Predigt zum 2. Christtag   -   26.12.2012

Textlesung: Jes. 11, 1 - 9

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten.

Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder.

Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.

Liebe Gemeinde!

Ich hoffe, dass ich jetzt keinen und keine vor den Kopf stoße, wenn ich sage: Das klingt alles wie im Märchen! Besonders beim Hören des zweiten Teils dieser Verse kommen wir uns doch vor, als hätten wir ein Märchenland betreten: Wölfe wohnen bei den Lämmern. Panther lagern neben den Böcken. Kühe und Bären weiden zusammen. Kinder spielen mit Ottern und Nattern, also mit Giftschlangen. Es fehlt noch, dass die Tiere in der Sprache der Menschen zu reden beginnen. Ähnlich wunderbare Dinge können wir auch bei den Brüdern Grimm lesen.

Das wertet aber diese Verse gar nicht ab! Kein Mensch wusste vor 2 ½ Tausend Jahren und kein Mensch weiß das heute, wie es wirklich zugehen wird, wenn Gottes Reich, seine Heilszeit anbricht. Warum soll man sich diese Zeit dann nicht mit Bildern ausmalen, die einem in den Sinn kommen, wenn man an so etwas Schönes und Wunderbares denkt?

Es gibt in der Bibel noch ganz andere Bilder für Gottes Himmel und manche sind nicht weniger märchenhaft. Wir lesen davon und wir singen sogar davon. Hier sind ein paar Beispiele: "Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind." (Ps. 46,5) "Von zwölf Perlen sind die Tore an deiner Stadt; wir stehn im Chore der Engel hoch um deinen Thron." (EG 535,3) "Das Himmelreich gleicht einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtete." (Mt. 22,2) "Und es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes." (Lk. 13,29)

Noch einmal: Wir wissen nicht, wie es wirklich sein wird drüben in der neuen Welt Gottes. Nur zwei Dinge wissen wir: Es wird schön sein, wunderschön und es wird dort einer mit "Treue" und "Gerechtigkeit" regieren! Und ich finde, das ist genug, mehr müssen wir dazu auch nicht wissen.

Nun ist für uns Christen ja eines ganz klar: Das "Reis", das aufgehen wird aus dem Stamm Isais (so hieß der Vater König Davids), das war und das ist Jesus Christus. Denn das, was diesem "Zweig aus der Wurzel Jesse" zugeschrieben wird, ist mit Jesus alles erfüllt: "Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN." Klar ist auch für uns Christen, dass es Jesus Christus ist, der in Gottes Reich, das hier so schön und märchenhaft beschrieben wird, Herr sein wird. - Und genau bei diesem Gedanken wird es uns deutlich, wie weit wir doch von diesem Reich und seinen himmlischen Zuständen entfernt sind!

Immer wieder in der Geschichte der Christenheit und der Kirche hat man versucht, in der Welt schon so etwas wie das zukünftige Gottesreich zu schaffen. Dem diente z.B. auch der Bau der großen Dome und Kathedralen, die mit ihrem Prunk und ihrer Pracht ein Abbild des himmlischen Jerusalems sein sollten. Immer wieder aber sind diese Versuche gescheitert. Die Welt ist nicht das Reich Gottes! Ja, sie ist nicht einmal ein schwacher Abglanz davon. Und Jesus Christus ist auch nicht wirklich der Herr in dieser Welt. Wohlgemerkt: Ich habe gesagt: "in" dieser Welt. Der Herr der Welt ist er allemal - nur eben gibt er uns noch Zeit, ihn auch den Herrn der Welt, wenigstens unseres Lebens werden und sein zu lassen!

Und da sind wir bei dem, was für mich solche märchenhaften Bilder von Gottes Reich bei uns auslösen sollen: Die Sehnsucht nach dieser neuen Welt, die Gott schaffen wird! Geht Ihnen das denn nicht auch so:

Ich bin so müde von der Ungerechtigkeit in dieser Welt. Die einen werden immer reicher, die anderen immer ärmer. Die genug, ja, übergenug haben, wollen nichts abgeben. Die einen sind satt, übersatt, die anderen hungern, haben nichts zu essen oder zu trinken. Und viele spekulieren auch noch auf die Lebensgrundlagen der Armen, so dass Getreide, Mais und Bohnen immer teurer, ja, unerschwinglich werden. Die einen wohnen in teuren Stadtwohnungen oder Villen am Rande, die anderen werden aus der Nähe ihres Arbeitsplatzes verdrängt, weil sie sich die Mieten dort nicht mehr leisten können. So müssen sie weite Fahrten auf sich nehmen und hohe Fahrtkosten und die Zeit für ihre Kinder, die Familie wird immer knapper. - Und das ist nur ein kleiner Teil der Ungerechtigkeit.

