Abends am Bahnhof Warum Wegert in diesem Zug saß? Er wußte es nicht. Er war die Strecke heute schon zweimal gefahren, einmal am Morgen in dieser, später am Nachmittag in der anderen Richtung. Er war froh gewesen. Endlich Freitag und das Wochenende vor ihm. Dann war diese Unruhe über ihn gekommen. Erst kaum merklich, dann immer stärker. Beim Abendessen waren seine Gedanken ganz woanders. Der Fernsehabend, auf den er sich erst so gefreut hatte, war ihm schal erschienen, fast bedrohlich. "Fahr' nochmal in die Stadt!" Wie ein fernes Echo war es erst. Dann meinte er, es wirklich zu hören. "Du mußt nochmal los; es ist wichtig!" Er arbeitete in der Stadt, ganz in der Nähe des Bahnhofs. Ein kleines Textilgeschäft, Verkäufer seit 28 Jahren. Fünfmal die Woche hin, fünfmal am Abend zurück, 48 Wochen im Jahr, den Urlaub abgerechnet. Er konnte sich nicht erinnern, je diese Fahrt ein zweites Mal am selben Tag gemacht zu haben. Dafür haßte er die verlorene Zeit im Zug viel zu sehr. Es war nötig, um zur Arbeit zu gelangen, mehr nicht. Und jetzt saß er hier. In "seinem" Abteil wie schon am Morgen, fuhr der Stadt entgegen, wußte nicht, warum, hatte ein Ziel, den Bahnhof, doch es fehlte ihm jede Ahnung, was er da wollte. "Du bist ein Narr!" So hörte er sich mehrfach zu sich selber sagen. "Du mußt ein Narr sein!" Der Zug war leer um diese Zeit. Nicht das Gedränge vom Morgen, wenn jeder seinen Sitzplatz sucht, um die Fahrt noch für ein wenig Schlaf zu nutzen. Nicht die nervöse Spannung des Abends, wenn die Gedanken und Pläne schon vorauseilen nach Hause, zu den paar Stunden Leben, frei und ohne Muß. Es war ein seltsames, ungewohntes Fahren. Die leeren Bänke des Abteils schienen ihn anzustarren. Nur drüben, drei Reihen weiter, saß eine alte Frau, eine Plastiktüte vor die Brust geklammert. Sie schlief. Ihr Kopf nickte im Takt des Fahrgeräuschs. Warum fuhr Wegert jetzt diese Strecke? Die Umrisse der Fabriken am Rande der Stadt flogen vorbei. Jetzt im Dunkeln wirkten sie noch trostloser als bei Tag. Dann reihten sich die Lampen der Bahnhofshalle wie leuchtende Perlen auf eine Schnur. Jetzt ließen sich einzelne Lichter ausmachen. Der Zug verlangsamte seine Fahrt, hielt mit kreischenden Bremsen. Wegert war angekommen. Er stieg aus. Anders als am Morgen, wußte er nicht, wohin er sich wenden sollte. Jetzt mußte er nicht die Zeit für den kurzen Fußweg nutzen. Es ging nicht um Minuten, oder doch? Drüben stand eine Gruppe Ausländer, Türken, wie er vermutete. Manchmal hatte er sie auch schon morgens gesehen. Sie hielten sich immer in der Nähe der großen Uhr auf, die den Takt der Ankunft und der Abfahrt bestimmte. Sie standen dort, rauchten und wechselten in ihrer Sprache Worte miteinander. Sie hätten sich gewiß auch anderswo treffen können. Angebote gab es in der Stadt genug. Aber sie trafen sich in der Bahnhofshalle, sahen Züge kommen und fahren. Das hatte, so überlegte Wegert, wohl mit dem Heimweh zu tun. Mit bestimmten Schritten ging er in Richtung der Männer. Sie nahmen keine Notiz von ihm. Sein Weg beschrieb einen kleinen Bogen um die Gruppe und führte zum Hauptausgang. Lärm von anfahrenden Autos drang durch die geöffneten Flügeltüren, aufgeregtes Rufen der Reisenden, Türenschlagen. Wegert überquerte den Bahnhofsvorplatz. Ohne daß er nachdachte, zog es ihn dorthin, wo das Geschäft lag, in dem er bediente. Aus der