Predigt zum 11. Sonntag nach Trinitatis - 11.8.2013

Textlesung: Lk. 7, 36 - 50

Es bat ihn aber einer der Pharisäer, bei ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch. Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl. Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben? Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt. Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt? Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!

Liebe Gemeinde!

Wir werden hier Zeuge eines Vorfalls, der von denen, die ihn miterlebt haben, völlig unterschiedlich gedeutet worden ist. Mit "Vorfall" meine ich den Auftritt der Sünderin, einer stadtbekannten Prostituierten, die in ihrem Überschwang gleich eine ganze Reihe von absolut anstößigen Ungeschicklichkeiten begeht. Wir würden heute vielleicht salopp sagen: Sie lässt kein Fettnäpfchen aus!

Der Pharisäer, der Jesus zum Essen eingeladen hat, wird die schlimmen Ausrutscher der Frau zweifellos alle bemerkt und gezählt haben. Dass die Frau sich überhaupt Jesus nähert, dass sie ihm so nahe kommt, dass ihre Tränen auf seine Füße fallen, ist schon die erste Entgleisung. Wenn sie nun aber ihr Haar löst, um die Tränen von Jesu Füßen zu wischen, dann überschreitet sie ein weiteres Mal die Grenze, die für sie - schon als Frau - in der damaligen Gesellschaft gilt: Das Lösen der Haare war in der Öffentlichkeit absolut verpönt. Aber es geht weiter. Um die Tränen auf Jesu Füßen zu trocknen, berührt sie ihn. Damit machte sie ihn in den Augen der anderen Tischgäste unrein durch ihre Unreinheit. Jesus hätte genau genommen den Tisch verlassen müssen, um nicht die anderen Gäste auch noch zu verunreinigen. Ja, die Frau küsst gar Jesu Füße, was noch eine sehr viel intensivere Berührung darstellt, die - zumal in der Öffentlichkeit - ganz und gar unmöglich war. Selbst bei der Salbung mit dem Öl, die eine besondere Ehrung des Gesalbten ausdrückte, stellt sich die Frau mehr als ungeschickt an: Gesalbt wurden üblicherweise nicht die Füße, sondern das Haupt des Geehrten!

Wie dieser Auftritt bei den Gästen an der Tafel des Pharisäers, der Jesus an seinen Tisch gebeten hatte und bei diesem selbst ankommt, lesen wir hier: "Er sprach bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin." Dem Ansehen Jesu als Prophet und Rabbi hat die Frau also zunächst nicht gedient. Im Gegenteil: Sie hat ihm massiv geschadet.

Aber wie hat die Frau selbst gesehen, was sie im Haus des Pharisäers an Jesus getan hat? - Sie ist zweifellos in einem besonderen seelischen Ausnahmezustand gewesen. Aber wodurch? Hier müssen wir wissen, dass Jesus mit dieser Frau schon früher eine Begegnung hatte. Ähnlich wie bei der Ehebrecherin aus der gleichnamigen Geschichte, hatte er dieser Sünderin wohl die Vergebung ihrer Sünden zugesprochen, die sie sonst bis an ihr Lebensende hätte tragen müssen. Überwältigt von dieser Vergebung, die ihr damals eigentlich kein Mensch zusprechen konnte und zugesprochen hätte, wollte sie Jesus jetzt danken. Die Größe ihrer Dankbarkeit entspricht dem unfassbaren Geschenk Jesu an sie, dass sie ihr Leben noch einmal neu, ohne Sündenlast beginnen konnte. So viel Dankbarkeit ist in ihr, dass sie keine gesellschaftlichen Regeln mehr einhält. Was sie tut ist nicht mehr von ihrem Verstand gesteuert, nur noch vom Überschwang ihrer Gefühle.

