Predigt zum 10. Sonnt. nach Trinitatis - 8.8.2010

Liebe Gemeinde!

Heute ist Israelsonntag, also ein Tag, an dem wir besonders über unser Verhältnis zu den Juden nachdenken, uns in Erinnerung rufen, dass es der Gott Israels ist, den auch wir Christen anbeten und dass unser Herr Jesus Christus Jude war. Aber ich bin jetzt ganz ehrlich: Mir ist in jedem Jahr ziemlich bange vor diesem Sonntag, weil man die Bibeltexte, die uns zu predigen verordnet sind, nur sehr schwer so auslegen kann, dass sich nicht irgendjemand aufregt und beschwert. Anders gesagt: Der Grat, auf dem wir Predigerinnen und Prediger an diesem Sonntag balancieren, ist schmal. Entweder stürzen wir auf der einen Seite ab, weil wir uns am Thema "Juden und Christen" vorbeimogeln oder wir fallen auf der anderen Seite in die Tiefe, wo uns das Urteil trifft, wir hätten die Juden in ihrer Ablehnung Christi als des Messias als verstockt verunglimpft und wären ihnen als dem auserwählten Gottesvolk nicht gerecht geworden.

In diesem Jahr ist uns nun zum Israelsonntag auch noch ein Text zu predigen vorgeschlagen, der uns fast zwangsläufig dahin führen wird, dass wir auf dem "schmalen Grat" entweder rechts oder links hinunterfallen. Hören Sie Worte des Paulus aus dem Römerbrief:

Textlesung: Röm. 11, 25 - 32

Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): "Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde." Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.

Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

 

Liebe Gemeinde, sicher verstehen Sie jetzt meine Worte vor der Verlesung dieser Predigtverse. Aber ich will ihnen nun doch mutig entlanggehen und uns weitergeben, was sie sagen wollen. Und ich will dabei versuchen, treu bei dem zu bleiben, was Paulus wohl gemeint hat und will dabei nicht daran denken, ob ich etwa auf dieser oder jener Seite des "schmalen Grates" abstürze.

"Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden ..."

Es nimmt den folgenden Worten des Apostels doch ein wenig die Schärfe, wenn wir zunächst einmal hören, dass wir uns nicht für klug halten und uns nicht über die Juden erheben sollen, die das Evangelium in Jesus Christus nicht angenommen haben. Denn - und das ist das Geheimnis! - so wird es nicht bleiben. Wenn wir aufmerksam lesen, fällt es uns gewiss auf: Es ist nicht die selbst gewählte Ablehnung Israels, es ist nicht ihre Verblendung, in die sie sich freiwillig hineinverlaufen haben, es ist "Verstockung" und es ist dem Volk "widerfahren", es ist also Gott selbst, der sein Volk verstockt!

Aber dahinter steht nicht Gottes Wille, sein Volk für immer zu verwerfen. Im Gegenteil: Es ist sein Heilsplan so! Auch wenn wir das nicht verstehen können, es geht Gott nicht um die Verdammung, vielmehr um die Rettung Israels! Diese Rettung wird aber erst dann geschehen, wenn "die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist"!

Und so ist es ja auch schon bei den Propheten Jesaja und Jeremia angekündigt: "Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde." Es gibt Sünde in Israel - wie es sie unter denen gibt, die durch die Mission des Paulus damals und die bis in unsere Tage Christen geworden sind. Es gibt Gottlosigkeit im Hause Jakob, also unter den Juden, wie es sie bei denen gibt, die Paulus in seinem Römerbrief damals anspricht und unter denen, die heute seine Worte lesen und hören. Keiner, damals wie heute, soll sich "für klug halten", für besser oder näher am Herzen Gottes! Gott will in Jesus Christus alle Menschen für sich gewinnen. Dieser Herr ist der Messias und Heiland aller, die Gott zum Vater haben. Der neue Bund, den Gott mit diesem Jesus Christus aufrichtet, gilt allen: Juden und Christen und wird auch Israel umfassen, alles Trennende zwischen Gott und seinen Menschen beseitigen und alle von Gottlosigkeit und Sünde freimachen und erlösen.

"Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen." Hier fehlt nun wirklich nicht viel, dass wir auf der Seite des Abgrunds hinunterfallen, auf der die Juden für uns zum Anlass werden, den Kopf ganz hoch zu heben und die Augenbrauen hochzuziehen: Sie sind "Feinde im Blick auf das Evangelium". Aber auch hier wollen wir nicht vergessen, was uns am Anfang gesagt ist: "Haltet euch nicht selbst für klug!" Erhebt euch nicht über die Menschen aus dem Volk Gottes! "Feinde" sind sie nur "um euretwillen"! Die Verstockung und Ablehnung des Christus, die ja einmal aufgehoben werden soll, öffnet uns den Weg zum Herzen Gottes! Wenn wir uns auf Jesus Christus verlassen, wenn wir auf ihn vertrauen und glauben, dass er der Sohn Gottes ist, dann wird er die Tür, durch die auch wir ins Haus unseres gemeinsamen Vaters treten. Die Juden aber bleiben "erwählt" und von Gott "geliebt". Denn was Gott in seinem Bund am Sinai geschenkt und verheißen hat, nimmt er nicht zurück - in Ewigkeit nicht. Wir sind im Glauben nur zeitlich einen Schritt voraus. Unsere Schwestern und Brüder aus dem Volk der Juden werden folgen und wir werden alle bei Gott sein und ewig bei ihm wohnen. Gott ist und bleibt denen treu, die er erwählt hat!

"Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen." Zugegeben, jetzt wird's ganz schwierig! Aber Paulus geht davon aus, dass jeder Mensch - sei er Jude, Christ oder Heide - den alten Adam in sich trägt und damit im Zustand der Sünde, der Trennung von Gott, lebt (Röm. 5,12). So also kann er sagen, dass auch die Christen, die zuvor Heiden waren, Gott ungehorsam gewesen sind. Und der Gedankengang des Apostels geht im hin und her so weiter: Der Heidenchristen konnte sich Gott erbarmen, weil die Juden in ihrer Ablehnung Jesu Christi ungehorsam waren. Außerdem ist es ungehorsam gewesen, den Heiden das Erbarmen Gottes in Jesus Christus nicht zu gönnen. Doch auch die Juden werden einmal Barmherzigkeit Gottes erlangen, wenn sie begreifen, dass Gott sich in diesem Christus aller Menschen erbarmen will: der Heiden, der Christen und der Juden. Und so zieht Paulus den Schluss: "Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme."

Liebe Gemeinde, wie gesagt, das alles ist nicht einfach zu verstehen und nicht einfach zu predigen. Es ist der Versuch des Paulus, Gottes Heilsplan mit seinen Menschen zu deuten und der ist - so sagt Paulus selbst - ein Geheimnis. Niemand - auch Paulus nicht - kann nun also sagen: So ist es! Oder gar: Das hat Gott gemeint oder gewollt. Wir können nur - jede und jeder für sich selbst - über dieses Geheimnis nachsinnen, es mit den Augen des Glaubens ansehen und vor unserem persönlichen Glauben prüfen, wie Paulus oder ein anderer sich dem Geheimnis genähert hat oder heute nähert. Vielleicht kommen wir bei unserer Prüfung zum selben, vielleicht aber auch zu einem anderen Ergebnis. Was allerdings für die Deutung des Paulus spricht, ist dies: Was er hier sagt, stimmt mit dem überein, was er in allen seinen Briefen entfaltet. Im theologischen Fundament, das er uns gelegt und in seinen Briefen hinterlassen hat, passt alles zusammen und es hat alles den Eckstein Jesus Christus. Dazu haben schon die ersten Christengemeinden und seitdem ungezählte Christen in allen Zeiten und aller Welt das Gebäude ihres persönlichen Glaubens darauf errichtet. Für uns Evangelische ist dabei noch wichtig, dass unser Reformator Martin Luther mit seinem Denken und Predigen, Glauben und Lehren wieder in die Spur des Paulus getreten und darin geblieben ist und uns sein theologisches Fundament wieder frei gemacht hat von allem, was sich damit nicht verbinden und nicht auf ihm gründen lässt.

Liebe Gemeinde, vielleicht hört es sich ja jetzt doch nicht gar zu hart an, wenn wir mit Paulus heute davon sprechen, dass Gott alle Menschen - und eben auch die Juden! - in den Ungehorsam eingeschlossen hat, wenn er sich doch am Ende aller Tage aller - auch der Juden! - erbarmen will!? Wie sagt Paulus an anderer Stelle: "Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhms, den sie bei Gott haben sollten" (Röm. 3,22f). Aber Gottes wunderbare Barm- herzigkeit allen Menschen gegenüber will es dabei nicht belassen! Es geht vielmehr so weiter: "und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist" (Röm. 3,22f)." AMEN