Und ich bin müde von der Zerstörung unserer schönen Welt: Die Böden, die Meere, die Luft sind verdreckt und voller Schadstoffe. Der Klimawandel hat längst begonnen, die Polkappen schmelzen ab, die Gletscher schwinden, aber die Klimakonferenzen vertagen die Gegenmaßnahmen immer wieder auf später.

Und ich bin müde von den gesellschaftlichen Folgen, wie sie die Ungerechtigkeit und die Umweltzerstörung nach sich ziehen: Das Klima in der Gesellschaft ist rauher geworden. Gleichgültigkeit überall. Die Gier der Banker, Manager und Aktionäre vergiftet die Atmosphäre. An den Schulen steigt die Gewaltbereitschaft. In den Betrieben herrschen gegenseitiges Misstrauen und die ständige Angst um den Arbeitsplatz. Wenn die Existenzsicherheit fehlt, dann ziehen sich die Menschen voreinander zurück und denken nur noch an sich.

Diese Müdigkeit und manchmal der Überdruss an den Verhältnissen in dieser Welt lässt die Sehnsucht wachsen: Nach dem Reich Gottes, in dem Liebe und gegenseitiges Vertrauen herrschen, nach einer Welt, in der es keine Armut mehr gibt und keinen Hunger, einer Welt, in der Wölfe bei den Lämmern wohnen, Panther neben den Böcken lagern, Kühe und Bären zusammen weiden und Kinder mit Ottern und Nattern spielen. Vor allem aber wächst die Sehnsucht nach einem Land, in dem ein König treu und gerecht regiert. -

Liebe Gemeinde, was machen wir mit dieser Sehnsucht, wenn wir doch wissen, sie wird sich in dieser Welt nicht erfüllen!? Was machen wir sonst mit unseren Wünschen, wenn wir auch nicht daran glauben können, dass sie wahr werden?

Es gibt da so ein schönes Wort, das passt ganz wunderbar hierher. Dieses Wort heißt: "Hoffnung ist der Vogel, der singt, auch wenn es noch ganz dunkel ist." Und gerade wir Christinnen und Christen haben Hoffnung, dass die neue Welt Gottes irgendwann anbricht. Darum werden wir auch dann, wenn diese neue Welt erst in Gottes ewiger Zukunft ganz zum Durchbruch kommen wird, schon heute an ihr arbeiten: Wir werden aufstehen gegen die Ungerechtigkeit. Wir werden uns nicht beteiligen, wo Unrecht geschieht. Wir werden wachsam sein, dass niemand überfordert und an den Rand gedrängt wird. Wir werden mit denen teilen, die zu wenig haben, dass sie leben können. Wir werden aber auch denen in den Ohren liegen, die sich hemmungslos bereichern und den Armen die Lebenschancen nehmen. Wir werden nach Kräften dafür sorgen, dass von uns keine Zerstörung der Umwelt ausgeht und mit allem, was das Klima schädigt, vorsichtig und sparsam umgehen. Und wir werden Menschen bleiben oder werden, zu denen man Vertrauen haben kann, die Verständnis und ein offenes Ohr für die Nöte und Sorgen der anderen Menschen haben und ihnen helfen.

Wie von selbst werden wir so auch Leute werden, die Jesus Christus zum Herrn haben. Die ihm Macht über ihr Leben geben und ihm untertan sind. Und durch unser Beispiel werden auch andere ihn als ihren Herrn entdecken oder wiederentdecken. So wird durch uns ein kleines Stück des Reiches Gottes in dieser Welt Wirklichkeit werden.

Übrigens: Die Arbeit für und am Reich Gottes schon in dieser Welt macht viel Freude und schenkt große Erfüllung! Ich wünsche Ihnen diese Erfüllung und Freude - nicht nur an Weihnachten. AMEN