Predigt zum Sonntag "Misericordias Domini" - 19.4.2015

Textlesung: Jh. 10, 11 - 16 (27 - 30)

Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht - und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie -, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt, und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden, und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Mein Vater, der mir sie gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins.

Liebe Gemeinde!

Die Gedanken zu äußern, die mir beim Lesen dieser Verse gekommen sind, ist vielleicht ein bisschen gewagt. Sie könnten denken, ich würde doch ziemlich übertreiben und hätte einen zu schlechten Eindruck von dieser Zeit und ihren Menschen. Darum sage ich es zuvor ganz deutlich: Es gab und gibt in jeder Zeit gute Menschen und weniger gute. Und auch unter uns Christen verhält es sich so. Was ich aber in den letzten Jahren sehe und erlebe, bestätigt mich in meiner Sicht, dass es in unserer Zeit mit der Menschlichkeit und der Christlichkeit eher abwärts als aufwärts geht. Aber ich will jetzt endlich doch meine Gedanken zu diesen Worten Jesu aussprechen: "Ich bin der gute Hirte", sagt Jesus. "Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht, [...] denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe."

Wir wollen uns nicht davon irritieren lassen, dass hier von Hirten und Schafen die Rede ist. Wir verstehen sehr gut, was und wer gemeint ist. Und ich finde, dabei ist ganz klar ausgesprochen, was wir heute allenthalben beobachten können: Es gibt immer weniger Hirten und immer mehr Mietlinge! Anders ausgedrückt: Überall in der Welt und in unserer Gesellschaft nimmt die Zahl der Menschen zu, die sich nicht wirklich um die kümmern, die ihnen auf irgendeine Weise anvertraut sind. Und mit "anvertraut" meine ich nicht nur das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern oder Lehrern zu ihren Schülern, sondern auch der Regierung eines Landes für ihre Bevölkerung. Und ich meine auch nicht nur eine Beziehung der Liebe des einen Ehepartners zum anderen oder des Christen zu seinem Nächsten, sondern auch die der Fürsorge des Reichen für die Armen und eigentlich jedes Menschen für seinen Mitmenschen. Denn ich glaube, das alles ist eingeschlossen, wenn Jesus von Hirten spricht, die sich um ihre Schafe kümmern und von Mietlingen, die sie im Stich lassen. -
Schauen wir zuerst nach den "Großen" in der Politik - ich brauche dabei keine Namen zu nennen:

Unzählige Könige, Präsidenten und sonstige Regierende in den Ländern rings um die Erde sind doch nicht wirklich interessiert am Wohl ihrer Untertanen oder Bürger. Sie bauen sich Paläste, sie leben in Saus und Braus während ihre Völker Hunger leiden, sie scheffeln Millionen und Milliarden für sich und ihre Verwandten, sie dulden Korruption und die Beugung des Rechts und unterdrücken jede Kritik der Menschen, die ihre Taten anprangern - oft durch Gefängnis, Folter und Gewalt.

Auch in unserem Land gibt es unter den Repräsentanten des Staates, in den Parlamenten und politischen Gremien zahllose Frauen und Männer, die nicht zuerst die Sache derer betreiben, die sie vertreten sollen. Oft steht die eigene Karriere im Vordergrund. Abstimmungen sind nicht von Vernunft und dem Wunsch geleitet, gut und gerecht zu entscheiden, sondern von der Partei- oder Fraktionsdisziplin. Wie "ernst" etwa viele Bundestagsabgeordneten ihr Amt nehmen, zeigt ein Blick in die Fernsehübertragung einer Plenarsitzung: Über 600 Abgeordnete haben wir durch Wahl in den Bundestag entsandt, keine 200 davon sind oft anwesend, wenn es um wichtige Entscheidungen geht. Wenn die Erhöhung der Diäten auf der Tagesordung steht, sieht es besser aus.

Im Bank- und Versicherungswesen sind die Veränderungen der letzten Jahren besonders augenfällig: Die Älteren unter uns haben noch erlebt, dass sie durch Sparen und die dafür anfallenden Zinserträge im Laufe der Zeit ihr Vermögen steigern konnten. Heute scheint es günstiger, sein Geld in den Strumpf zu stecken oder gleich für Konsum oder Urlaub auszugeben. Lebensversicherungen, für die uns einmal eine bestimmte Auszahlungssumme versprochen war, sind am Ende der Laufzeit immer häufiger eine große Enttäuschung und erfüllen nicht die berechtigten Erwartungen. Die Gewinne der Banken und Versicherungen aber steigen kontinuierlich!

In der Wirtschaft wächst die Zahl der "prekären" Arbeitsverhältnisse: Zu wenig Lohn, um sich selbst oder gar eine Familie zu ernähren, keine soziale Absicherung, die Zukunft ungewiss, unmöglich etwas für die Rente zurückzulegen. Altersarmut droht und ist bei vielen Rentnern schon heute eine bittere Realität. Die Einkommen der Reichen und Superreichen aber sind in den letzten Jahren stark gestiegen. - Mit den Worten Jesu gesprochen: Immer mehr Mietlinge, immer weniger Hirten. -

Und wie sieht es im Kleinen aus, im persönlichen Leben der Menschen, in den Ehen und Partnerschaften, zwischen Eltern und Kindern, unter uns Christinnen und Christen in den Gemeinden?

Es würde zu weit führen, wollte ich jetzt noch konkret werden, wo wir uns in unseren unterschiedlichen Beziehungen auch gern und vermehrt aus unserem Hirtenamt zurückziehen. Ich will allgemein sprechen und in Worten, die wir heute oft hören, ja, vielleicht selbst gebrauchen:

Da sagt einer: "Ich will in Zukunft mehr an mich selbst denken!" Eine andere: "Ich habe lange genug für dich den Putz gemacht, jetzt bist du dran!" Und noch einer: "Von heute an musst du selbst sehen, wo du bleibst!"

