Predigt zum Altjahrsabend - 31.12.2004

[Lassen wir uns einstimmen in die Gedanken dieser Predigt durch einen Vers aus dem Predigttext zu diesem letzten Tag des Jahres:

Textlesung: Jes. 30, 15 (16 - 17)

Denn so spricht Gott der HERR, der Heilige Israels: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. (Aber ihr wollt nicht und sprecht: »Nein, sondern auf Rossen wollen wir dahinfliehen«, - darum werdet ihr dahinfliehen, »und auf Rennern wollen wir reiten«, - darum werden euch eure Verfolger überrennen. Denn euer tausend werden fliehen vor eines einzigen Drohen; ja vor fünfen werdet ihr alle fliehen, bis ihr übrigbleibt wie ein Mast oben auf einem Berge und wie ein Banner auf einem Hügel.)

Liebe Gemeinde,

ich möchte ihnen heute Abend ein Bild vor Augen malen, das Bild eines Hauses mit vielen Türen und vielen Zimmern, die hinter diesen Türen liegen ...

Es ist das Bild unseres Lebens, das ich ihnen male: Wir gehen seit unserer Geburt und Kindheit durch dieses Haus mit den vielen Räumen, wir öffnen eine Tür nach der anderen, 60, 70, 80 oder gar 90 mal tut sich eine neue Tür auf ... wenn Gott will.

Wir durchschreiten die unbekannten Zimmer dahinter. Wir nehmen in uns auf, was jeder Raum an Schönem und Schwerem für uns bereithält. Wir halten uns ein ganzes Jahr in ihm auf und stehen dann, wenn wir alles im Zimmer kennen gelernt und erfahren haben, vor einer weiteren Tür.

Heute soll sie sich öffnen. Aber wir zögern noch. Was werden wir sehen, wenn sich der Türspalt weitet? Wird der neue Raum Glück und Freude bereithalten? Wird Trauer und Schmerz auf uns warten? Wem werden wir begegnen? Von wem werden wir Abschied nehmen müssen? Und die bedrängendste Frage: Wird auf der anderen Seite des Zimmers für uns noch eine Tür sein?

Schauen wir uns, bevor wir die nächste Tür öffnen und über die Schwelle gehen, noch einmal in dem Zimmer um, das wir jetzt verlassen wollen. Es ist gut, wenn man den Blick noch einmal schweifen lässt und noch dies und das der Erinnerung einprägt und vielleicht in Gedanken mitnimmt oder geordnet zurücklässt, bevor man das Neue betritt.

Ganz hinten, auf der anderen Seite des Raums, den wir verlassen wollen, stehen all die guten Vorsätze, die wir vor 12 Monaten fassten. Dies und das wollten wir lassen. Diesen oder jenen wollten wir besuchen. Ja - so war es unser wichtigster Vorsatz - unser ganzes Lebens sollte mehr Tiefe bekommen. - Was ist wahr geworden davon?

Wir hatten vor, mehr aus dem Wort Gottes heraus zu leben, zu denken, zu arbeiten und zu entscheiden ... Wir wollten ihm, unserem Gott, endlich bei uns mehr Platz und mehr Bedeutung einräumen. So wie es ihm ja auch zusteht. Das wirklich Wesentliche sollte uns groß werden und nicht so sehr die eigenen Interessen, die äußerlichen Dinge, der Kram dieser Welt ...

Unseren Eigensinn wollten wir zurückdrängen, unsere ewige Ichsucht ... Ein bisschen mehr für andere leben wollten wir, Frucht tragen für die Nächsten, die Menschen in unserer Nähe und in der Ferne auch. Was hat sich davon erfüllt? Was hat uns wirklich von diesen Vorsätzen durch die vergangenen 365 Tage bestimmt und begleitet? - - -

Dort drüben, ganz im Licht des Raumes, erkennen wir auch all die frohen Erlebnisse des vergangenen Jahres; die hat es ja auch gegeben. Die gelungenen Stunden, die Freude, das Glück: Die Erfahrungen der Liebe zu einem Menschen, die guten Worte, die wir gewechselt haben, die Hilfe, die uns zuteil wurde, der überraschend gute Ausgang einer Sache, die uns erst so viel Sorgen gemacht hat. Die Zusage, die unsere berufliche Zukunft öffnete, das gesunde Kind, der Enkel, der uns geschenkt wurde ...

Dorthin, wo all diese schönen Dinge stehen, schauen wir gern. Das hat uns froh gestimmt, unser Herz leicht und frei gemacht. Tage waren das, an denen wir gern lebten und glücklich waren. - Haben wir eigentlich immer für alles gedankt, was wir da empfangen durften? War uns das ein Lob des Gebers aller guten Gaben wert, oder ist uns vieles davon nicht als unser eigenes Verdienst erschienen? Erfolge, die uns doch zustanden, unsere Arbeit, unsere Leistung!

