Predigt zum Sonntag "Estomihi" - 10.2.2013

Textlesung: Lk. 18, (31)35 - 43

Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege saß und bettelte. Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei. Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.

Liebe Gemeinde!

Wie gut diese Geschichte doch an diese Stelle des Lukasevangeliums passt! In den Versen davor, hatte Jesus zum dritten Mal von seinem bevorstehenden Leiden, Sterben und seiner Auferstehung gesprochen. Aber am Ende dieser Verse heißt es dann: "Sie (die Jünger) aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war." (Lk.18,34) Und dass sie nichts begriffen haben, beweisen sie hier: "Und der Blinde rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen."

Was die Jünger nicht verstanden haben, ist dies: Jesus Christus ist der einzige Weg, der ins Leben führt - damals wie heute. Und nicht nur in ein sinnvolles, erfülltes Leben hier in dieser Welt, sondern in das Leben nach der Auferstehung in Gottes ewigem Reich. Und dieser Jesus ist auch der Einzige, der den Blinden gesund machen kann und noch mehr: bei ihm wird er auch heil.

Jetzt ermessen wir, was das heißt, wenn die Jünger den Blinden anfahren und versuchen ihn zum Schweigen zu bringen. Sie wollen ihm die Chance seines Lebens nehmen, die wahrscheinlich für ihn kein zweites Mal kommen wird. Würde er wirklich schweigen, er könnte wohl nie mehr sehend werden. Ließe er sich von den Jüngern einschüchtern, er wäre nicht gesund und heil geworden!

Aber, wie gut: "Der Bettler schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!" Und der, zu dem er schreit, hört: "Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen."

Liebe Gemeinde, mindestens zwei Gedanken dazu sind mir wichtig. Der erste ist dieser: Wir dürfen Menschen nicht davon abhalten, wenn sie Hilfe bei Jesus Christus suchen. Aber das geschieht - aus unterschiedlichen Gründen:

- Einer hat selbst schlechte Erfahrungen mit dem Beten gemacht. Immer wieder hat er die Hände gefaltet und seine Bitten vor Jesus ausgebreitet. Immer wieder hat er gefleht und seinen sehnlichsten Wunsch vor Gott gebracht. Erhört wurde er nie. Jedenfalls nicht so, wie er es erwartet hätte.

Neulich in einem Gespräch sagt ein Freund zu ihm: "Ich habe sogar darum gebetet, dass Gott mir hilft, dass ich eine neue Arbeit finde!" Und er antwortet: "Glaub mir, Beten hat keinen Zweck. Ich habe da meine Erfahrungen. Du brauchst Beziehungen und keine Gebete!"

- Eine hat guten Kontakt zu Jesus. Sie ist sehr gläubig, wie sie sagt. Der regelmäßige Gottesdienstbesuch und die Teilnahme an einem Bibelkreis ihrer Kirchengemeinde gehören zu ihrem festen Wochenprogramm. Nach einem Gottesdienst, in dem sie eine ihr bekannte Frau entdeckt, die sie noch nie in der Kirche gesehen hat, spricht sie diese so an: "Das ist aber schön, dass ich sie auch einmal hier sehe!" Darauf antwortetet die Frau: "Mir geht es zur Zeit nicht so gut. Ich dachte, wenn ich mal wieder in die Kirche gehe..." "Die andere unterbricht: "...dann wird Ihnen Jesus eher helfen? Ich glaube nicht, dass sich unser Herr von einem Gottesdienstbesuch beeindrucken lässt!"

- Und noch einer stört sich schon daran, dass manche Zeitgenossen immer so "fromm tun" und ständig "Jesus" auf den Lippen haben und sagen: "Ich spreche jeden Morgen und Abend mit ihm!" - "Ich frage bei allem, was ich täglich zu entscheiden habe, was Jesus wohl getan hätte?" - "Ohne seinen Beistand, ginge mein Leben schief und ich wäre verloren!" Nein, das kann er bald nicht mehr hören! Und er sagt es diesen "Frömmlern", wie er sie nennt, auch ins Gesicht!

Denken wir doch nur, die Menschen, die hier auf ihre Weise die Hilfe Jesu Christi suchen, würden sich davon abbringen lassen. Wäre es denn nicht traurig, dass diesen Menschen dann nicht geholfen würde? Und laden sich die, deren Worte andere vielleicht davon abbringen, zu Jesus zu gehen, nicht auch schwere Schuld auf?