Straßenbahn, die kaum 100 Meter vom Bahnhofseingang hielt, stieg eine Frau. Sie trug ein Kopftuch, offenbar eine Türkin. In ihrem linken Arm lag ein Kind, kaum ein halbes Jahr alt. Mit der rechten half sie einem kleinen Jungen die hohen Stufen auf den Bürgersteig herab; er mochte drei Jahre sein. Wegert war stehengeblieben. Er schaute nach den drei Menschen, die sich jetzt auf den Bahnhof zu bewegten. Die Frau hatte den kleinen Jungen an die Hand genommen. Er schien müde und folgte ihr nur widerwillig. Vielleicht hatte er während der Straßenbahnfahrt über geschlafen? Die Frau mußte ihn ziehen. Immer wieder versuchte er von ihrer Hand zu kommen. Wegert ertappte sich dabei, daß er wieder kehrtmachte, ein, zwei, drei zögernde Schritte hinter den Dreien her. Ja, er lief ihnen nach. Irgend etwas an ihnen hatte sein Interesse gefunden. Aber was lag auch schon daran? Wohin war er denn sonst unterwegs? Am Taxistand drüben wurde hastig eine Tür aufgerissen. Noch im Einsteigen nannte ein Mann sein Fahrtziel: "Theaterplatz, los, los!" Mit quietschenden Reifen schoß das Taxi aus der Parkbucht. Es war eben der Augenblick, in dem der Dreijährige es geschafft hatte, sich von der Hand seiner Mutter loszumachen. Wegert sah, wie der Kleine loslief auf die Straße vor dem Bahnhofseingang zu. Er sah auch das Taxi mit schneller werdender Fahrt die Straße herunterkommen... Er begriff, was geschehen würde; nein, es war kein Begreifen, es war Handeln, noch ehe der Kopf irgend etwas denken konnte: Die Mutter des Kleinen hatte schon zu schreien angefangen. Eine schnelle Bewegung hinter dem Jungen her, und sie hätte das andere Kind in ihrem Arm gefährdet. Aber Wegert war mit drei raschen Sprüngen bei dem Jungen. Er riß ihn zurück, kurz bevor er den zweiten Schritt auf die Straße und damit vor das Taxi gemacht hatte. Der Fahrer fuhr weiter, immer noch beschleunigend. Der Kleine stand jetzt starr am Bordstein. Noch hielten ihn Wegerts Hände an den Schultern. Stumm schaute der Junge zu dem Fremden hoch. Der ließ ihn los. Mit einem Aufschrei umfaßte die Frau mit dem freien Arm ihr Kind, als wollte sie es vor einer Gefahr schützen, die doch vorbei war. Dann blickte sie Wegert an. Tränen standen in ihren Augen. Sie sagte etwas, leise und stockend in ihrer Sprache. Wegert verstand nicht und wußte doch, daß sie ihm dankte. Er nickte ihr zu. Sie überquerten gemeinsam die Straße und betraten den Bahnhof. Der kleine Junge machte keine Anstalten mehr, sich der Hand der Mutter zu entwinden. Als sie sich den Türken näherten, die noch unter der großen Uhr standen, löste sich einer der Männer aus der Gruppe, lief der Frau mit den zwei Kindern an Wegerts Seite entgegen. Noch einmal schluchzte die Frau laut auf, beschleunigte ihren Schritt und sprach nun, als sie vor ihrem Mann stand, wortreich und mit gestikulierenden Händen auf ihn ein. Dann zeigte sie auf den Fremden, dessen beherzte Tat sie gerade berichtete ... wollte auf ihn zeigen. Der aber war schon auf der Treppe, hinunter zur Unterführung zu den entfernteren Bahnsteigen. Minuten später saß Wegert in seinem Zug. Dann kam der Ruck beim Anfahren, der ihm seit 28 Jahren so vertraut war. Heute war es das vierte Mal, daß er ihn spürte. Es ging Wegert viel durch den Kopf, als der Zug die Bahnhofshalle verließ. Der Gedanke an das Warum dieser abendlichen Fahrt war nicht dabei. Manfred Günther