahre davon bettlägerig, ohne Aussicht auf Besserung, ohne Hoffnung... Wir wollen uns da einmal daran erinnern, was wir in diesen vergangenen 20 Jahren haben erleben dürfen: Die Erfolge unserer Arbeit, die Freude an und mit unseren Lieben, die Zeiten der Erholung, die Reisen, die wir gemacht, was wir alles gesehen und besucht haben von dieser schönen Welt, die Kinder, die Enkel oder Urenkel, die uns geboren wurden, und noch so viele gute Erlebnisse, Stunden des Glücks und Tage im Licht... 20 Jahre! Und da ist auf der anderen Seite ein Mensch, eine Frau, die in all dieser Zeit nichts erlebt hat, nichts Schönes hatte, kein Glück, keine Freude, keinen Tag lang, ja, nicht eine Minute. - Ermessen wir den ganzen Schrecken dieses harten Schicksals? Wir wissen es ja nicht, aber vielleicht hat sie ja doch in ihrem innersten Bewußtsein teilgehabt an ih- rem Leben. Versuchen wir uns - nur einen Augenblick - einmal vorzustellen, was das heißt: Die Be- schwerde, die Mühsal auch noch der kleinsten Verrichtungen, die uns Gesunden ganz selbstver- ständlich sind. Der ganze Tag ist vielleicht gefüllt mit der Suche nach einem Namen, einem Gedan- ken, die uns Gesunden einen kurzen Moment kostet. 20 Jahre! Die letzte Zeit war sie nur noch ans Bett gefesselt. Am Abend Wechsel vom Liegen im Licht zum Liegen im Dunkeln, um genau so einem nächsten Tag entgegenzuschlafen, wenn der Schlaf über- haupt kommen will. Und am Morgen dasselbe bis abends, und wieder und wieder, ohne Aussicht auf Veränderung, Tage und Tage, Wochen und Monate...20 Jahre. - Und ich glaube, noch jetzt ahnen wir nicht einmal, was das für den heißen mag, dem das grausame Geschick selbst auferlegt ist: 20 Jahre! Aber wir verstehen diesen Vers und warum ich ihn für diese Frau beim Abschied ausgesucht habe: In deine Hände befehle ich meinen Geist, du hast mich erlöst... Es muß eine ja ein solches Le- ben gern beschließen! Es muß ja eine Erlösung sein, dem Gefängnis eines so schwer behinderten Körpers und Geistes zu entgehen! Diese Gedanken begreifen wir. Das ist nur zu verständlich! Aber wie ist das mit dem Schluß dieses Wortes: "...du treuer Gott"? Das können wir nicht gleich mit solch einem Schicksal reimen! Das klingt sehr fragwürdig, ja, fast wie Hohn: "Herr, du treuer Gott"? Aber es ist kein Hohn! Es ist ganz ernst gemeint. Es ist die Wahrheit. Es ist unser Chri- stenglaube, der sich da ausspricht: "Du treuer Gott". Ich weiß nicht - wie gesagt - ob E. I. in ihrer letzten schweren Zeit noch irgendein Bewußtsein von Gott, von Glauben, von Zuversicht und von der Ewigkeit hatte... Aber schon oft habe ich Menschen in solchem und ähnlichem Leid erlebt, die konnten wirklich trotz allem vom treuen Gott sprechen und von ihrer Sehnsucht und ihrer Hoffnung! Wir mehr oder weniger gesunde und mit einem günstigen Schicksal begnadete Menschen hier kön- nen vielleicht nicht verstehen, wie das geht, daß einer oder eine über solchem Geschick den "treuen" Gott nicht verliert. Aber wir können uns das einmal sagen lassen: Das gibt es! Es gibt Menschen, die sind behindert oder krank, die kennen jedes Leid und sind vertraut mit allen Schmerzen und sie las- sen doch die Hand Gottes nicht los. Sie sind belastet und werden ihr Leben lang nicht frei von dem, was sie beschwert - und sie zweifeln doch niemals an der Güte Gottes. Sie sehen wohl und erfahren es täglich neu: Andere sind gesund, andere haben's leicht, andere dürfen unbekümmert leben..., und sie können doch so sprechen: "Du treuer Gott". Wenn wir das nun auch kaum begreifen, wenn wir nun auch kaum ahnen, was so lange Behinderung bedeuten mag, wird uns daran nicht doch eines ganz klar: Wie sicher, wie stark und wie felsenfest gewiß muß solchen Menschen die Hoffnung sein, daß einmal alles überwunden ist, was ihnen aufer- legt war. Das kann diesen leidgeprüften Menschen nicht zweifelhaft sein: Einmal kommt der Tag an dem ich frei sein werde von meiner Bürde, die Ketten, die mich banden, fallen von mir ab, Kranke werden heil, Blinde sehend und Lahme gehen. Das glauben diese Menschen nicht, das wissen sie!: In deine Hände befehle ich meinen Geist, du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott! Und