Predigt zum Altjahrsabend - 31.12.2012

Textlesung: Jh. 8, 31 - 36

Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Da antworteten sie ihm: Wir sind Abrahams Kinder und sind niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst du dann: Ihr sollt frei werden? Jesus antwortete ihnen und sprach:

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Der Knecht bleibt nicht ewig im Haus; der Sohn bleibt ewig. Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.

Liebe Gemeinde!

Gewiss, es geht hier darum, die tiefste Wahrheit zu erkennen, die es für diese Welt und für unser Leben gibt: Dass Gott mit Jesus Christus seine Welt und alle Menschen erlösen wollte und nicht durch das, was wir selbst leisten und vollbringen, uns erwerben und gewinnen können. Ich möchte aber heute am Altjahrsabend diese Wahrheit in etwas kleinerer Münze umwechseln und besprechen. Trotzdem gilt auch für diese kleineren Wahrheiten, was für die große gilt: Sie haben auch mit dem Bleiben am Wort zu tun und sie können uns frei machen. Und gerade heute darüber zu sprechen, hat auch einen besonderen Sinn.

So, nachdem ich Sie jetzt gewiss einigermaßen verwirrt habe, will ich erklären, was ich meine: Was sind das für Wahrheiten in kleiner Münze? Was verbindet sie mit dem Wort oder den Worten? Wie soll das gehen, dass sie uns frei machen? Was haben sie mit der tiefsten Wahrheit zu tun, die Johannes anspricht? Und schließlich: Wo ist die Beziehung zu diesem Tag, diesem Abend?

Drei kleine Geschichten sollen uns auf die Spur von dem bringen, was diese "kleineren Wahrheiten" sind:

Else K. ist seit 25 Jahren in der Buchhaltung einer mittleren Firma tätig. Sie hat erlebt, wie sich das Betriebsklima in den letzten 15 Jahren sehr zum Schlechten verändert hat. Die Angst um den Arbeitsplatz ist überall deutlich zu spüren. Manche Kollegen schleppen sich noch mit einer massiven Grippe in die Firma, statt sich wie früher erst einmal auszukurieren. Auch traut man sich nicht mehr, einfach einmal einen Schwatz zu halten. Und irgendwie beäugt man einander und es herrscht spürbar Misstrauen zwischen den Kolleginnen und Kollegen. Bei der Weihnachtsfeier neulich, die auch nicht mehr so entspannt und fröhlich war wie früher, hat der Chef Else gefragt, wie es ihr denn an ihrem Arbeitsplatz gefällt. Sie hat kurz überlegt, ob sie die veränderte Atmosphäre in der Firma ansprechen soll. Dann hat sie geantwortet: "Ich bin zufrieden!"

Ein Konfirmand in der Kirchengemeinde kann eigentlich nichts mit den Dingen anfangen, die in der Konfirmandenstunde besprochen werden. Er ist aus keinem frommen oder auch nur religiös interessierten Elternhaus. Zum Konfirmandenunterricht hat er sich nach den Sommerferien nur angemeldet, weil viele seiner Klassenkameraden das auch gemacht haben. Inzwischen aber tut ihm das leid. Er möchte nicht heucheln und unwahrhaftig sein. Aber andererseits, es sind ja nur noch ein paar Monate bis zur Konfirmation. Und es gibt dann doch so viel Geld und Geschenke!

Ein Mann von 35 Jahren lebt immer noch im Haus der Eltern. Schon einmal stand eine Hochzeit unmittelbar bevor, es war sogar schon eine Wohnung angemietet... Dann hat sich alles zerschlagen: Keine Hochzeit, vielmehr Trennung - und der Sohn wohnt seitdem nach wie vor bei den Eltern. Inzwischen sind Vater und Mutter in Rente. Gerade der Mutter, der es gesundheitlich nicht so gut geht, fällt die Hausarbeit nicht mehr so leicht. Ihr Mann hilft ja wo er kann. Der Sohn aber tut, als wäre das Haus der Eltern das sprichwörtliche "Hotel Mama". Er lässt sich bekochen. Wie selbstverständlich erwartet er, dass seine Wäsche gewaschen und gebügelt wird. Und von seinem Arbeitslohn ist er auch nicht bereit, auch nur einen Cent abzugeben, obwohl die Eltern keine so üppige Rente haben. Die Mutter wollte den Sohn schon ein paar Mal darauf ansprechen, ob er sich nicht ein wenig mehr beteiligen will? Auch den Vater hat sie schon mehrfach gebeten, doch einmal ein klares Wort zum Sohn zu sagen. Dabei aber ist es bis heute geblieben.

