Predigt zum Reformationsfest - 31.10./4.11.2007

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Textlesung: Jes. 62, 6 - 7. 10 - 12

O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.

Liebe Gemeinde!

Es ist immer wieder schwierig, solche uralten Prophetenworte auf uns und unsere Situation in der Welt, der Gesellschaft oder unserer Kirche zu beziehen. Und die Gefahr ist groß, dass der Prediger, dem am Reformationsfest solch ein Text zu verkündigen aufgetragen ist, in der Predigt seine theologischen Lieblingsplätze aufsucht und dabei die eigentliche Botschaft der Verse versäumt. Damit dies nicht geschieht, will ich in der gebotenen Kürze erklären, was sich an historischem Geschehen hinter diesen doch sehr poetischen Worten verbirgt:

Ein großer Teil des Volkes Israel, das die Verbannung nach Babylon überlebt hat, ist nach Jerusalem zurückgekehrt. Die durch die lange Gefangenschaft geschundenen und in jeder Beziehung entwurzelten Heimkehrer haben dort nur Ruinen vorgefunden: Die Häuser zerstört, der Tempel dem Erdboden gleich gemacht und auch die Mauern, von denen hier die Rede ist, liegen in Trümmern. Aber der Prophet hat eine gute, eine wunderbare Botschaft: Gott wird die letzten Verbannten nach Hause führen! Er wird es bald tun! Er bringt sie heim zur "Tochter Zion", der Stadt Jerusalem. Dort wird neues Leben aus den Ruinen wachsen. Alle Völker werden staunen, wenn Gott seine heilige Stadt wieder aufrichtet und zu Ehren bringt. Ja, der Prophet will das gar noch beschleunigen: Er hat Wächter bestellt, die auf den Mauern Tag und Nacht wachen und Gott erinnern und ermahnen sollen, dass er auch tut, was er seinem Volk versprochen hat: Israel soll wieder das Heilige Volk seines Gottes sein. Israel soll neu erblühen und nie mehr von Gott verlassen werden.

Und was machen wir nun mit dieser Geschichte? Was sagt sie uns heute? Und am Reformationsfest? Aus welcher Verbannung wird Gott uns herausführen? Wo liegt unser Jerusalem? ... Fragen über Fragen. Ich möchte zwei kleine Geschichten erzählen, um uns einer Antwort näher zu bringen. Die erste spielt in unserer evangelischen Kirche, in einer Gemeinde, irgendwo in der Stadt oder auf dem Land:

Man feiert Jubiläum: 25 Jahre besteht die Kirchengemeinde. Neben dem ersten Pfarrer, schon lange im Ruhestand, der die Gemeinde aufgebaut hat, sind auch einige ehemalige Kirchenvorsteher gekommen. Auch solche, die längst nicht mehr am Ort wohnen. Darunter ein junger Mann, der zur ersten Konfirmandengruppe des alten Pfarrers gehörte und später, bevor er aus beruflichen Gründen fortgezogen ist, ein paar Jahre im Kirchenvorstand und einigen Gemeindegruppen mitgearbeitet hat.

Ein bunter Nachmittag mit Kaffee und Kuchen und anschließendem Tanz ist vorgesehen. Zu Beginn wird der alte Pfarrer in der Jubiläumsandacht die Festpredigt halten. Der junge Mann hat sich schon lange darauf gefreut. Sein Konfirmator hat ihn damals gerade durch seine überzeugende Verkündigung zum Glauben geführt. Und der alte Pfarrer predigt wie erhofft. Das Kreuz Jesu Christi ist der Mittelpunkt. Wenn wir IHN haben, dann haben wir das Leben. Alles, was die Welt bietet, kann uns nicht helfen. Wir bleiben davon innerlich leer und unerfüllt. Jesus Christus ist der Herr der Welt, der Kirche und aller Menschen.

Der junge Mann ist begeistert und wie damals innerlich zutiefst angerührt. Auch da, wo er heute wohnt, wird gut gepredigt. Nur fehlt ihm oft die innere Beteiligung des Pfarrers. Hier aber kommt die Predigt aus dem Herzen. Hier will ein Mann, der die Freude an der besten Sache der Welt kennen gelernt hat, diese Freude an andere weitergeben. Einfach wunderbar, wie der alte Pfarrer auch mit seiner Person deckt, was er sagt. Wie sein Gesicht, seine Haltung und seine Gesten das ausstrahlen, was ihn im Herzen bewegt.

Aber was ist mit der heutigen Gemeinde, von der unser junger Mann noch einige aus früherer Zeit kennt? Viele sind mit ihren Gedanken nicht dabei. Manche schauen sich an, als wollten sie sagen: Warum hat man den bloß eingeladen? Andere blicken gelangweilt. Irgendwie scheint man das Ende der Ansprache zu erwarten. Fast kann man ihr Aufatmen hören, als der alte Pfarrer das Amen sagt.

Dann geht alles sehr schnell: Kaffee wird in die schon bereit stehenden Tassen ausgeschenkt. Eine Stimme aus dem Lautsprecher eröffnet das Kuchenbüffet. Es wird laut im Gemeindehaus. Kaum eine halbe Stunde später schwingt man das Tanzbein. Anlass der Feier und die Worte des alten Pfarrers scheinen vergessen. Der junge Mann sucht ihn vergeblich. Er hätte so gern noch ein wenig mit ihm gesprochen und ihm für die Predigt gedankt. Als er einen der heutigen Kirchenvorsteher fragt, sagt der ihm: Der alte Pfarrer hätte gleich nach seiner Ansprache wieder gehen wollen.