Ein zweiter Gedanke beschäftigt mich vor dem Hintergrund der Geschichte vom blinden Bettler. Dieser Gedanke schaut nun sozusagen auf die andere Seite, dorthin, wo die Menschen sind, die nicht gleich, nicht so, wie es als normal gilt oder überhaupt nicht in Kontakt zu Jesus gekommen sind. Kennen wir nicht auch solche Menschen? Ja, gehören wir selbst gar dazu!

Es ist schon entmutigend, wenn wir von einem Mitmenschen gesagt bekommen: "Dein Gebet hat doch gar keinen Wert! Du brauchst etwas ganz anderes: Beziehungen oder einen Lotto-Gewinn!" Wie leicht kann uns das von weiteren Versuchen abhalten, unser Anliegen vor Gott zu bringen. Aber nur er kann helfen! Und - das wissen geübte Beter - wir brauchen Beharrlichkeit, Ausdauer, Geduld... Gottes Mühlen mahlen langsam. Aber einmal kommt der Tag, an dem wir erhört werden und manchmal begreifen wir sogar, warum früher die Zeit, uns zu helfen, noch nicht da war.

Und es kann uns völlig vom eingeschlagenen Weg abbringen, wenn uns einer, der doch christlich und kirchlich sein will, nicht in dem bestärkt, was wir uns mit viel Überwindung auferlegt haben: Vielleicht mehr in die Kirche zu gehen oder mehr aus Gottes Wort heraus zu leben. Wie fühlen wir uns dann doch klein und unwürdig, wenn uns andere Christen so von oben herab und wie gottlose Heiden ansehen, die doch die Zuwendung Jesu Christi gar nicht verdient haben. Das braucht große innere Stärke, dann nicht nachzulassen in unserem Bemühen, einen neuen Anfang im Glauben und im christlichen Leben zu finden.

Schließlich haben es auch Menschen, deren Frömmigkeit über dem Durchschnitt liegt, nicht verdient, dass man sie herablassend oder gar aggressiv anspricht und behandelt. Was wissen wir denn über die Erziehung, die diese Menschen genossen haben? Kennen wir ihre religiösen Erfahrungen? Haben wir das Recht, ihre Frömmigkeit für übertrieben oder unangemessen zu halten? Für diese Menschen ist es dann aber oft schwer, sich im religiösen Leben ihrer Gemeinden einzubringen. Dabei könnten sie gerade in dieser Zeit, die doch immer mehr christliche Werte preisgibt (Buß- und Bettag, Sonntagsheiligung, Religionsunterricht in einigen Bundesländern), wichtige Impulse geben, Mahner und Warner sein, dass wir in unseren Gemeinden und in der Kirche nicht zu leicht und ohne Widerstand aufgeben, was doch zu den Grundfesten gehört, auf denen unsere evangelische Kirche gebaut ist.

Dazu lese ich noch einmal, was der Blinde damals getan hat, als die Jünger ihn angefahren haben und zum Schweigen bringen wollten: "Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!" Das ist die gute, die einzig richtige Reaktion auf das, was der Blinde hier erfährt. Und es ist auch heute das einzig Richtige, was wir tun sollen und müssen, wenn menschliche Worte, abfällige Sprüche oder ein Verhalten, das uns in unserer Frömmigkeit oder unserem Glauben herabsetzt, unsere Beziehung zu unserem Herrn verhindern oder stören will: Noch mehr, noch lauter schreien! Nicht aufgeben, sondern umso mehr dabei bleiben. Und nie die Gewissheit verlieren, dass uns - auch wenn Menschen uns von ihm abhalten wollen - der Herr selbst hört! Und dann sagt er uns: "Was willst du, dass ich für dich tun soll?" Und er fragt uns nicht nur, sondern er tut es - zu seiner Zeit, wie er es damals getan hat: "Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen."

Dabei lernen wir auch noch etwas über den Glauben, der ist nämlich eine sehr persönliche Sache. "Persönlich" nicht darum, weil es immer nur um meinen eigenen Glauben geht, aber darum, weil die Geschichte jedes Glaubens, wie die Geschichte eines jeden Menschen "persönlich" ist. Und diese Geschichte kennt Jesus allein. Darum auch weiß allein er, warum wir zu ihm kommen, wieso unser Glaube so ist, wie er ist, was wir wirklich brauchen und womit er uns helfen kann. Und die rechte Zeit, uns zu geben und zu helfen, weiß er auch.

Liebe Gemeinde, vergessen wir dann, wenn uns Jesus geholfen hat, nicht, das zu tun, was damals der Bettler und alle, die dabei waren, getan haben: Als er sehend geworden war "folgte er ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott." AMEN