Liebe Gemeinde, wenn in der Kirche von Wahrheit gepredigt wird, dann geht es meist um das 8. Gebot: "Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten." Und was wir dann dazu hören, hat meist mit der Lüge zu tun, mit Verleumdung und übler Nachrede. In meinen drei kleinen Geschichten geht es um etwas anderes. Keiner von den darin handelnden Personen hat ja so richtig gelogen und die Unwahrheit gesagt. Nicht einmal Else, die dem Chef antwortet, sie wäre zufrieden mit der Situation in ihrer Firma. Bei den anderen aber wird es ganz deutlich, sie sagen nämlich gar nichts. Und das eben ist es: Sie sagen nicht die Wahrheit, die einmal ausgesprochen werden muss! Und ich bin überzeugt, das ist auch im 8. Gebot gemeint, denn man kann auch ohne Worte ein falsches Zeugnis geben oder besser: Nichts zu sagen, wenn etwas gesagt werden muss, ist auch die Unwahrheit!

Also, ich behaupte: Die Wahrheit muss ausgesprochen werden. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, falsch läuft oder was wir tun, nicht unserer inneren Einstellung entspricht, dann muss man darüber reden! Zu schweigen und es für sich zu behalten, ist Unwahrheit, Lüge!

Außerdem behaupte ich: Die Wahrheit auszusprechen, macht frei! Das ist nicht immer so, als würden wir durch eine Gefängnistür in die Freiheit treten, aber es macht uns zufrieden, es gibt ein gutes Gefühl, dass richtig war, was wir gesagt oder getan haben, es bringt uns mit uns selbst ins Reine...

Gehen wir noch einmal in die drei kleinen Geschichten hinein:
Else hätte die Gelegenheit ergreifen können, ihrem Chef zu sagen, was sie in den letzten 15 Jahren erfahren und beobachtet hat. Sie hätte niemand namentlich anschwärzen müssen! Wenn der Chef sich wirklich dafür interessiert, was seine Frage an Else ja vermuten lässt, dann hätte er sich gewiss auf ein Gespräch mit Else eingelassen und sie vielleicht weiter gefragt: "Was können wir denn dagegen tun; was schlagen Sie vor?" Dann hätte Else sicher ein paar Ideen gehabt: Einen Weihnachtbrief an die Belegschaft schreiben, in dem der Chef schreibt, dass ihm an einem guten Betriebsklima liegt. Und vielleicht hätte man ein paar vertrauensbildende Maßnahmen anstoßen können. Auf jeden Fall hätte sich Else nach diesem Gespräch wohler gefühlt als vorher!

Dem Konfirmanden ist zu raten, dass er mit seiner Pfarrerin, seinem Pfarrer spricht und ganz offen sagt, wie er sich im Konfirmandenunterricht fühlt. Vielleicht beendet er dann die Konfirmandenzeit. Vielleicht gibt es aber auch eine andere Lösung. Jedenfalls wäre sich der Konfirmand nicht mehr wie ein Heuchler vorgekommen.

Mit dem Sohn zu reden und ihm zu vermitteln, wie man ihn sich als Eltern wünscht, wird ganz gewiss nicht leicht sein. Aber es ist nötig, denn so geht es mindestens zweien nicht gut mit seinem Verhalten. Wenn er seine Eltern liebt, wird er einsehen, dass er nicht so weitermachen kann. Wenn die Liebe zu gering ist, dann muss er auch verstehen, wenn die Eltern ihm vorschlagen, doch auszuziehen. Ein Gespräch jedenfalls wird Klärung bringen und frei machen, dass man aufatmen kann.

Nun ist auch klar geworden, dass diese kleinen Wahrheiten mit der tiefen Wahrheit zu tun haben, die Johannes meint: Geht es für ihn um die Erlösung, die Jesus Christus allen Menschen schenken will, so ging es in meinen Geschichten um die Erlösung im Kleinen, im Alltäglichen, aber eben auch um die solche Erlösung, die wir selbst auf den Weg bringen und anderen gewähren können.

Im Großen wie im Kleinen stimmt dieses Wort: "Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen."

Jetzt fehlt nur noch der Bezug dieser Gedanken zu diesem Tag und diesem Abend! Aber ist das denn schwer zu entdecken? Drängt sich das nicht geradezu auf: Ist der Altjahresabend, ist Silvester, wie wir diesen Tag ja auch nennen, nicht der Abend oder der Tag der guten Vorsätze? Kann es darum einen besseren Tag geben als den heutigen, dass wir uns das wirklich fest vornehmen: Dass wir aus dem ehrlichen Willen, Jesu Jüngerinnen und Jünger zu sein, diesen Vorsatz für das kommende Jahr fassen: Die Wahrheit auch im kleinen und Alltäglichen zu erkennen und auch auszusprechen, um wen immer es geht und wie schwer uns das auch fallen mag. Wir müssen diese Wahrheit niemandem um die Ohren hauen, wir müssen uns auch damit über keinen Mitmenschen erheben, aber sagen wollen wir sie, so dass unser Gegenüber, unser Familienmitglied, unser Kollege, unser Chef, unser Nachbar oder welcher Mitmensch es auch immer sein mag, sie - soweit es an uns liegt - auch annehmen kann. - Dann werden wir erleben, wie uns diese Wahrheit frei macht. AMEN