Liebe Gemeinde, was hat diese Geschichte nun mit den Prophetenworten zu tun, die wir vorhin gehört haben? Wenigstens so viel: Ich wünschte dieser Kirchengemeinde, die durchaus kein Einzelfall ist, dass in ihr Wächter aufstehen und auf den Trümmern ehemaliger geistlicher Größe Gott erinnern: Nimm dich unserer Gemeinde an. Schenke uns wieder Hunger nach deinem Wort und aufmerksames Hören auf deine Stimme. Gib uns PredigerInnen, die uns deinen Willen sagen, auch wenn er uns nicht gefällt. Führe uns aus der Verbannung eines Lebens ohne Tiefe und Fülle. Hole uns heraus aus der Jagd nach Kurzweil und Zerstreuung, aus dem Kreislauf von Verdienen und Ausgeben, von Kaufen und Verbrauchen. Vor allem richte uns in unserer Gemeinde neu auf Jesus Christus aus! Lass uns fragen, was er getan hätte. Lass uns tun, was ihm gefallen würde. Baue so unsere Gemeinde wieder auf zu einer Stätte, an der die Menschen Halt und Hilfe finden und an der du gern unter uns wohnst und in Wort und Sakrament, in Glauben und Lieben, in Beten und Danken bei uns bleibst.

Und hier ist die zweite kleine Geschichte, sie ist eher persönlich. Sie handelt von einem Mann so um die 45. Wir nennen ihn Werner:

Werner war immer ein gläubiger und kirchlicher Mensch. Als Kind schon regelmäßig im Kindergottesdienst. Aus echter Überzeugung hat er sich konfirmieren lassen. Danach war er selbst jahrelang in der Jungen Gemeinde Leiter einer Jungschar. Das Gebet ist ihm seitdem immer tägliche Übung gewesen und auch der Kirchgang war selbstverständlich für ihn. Und in allen seinen Entscheidungen hat er sich von seinem Glauben leiten lassen.

Aber seit ein paar Monaten ist eine Veränderung bei ihm eingetreten. Zuerst ganz unmerklich: Vielleicht hat er am Abend vergessen, die Hände zu falten. Oder am Sonntagmorgen - er ist einfach im Bett liegen geblieben. Schließlich war es nicht mehr zu übersehen: Der Glaube und das Vertrauen der früheren Zeit seines Lebens war ihm abhanden gekommen. Und er spürte auch ganz deutlich, woran es lag: Es war die Ruhe, die in sein Leben eingekehrt war. Er hatte alles erreicht, was er immer erreichen wollte: Das Haus, die Stellung, das gesicherte Einkommen ... Er sah gar keine Bewegung mehr, keine Entwicklung. Beruflich stand zwar alles zum Besten - aber seine Arbeit gab keine neuen Herausforderungen her. Schon einige Male hatte er überlegt, ob er sich noch einmal verändern sollte. Aber das Risiko! Immerhin: Er war Mitte Vierzig! Und er musste sich sogar zugeben, dass er seine Ehe nicht mehr als so glücklich und befriedigend empfand, jetzt da die Kinder aus dem Haus waren und sie wieder mehr Zeit für sich selbst hatten. Und das schlimmste war sicher, dass auch sein Glaube nicht mehr recht trug. So viele Fragen. So viele Zweifel. - Was sollte er tun?

Ja, hier endet diese Geschichte. Gibt es in ihr auch eine Beziehung zu den Worten des Jesaja? - Ich glaube schon. Ich wünschte Werner nämlich, dass er - bevor er voreilig zu viel aufs Spiel setzt - auch die "Wächter" auf die Mauer seines Lebens stellt: Dass sie Gott an sein Versprechen erinnern, nach seinen Kindern zu sehen, ihnen besonders in der Krisen ihres Lebens beizustehen und den Weg zu zeigen. Diese Wächter könnten Werners Gebete sein: "Himmlischer Vater, ich weiß nicht weiter. Mein Leben scheint mir fade und leer. Manchmal fühle ich mich, als wäre ich schon tot und am Ende. Lass mich doch neue Ziele finden, für die es sich zu leben lohnt."

Und dann wünschte ich Werner, dass ihm Gott neue Aufträge schenkt: Vielleicht im Besuchsdienst seiner Kirchengemeinde oder in einem andern Gemeindekreis. Und auch im Beruf, wenn er mehr als früher auf die KollegInnen zugeht und sich auch einmal danach erkundigt, wie es ihnen ganz persönlich geht. Viel zu nüchtern und kalt ist es ja auch an so vielen anderen Stellen unserer Gesellschaft und es brauchte Menschen, die andere als Mitmenschen wahrnehmen und sich für sie interessieren. Vielleicht führt Gott ihn so aus der Verbannung des Immer-so-Weiter? Vielleicht kann er herauskommen aus dem Gefängnis der Lageweile und des ewig gleichen Trotts. Vielleicht zeigt ihm Gott, dass auch ohne alles Gewesene zu zerbrechen neue Aufgaben auf ihn warten und er findet Zufriedenheit und Glück in dem, was er neu aufbaut in seinem Leben?

Liebe Gemeinde, sie fragen jetzt sicher, was dies alles denn mit der Reformation zu tun hat, die wir heute feiern? - Reformation heißt ja nichts anderes, als sich neu ausrichten, sich verändern, neu anfangen, umkehren ... Reformation heißt aber ganz gewiss auch, dass uns Gott bei dieser manchmal schweren Neuorientierung und allen Veränderungen - nach seinem Willen - begleitet. AMEN