Aber auch, ohne dass Worte gesprochen werden, geschieht dieser Rückzug: Man bleibt weg im Verein, weil man den Eindruck hat, während man selbst für die anderen wirkt und schafft, ruhen die sich nur aus. Man macht nicht länger den wöchentlichen Besuch bei einem alten oder kranken Menschen, der auf uns wartet, weil er uns ja doch "nichts bringt". Oder man zieht den Dauerauftrag für die Spende an die karitative Organisation zurück, weil man mit dem Geld schließlich auch etwas für sich selbst tun kann.

Wie ich es empfinde, ist dieser Rückzug ins Eigene, dieser Bruch mit der Aufgabe der Hirtin, des Hirten heute häufiger als noch vor Jahren. Was dabei herauskommt, nennen wir "soziale Kälte" und der Befund, wenn wir es mit Jesu Worten sagen wollen, heißt: Die Schar der Mietlinge, die sich nicht mehr um die kümmern, die ihnen anvertraut sind, wird ständig größer.

Liebe Gemeinde, ich weiß nicht, ob Sie bei allem, was ich jetzt gesagt habe, mitgehen konnten. Das scheint so negativ und so hoffnungslos. Als könnten wir das nur feststellen, aber nichts daran ändern. Aber so ist es nicht!

Zwei Sätze in den Versen, die ich vorhin vorgelesen habe, wollen und können uns ermutigen: Einmal dieser Satz Jesu: "Ich bin der gute Hirte." Wir haben ein Vorbild, wie wir so, wie es Jesus für uns alle getan hat, als Hirten füreinander leben können. Sein Beispiel, seine Treue und seine Liebe zu den Menschen kann auch uns immer wieder neu Kraft und die Bereitschaft geben, die Mitmenschen und was sie von uns brauchen, nicht zu vergessen. Wie er unser Leben für andere zu lassen, verlangt er nicht von uns. Aber unsere Nächsten zu lieben, wie wir uns selbst lieben, das will er schon von uns haben. Es mag sein, dass wir in früheren Zeiten mehr auf einander angewiesen waren, als heute. Das hat es uns leichter gemacht, für andere da zu sein: Einer hatte ein Auto, der andere ein Telefon - so half man sich gegenseitig aus. Als noch wenige einen Fernseher besaßen, haben sie die Nachbarn dazu eingeladen mitzuschauen. Manche konnten ein teures Werkzeug verleihen.
In unserer Zeit hat fast jeder alles, was zum Leben, für Arbeit und Freizeit nötig ist - und oft viel mehr. Aber vielleicht können wir die gegenseitige Hilfe und das umeinander Kümmern ja neu entdecken - und auch bei ganz anderen Dingen als den materiellen, die ja heute jeder selbst besitzt.

Mir fallen dabei solche Dinge ein: Dem anderen wirklich zuhören, sich in seine Lage hineindenken, für ihn sprechen und für ihn eintreten, wenn er das nicht kann, ihn besuchen und ihm helfen, wenn er in Not ist, seine Sache zu unserer eigenen machen... Ein Mietling tut das alles nicht. - Bei alledem ist eins immer hilfreich: Wenn wir bei jeder Entscheidung und bei allem, was wir tun, wenn es von Belang ist, fragen: Was hätte Jesus jetzt getan?

Der zweite Satz, der uns ermutigen will, ist dieser: "Ich gebe ihnen das ewige Leben!" Jesus spricht damit von seinen "Schafen", von denen, die seine Stimme hören, für die er sein Leben gelassen hat und die niemand aus seiner Hand reißen kann. "Ewiges Leben" - wir denken dabei oft nur an das Leben nach dem Tod. Aber Jesus meint auch das Leben in dieser Welt! Denn als ein Mensch, der sich "um seine Mitmenschen kümmert", lebt man schon hier und heute anders. Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, in der Spur Jesu zu gehen, wie er für andere da zu sein, ihnen zu helfen, in Not beizustehen und auch ihre Freude zu teilen. Ein solches Leben ist rund und erfüllt. Wir kommen nicht an allem Schweren und Bedrückenden vorbei, es gilt, auch Durststrecken zu bestehen, Zeiten des Leids und der Trauer. Aber es kann uns nichts von dem trennen, der uns in allem vorausgegangen ist. Selbst der Tod verliert seinen Schrecken an der Hand des Herrn, der ihn auf ewig besiegt hat.

Ich denke mir, Sie fragen sich jetzt: Was wir denn tun können, dass es auch in der großen Welt, in Politik und Wirtschaft anders werden kann, dass aus "Mietlingen" "Hirten" werden und auch die Reichen in Fürsorge und im umeinander Kümmern ihre armen Mitmenschen entdecken. - Ich glaube, dass es nicht anders geht, als dass wir beharrlich bei unserem Vorbild Jesus Christus bleiben und so unseren Mitmenschen selbst ein Beispiel sind und denen in Regierungen, Parlamenten, Banken, Versicherungen und überall einen Denkanstoß geben. Wir sollen ein Beispiel sein - ob es fruchtet, ist nicht unsere Sache, denn daran erinnert uns auch der Name dieses Sonntags. Er heißt "Misericordias Domini", "Barmherzigkeit Gottes". Das meint: Der Erfolg all unseres Tuns, all unserer Mühe hängt letztlich von Gottes Erbarmen ab. AMEN