Predigt zum Sonntag "Invokavit" - 21.2.2010

1. Textlesung: Hebr. 4, 14 - 16

Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.

Liebe Gemeinde!

Manchmal ist es sicher gut, wenn man bei etwas dunklen und schwer verständlichen Schriftworten danach fragt, wie oft denn bestimmt Begriffe in ihnen vorkommen. Die scheinen dem Schreiber des Textes ja wohl besonders wichtig zu sein.

Wenn wir diese "Methode" einmal hier anwenden, dann zeigt sich, dass nur zwei Begriffe mehr als einmal, nämlich zweimal vorkommen: "Hoherpriester" und "Gnade". Und ich glaube schon, dass wir damit auch die beiden wichtigsten Wörter aus diesen drei Versen beisammen haben. Und dass beide Begriffe auch noch in Beziehung zueinander stehen, wird uns klar, wenn wir danach fragen, was denn das Amt der Hohenpriester Israels in der Zeit war, als unser Herr über diese Erde ging: "Der Hohepriester hatte im Bereich der Religion die zentrale Funktion. In allen Fragen der Religion, der Priesterschaft und des Gottesdienstes hatte er die oberste Aufsicht und Weisung. Er musste eine besondere kultische Reinheit wahren und war der einzige, der einmal im Jahr zu Jom Kippur (Versöhnungstag) das Allerheiligste des Tempels betreten durfte. Dort empfing er stellvertretend für das Volk die Vergebung Gottes. Im Jahreslauf brachte er die wichtigsten Opfer dar." (Wikipedia zu "Hoherpriester")

Vielleicht ist das ja immer noch nicht klar genug, warum Jesus Christus der "große Hohepriester" genannt wird und was das mit Gnade zu tun hat. Darum noch diese Erklärung: "Besondere kultische Reinheit" wurde vom Hohenpriester verlangt. Denken wir an den Priester in der Geschichte vom "Barmherzigen Samariter", dann wissen wir, was gemeint ist. Das Blut des Verletzten hätte ihn unrein gemacht und er hätte im Tempel nicht mehr das Opfer darbringen dürfen. Vom "hohen", also dem obersten "Priester" gilt das noch mehr! In diesen Versen aus dem Hebräerbrief ist aus dieser "kultischen Reinheit" nun "ohne Sünde" geworden. Jesus der große "Hohepriester" darf also vor Gott treten und für das Volk opfern. Sein Opfer allerdings ist das des eigenen Leibes am Kreuz von Golgatha. Und jetzt wissen wir auch, wo der Bezug zur Gnade ist: Wie der Hohepriester Israels zum Beispiel am Versöhnungstag durch das Opfer Gottes Gnade und Vergebung erlangte, so hat der Christus, der ohne Sünde war, durch sein Opfer am Kreuz ein für allemal Gottes Vergebung und Gnade für alle Menschen gewonnen, die an ihn glauben.

So, jetzt ist es aber genug mit diesen gewichtigen Gedanken. Im Grunde hören wir in diesen drei Versen aus dem Hebräerbrief ja eine wunderbare, froh machende und befreiende Botschaft und die spricht sich ja auch - besonders im letzten Vers - deutlich aus: "Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben." - Der Thron der Gnade, der Thron Gottes, auf dem er Recht und sein Urteil über uns spricht, ist jetzt kein Schreckensort mehr, sondern unsere Zuflucht - nicht erst in der anderen Welt, sondern schon hier und heute. Vor Gottes Stuhl finden wir Erbarmen und Hilfe - um Jesu Christi Willen, der sich für uns als Opfer gegeben hat.

Liebe Gemeinde, jetzt ist auf einmal zu den beiden Begriffen "Hoherpriester" und "Gnade" noch ein dritter Begriff getreten, der in den drei Hebräerbriefversen zwar gar nicht ausdrücklich genannt wird, der aber sozusagen im Hintergrund entscheidend wichtig ist: "Opfer". Und sie haben ja vielleicht die Diskussion um dieses Wort mitbekommen, die in letzter Zeit nicht nur in Theologenkreisen entbrannt ist. In dieser Diskussion ging es namentlich um das "Sühnopfer" Jesu Christi und ob das nicht ein heute überholter Gedanke wäre, dass unser Herr für die Sünde aller Menschen in Leiden und Tod gegangen ist, um dadurch, dass er sich in Kreuz und Tod dahingibt, unsere Sünde und Schuld zu sühnen.