es ist eben nicht nur die Forderung unseres menschlichen Denkens: Daß es doch für so viel Leid einmal einen Ausgleich geben muß; daß so langes Leiden und Behinderung doch nicht das letzte und einzige sein kann was einem Menschen von Gott bereitet wird... Nein, das ist mehr! Das ist die feste Verheißung Gottes in Jesus Christus, wie sie sich in solchen Bibelworten ausspricht: "Ich lebe und ihr sollt auch leben. Ich habe euch drüben eine Wohnung und ewige Freude zu schenken. Einmal wird alles Leid nicht mehr sein, keine Schmerzen, keine Tränen, keine Krankheit und kein Tod. Ich bin auferstanden - und ihr werdet auch auferstehen!" Dieses Versprechen Gottes gibt Menschen, die schwer leiden müssen und lange behindert sind, die Kraft, die Ausdauer und die uns fast unbegreifliche Geduld bei ihrem Gott zu bleiben, bei ihm aus- zuhalten und an ihm festzuhalten - auch im allerschwersten Leben: ...du erlöst mich, Herr, du treuer Gott! Auch E. I. hat diese Kraft 20 Jahre lang immer wieder geschenkt bekommen. Und vielleicht hatte diese Kraft bei ihr ja das Gewand der Gnade: Daß sie eben doch wenigstens nicht all ihr Leid mit vollem Bewußtsein hat erfahren und durchgehen müssen. Und dieses Versprechen ist es, das auch die Angehörigen stärkt, die solche leidenden Menschen pflegen, besuchen und bei ihnen aushalten, Woche um Woche, Monat für Monat, Jahr um Jahr... Sie wissen: Einmal wird dieser mir so liebe Mensch erlöst sein, heimgehen und an einem guten, ewigen Leben teilhaben. Das schenkt ihnen die Ausdauer, erneuert ihre Liebe, die sich ja sonst verzehren müßte und hält sie bei der Treue zu den leidenden Menschen, die ihnen anvertraut sind. Liebe Trauergemeinde, mich bewegt, seit ich über das Geschick dieser Frau und über ihren Grabtext nachdenke, noch etwas anderes, das hat mit uns zu tun, die heute zurückbleiben, mit uns ganz per- sönlich. Es ist ein wichtiger, aber nicht angenehmer Gedanke, ich will ihn mir und Ihnen heute auch noch zumuten: Wenn wir jetzt hier an unsere Verstorbene denken, uns ihr Leid vor Augen führen, einmal den Hinweis und die Erinnerung an solch ein behindertes Leben wenigstens einen Augenblick zulassen... Wie leicht und unbeschwert dürfen dagegen doch die meisten von uns leben! Ist es nicht so? Wir sind gesund. Wir sind beweglich an unserem Körper und in unserem Geist. Wir leiden nicht an einem Leib oder einem Geist, der uns wie ein Kerker ist. Wir können unbehindert tun, was wir gern wollen, daran denken und uns vorstellen, wonach uns der Sinn steht, wir sind frei... Aber ich frage mich und uns: Sehen wir das überhaupt noch? Und danken wir dafür... angemessen...täglich? - denn es könnte doch wohl auch anders sein! Und noch eines geht mir auf und ich will es uns alle fragen: Ist das nicht seltsam: Uns Gesunden fehlt oft der Glaube an das, was Gott uns verspricht: An die Ewigkeit, das neue Leben nach dem Tod. Wir bringen auch die Treue zu seiner Sache nicht auf. Wir klagen schon bei der kleinsten Be- schwer, die doch wieder vorübergeht! Wir kümmern uns wenig um das Kreuz des Herrn und was es für uns bedeuten soll. Die Beschäftigung mit den letzten Dingen, mit dem Sterben und dem Abschied von dieser Welt, schieben wir immer wieder hinaus. Selten kommt uns der Dank für all die Geschen- ke Gottes in den Sinn, geschweige denn auf die Lippen. - Wirklich seltsam ist das! Einem behinder- ten Menschen, einem, der leiden muß, sind all diese Gedanken dagegen oft ständig gegenwärtig - trotz seines Leidens! Müßten wir Gesunde, wir begnadete und vom Schicksal begünstigte Menschen nicht viel eher zu solchen Worten finden?: In deine Hände befehle ich meinen Geist, du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott. Ein Leben mit zuletzt 20 Jahren fortschreitender Krankheit und schwerer Behinderung ist zu Ende. Der treue Gott hat E. I. erlöst. Er hat ihren Geist in seine Hände genommen. Wir dürfen auch dank- bar sein, daß sie es überstanden hat. Uns allen wünsche ich ein gesegnetes Nachdenken über uns, unsere Gesundheit und all die guten Gaben, die wir genießen dürfen. Und Dankbarkeit dafür wünsche ich uns auch.