Und wie hat Jesus das Auftreten dieser Frau erlebt? - Jesus weiß, warum die Frau sich so "unmöglich" verhält. Er weiß, dass sie ihm unendlich dankbar ist, weil er ihr vergeben hat. Er weiß auch, dass der Pharisäer und die anderen am Tisch Anstoß genommen haben an allem, was die Frau an ihm getan hat. Schließlich weiß er, dass die Tischgenossen alle nicht wissen, warum die Frau, die eine Sünderin gewesen ist, so an ihm handelt. Und er tut, was er immer wieder in solchen Situationen getan hat: Er spricht mit dem Pharisäer: "Simon, ich habe dir etwas zu sagen." Wie der Gastgeber antwortet, nachdem Jesus sich das unmögliche Verhalten der Frau wortlos hatte gefallen lassen, zeigt, dass er die Ehrerbietung vor dem Rabbi Jesus noch nicht verloren hat: "Meister, sag es!" Und Jesus erzählt die Geschichte von den zwei Schuldnern, von denen der eine viele und der andere wenige Schulden erlassen bekommt. Dann fragt er den Pharisäer: Wer von den beiden wird den, der ihnen die Schulden erlassen hat, am meisten lieben? Wir hätten auf die Frage gewiss genauso geantwortet: "Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat", sagt der Pharisäer. Er spricht aus, was richtig ist - und hat, was die kleine Geschichte ihm sagen soll, wohl doch nicht richtig verstanden. Gemeinsam haben die Geschichte von den beiden Schuldnern und der Vorfall mit der Sünderin, dass der Erlass der Schulden und die Vergebung der Sünden schon geschehen ist. Es ist also nicht so, dass der Schuldner, dem viel erlassen und die Sünderin, die von ihren Sünden frei wurde, mit ihrer Liebe und den Taten, die daraus folgen, noch irgendetwas erreichen müssten!

In einem solchen Denken aber waren die Menschen damals (und ich fürchte: noch heute!) gefangen. Es war (und ist) schwer, sich vorzustellen, dass ein Mensch nicht nur seine Liebe zeigt, so lange er den Schuldenerlass oder die Vergebung noch nicht erlangt hat. Aber es geht um bloße, um reine Dankbarkeit! Der Schuldner, dem viel erlassen wurde, liebt den Gläubiger mehr als der andere Schuldner, weil ihm so viel mehr Güte widerfahren ist. Die Frau, die eine Sünderin war, ist überwältigt vom Glück, dass ihr die Sünden, die sie so lange, so schwer bedrückt haben, vergeben sind. Mehr gibt es für die beiden nicht mehr zu gewinnen. Es ist geschehen, was sie nicht einmal erträumt hätten, darum sind sie voller Dankbarkeit.

Wenn wir nun allerdings Jesu nächstes Wort an den Pharisäer hören, könnte uns das irritieren: "Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig." Jetzt könnten wir denken, dass die Sündenvergebung doch die Antwort auf ihre Liebe gewesen wäre, dass sie also mit ihren Taten der Liebe doch nur etwas erreichen wollte. Die Bibelübertragung "Gute Nachricht" übersetzt anders. Dort heißt es: "Ihre große Schuld ist ihr vergeben worden. Eben deshalb hat sie mir so viel Liebe erwiesen. Wem wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe." Das rückt unser Verständnis zurecht: Die Liebe ist Ausdruck der Dankbarkeit, nicht Ursache der Vergebung: "Du siehst, dass ihr vergeben ist, daran, dass sie so viel Liebe zeigt." Aber jetzt bestätigt Jesus noch einmal in aller Öffentlichkeit die Vergebung ihrer Sünden, die schon lange geschehen ist: "Dir sind deine Sünden vergeben. [...] Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!"

Liebe Gemeinde, vielleicht ist Ihnen das jetzt auch aufgefallen, wie "evangelisch" diese Geschichte von der Sünderin ist? Evangelisch nicht nur in dem Sinn, dass sie auch uns die frohe Botschaft vermittelt, dass wir bei Jesus Christus Vergebung unserer Sünden erlangen. Nein, sie ist sozusagen auch konfessionell "evangelisch": Das genau ist doch die Mitte, der Kern unseres evangelischen Glaubens, dass uns Gott in Jesus Christus immer zuerst entgegenkommt. Schon bei der Taufe: "Du bist mein geliebtes Kind, mein Segen wird dich begleiten!" Und dann immer wieder im Laufe unseres Lebens: "Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!" - "Christi Leib für dich gegeben! Christi Blut für dich vergossen!" Bis in unsere alten Tage: "Auch bis in euer Alter bin ich derselbe, und ich will euch tragen, bis ihr grau werdet. Ich habe es getan; ich will heben und tragen und erretten." (Jes.46,4) - Nie heißt es bei unserem Gott: Was habt ihr vorzuweisen? Was sind eure Werke, eure Verdienste? Immer kommt er uns zuvor, wie Jesus damals der Frau, die eine Sünderin war: "Dir sind deine Sünden vergeben." Unsere Antwort kann immer nur Dankbarkeit sein. AMEN