Ich will es ganz deutlich sagen: Ich finde schon die Diskussion um dieses Thema schlimm und verderblich. Noch schlimmer aber ist für mich, dass wirklich Theologen, Professoren, aber auch Pfarrer diese zentrale Botschaft unserer christlichen Religion in Zweifel ziehen und sie am liebsten aus unserem Glauben und Denken verbannen würden. Wobei ich nicht weiß und diese Theologen wohl auch nicht wissen, wie das überhaupt anzustellen wäre. Ein Teil des Alten Testaments und mindestens die Hälfte des Neuen Testaments müsste gestrichen oder umgeschrieben werden. Und unser Gesangbuch würde alle Passions- und noch viele andere Lieder verlieren.

Dabei verstehe ich das Anliegen dieser Theologen sehr wohl. Sie meinen auf den Punkt gebracht: Der Mensch unserer Tage wäre nicht mehr in der Lage, den Gedanken des Sühnopfers zu verstehen. Er fragt sich, warum das nötig sein soll, dass ein anderer für ihn eintritt, für ihn leidet und gar sein Leben für ihn lässt. Wobei das im Grunde eine Frage an Gott selbst ist: Warum er uns sein Heil, seine Vergebung und das Ewige Leben gerade auf diesem Weg schenken wollte. Der Mensch unserer Zeit - wie eigentlich schon aller Zeiten! - möchte sich nunmal nicht so gern etwas schenken lassen, sondern es sich selbst verdienen. Gott aber schließt jedes eigene Verdienst des Menschen aus und weist uns an Jesus Christus: Der hat sich für uns geopfert und damit für uns genug getan!

Aber jetzt sind wir schon wieder in so schwere Gedanken geraten. Ich möchte uns noch eine Geschichte erzählen, die vielleicht ein wenig deutlicher machen kann, warum Gott uns gerade so zu seiner Gnade und zu seiner Vergebung führen wollte, wie er es mit Jesus Christus getan hat:

Im 19. Jahrhundert lebte im Kaukasus ein Fürst namens Schamil. Er regierte ein kleines Bergvolk und galt als unbestechlich, gerecht und sehr klug. Seine Mutter, die ihn auf seinen Kriegszügen begleitete, liebte er innig.

Eines Tages wurde Schamil gemeldet, dass wichtige Geheimnisse an den Feind verraten worden seien. Der Täter blieb unentdeckt. Dieser Vorfall wiederholte sich. Schamil verfügte, dass ein solcher Verräter, würde er entdeckt, mit hundert Geißelhieben auf nacktem Rücken bestraft würde. Er wollte solchem Verrat aus den eigenen Reihen Einhalt gebieten. Eines Tages wurde ihm gemeldet, dass der Täter entdeckt sei. Es war seine geliebte Mutter. Drei Tage ging Schamil mit sich zu Rate. Gerechtigkeit und Liebe stritten miteinander in seinem Herzen. Beiden musste er genügen, aber wie?
Schließlich wurde die Mutter in Fesseln vorgeführt, um die hundert Geißelhiebe zu empfangen. Als der Henker die Hand zum ersten Schlag erhob, sprang Schamil vor, legte seinen Mantel ab und sprach: "Schlagt mich, ich trage ihre Strafe!" So tat er der Gerechtigkeit und der Liebe genüge und empfing die Strafe.
Die Sünde verlangt nach Sühne, die Liebe verlangt Vergebung. In der Stellvertretung Christi am Kreuz ist beides vereint. Gottes heiliger Wille ist nicht außer Kraft gesetzt, aber seine Liebe ist um so deutlicher hervorgetreten.
(nach: Heinz Gerlach: Salz zum Würzen, 1983)

Soweit diese Geschichte. Ich finde, man muss ihr gar nicht mehr viel hinzufügen. Man versteht auf einmal, was es heißt, wenn Jesus unser Hoherpriester genannt wird. Man begreift, dass nur er, der ohne Sünde war, für uns die Gnade Gottes erlangen konnte. Und wir bekommen wenigstens eine Ahnung davon, wie Gott es machen wollte, dass er uns zu sich ziehen und mit seinem Heil beschenken kann. Und hoffentlich verstehen wir jetzt auch besser, was hier gemeint ist: "... lasst uns festhalten an dem Bekenntnis ...! Denn wir alle sind schon auf dieses Bekenntnis getauft, dass Jesus Christus das Sühnopfer für unsere Verfehlungen ist und wir alle sprechen im Glaubensbekenntnis jeden Sonntag davon, dass "Jesus Christus zur Rechten Gottes sitzt und die Lebenden und die Toten richten wird" und wir wissen, dass der Glaube an ihn, der Maßstab dafür sein wird, wie dieses Gericht für uns ausgeht. Und schließlich glauben wir, worauf das alles hinauslaufen wird, nämlich auf die "Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben." - Aber vielleicht verstehen wir diese Worte jetzt nicht nur, sondern sie machen uns auch Freude, denn um nichts weniger geht es dem Schreiber dieser Verse: "Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden!"