Und wenn es doch anders war bei uns, wo hat uns die Dankbarkeit so bewegt, dass wir dann weitergeschenkt haben, was wir erhalten hatten? - Aber hat der Geber aller guten Gaben nicht das bei uns erreichen wollen: Dass wir weiterschenken, was er uns gibt? Ja, waren wir ihm das nicht eigentlich schuldig, dem Gott aller Güte, dem Herrn unseres Lebenshauses, dem Herrn jedes Raumes darin, den wir durchschreiten, dem Herrn unserer Jahre? - - -

Da drüben, an jene düstere Wand, haben wir all die schlimmen, belastenden Erlebnisse des vergehenden Jahres gestellt. Dorthin zu blicken fällt uns nicht leicht. Das war die schwere Zeit, in der es uns so schlecht ging, wo wir nicht wussten, wie es weitergehen sollte, als es uns fast die Luft abgedrückt hat und unser Glaube bald dem Zweifel gewichen wäre. Dort sind auch all die bösen Momente des vergangenen Jahres: Die Minuten der Angst, die Stunden der Schwermut, die Augenblicke des Ärgers, des Zorns, der Wut ...

In jedem Raum, den wir bis heute durchmessen haben, blieb auch Schlimmes und Dunkles zurück. Immer war das so. Aber: Wollten wir nicht auch das Schwere aus der Hand Gottes nehmen? Wollten wir nicht alles, was uns widerfährt, vor ihm bedenken, seine Stimme darin hören, die Winke seiner Hand erkennen? Und wollten wir nicht alles, was wir erleben, auch im Gebet vor ihm ausbreiten, vor seinem Wort prüfen und darin Hilfe und Weisung empfangen? - Wie viel von alledem, was wir vorhatten im vergangenen Jahr, ist wahr geworden? Oder ... wie wenig?

Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.

Wieder stehen wir an einer neuen Tür. Bald soll sie sich auftun. Was werden wir hinter ihr erblicken?

Es wird auch von uns selbst abhängen, was uns der neue Raum bringt. Immer war es ja unsere Trägheit, dass "Umkehr" nicht gelungen ist. Unser rasches Vergessen, wenn Vorsätze, die wir doch hatten, nicht Wirklichkeit wurden. Immer ist es ja unser Undank, unser Stolz gewesen, wenn wir kein Lob des gütigen Gebers über die Lippen brachten. Und immer war es unser starres Beharren: "Ich lebe von dem, was ich selbst leiste!", wenn wir nicht "still vor Gott" geworden sind, die Hände nicht gefaltet und auf seine Stimme geachtet haben.

Ja, wir haben den Raum, den wir jetzt verlassen, mitgestaltet. Was jetzt zurückbleibt - viel, ja, das meiste daran, ist unser Werk und Wollen gewesen. Auch unsere Schuld, die uns jetzt so anhängt, dass wir sie kaum zurücklassen können - durch uns gemacht, von uns begangen! Gewiss, viel tritt uns entgegen in so einem "Lebens-raum", viel ist Geschick, viel kommt aus Gottes Hand und aus seinem Plan. Aber es trifft auf unser Wollen, unsere Freiheit, die wir ja auch sehr wohl behaupten! Und dabei entsteht dann das Böse, das gottlose Tun, die Schuld ...

Und so wird es hinter der nächsten Tür wieder sein: Wir werden Dinge, Erfahrungen und Erlebnisse vorfinden - aber wir werden es sein, die mit ihnen umgehen, ihnen begegnen und mit ihnen fertig werden müssen. Und wir können das im Glauben, im gehorsamen Vertrauen, im Hoffen auf Gott - oder wir werden es wieder selbst machen wollen, aus eigener Stärke, ohne nach Gott zu fragen.

Alles ist noch unbestimmt und offen hinter der Schwelle zum Neuen. Nichts ist schon festgelegt. Wir werden mitspielen, mitarbeiten, mitwirken ... Aber das eine steht fest: "...durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein." Der Herr des Hauses, der uns in seiner Güte heute nacht einen neuen Lebens-raum öffnet, will bei allem mit dabei sein! Er bietet uns heute seine Hand zur Begleitung an. Er schenkt uns heute neue Möglichkeiten, neue Chancen, einen neuen Anfang.

Das kann nun das Jahr werden, in dem Vorsätze wahr und wirklich werden: Heute können wir den ersten Schritt in eine Zukunft tun, in der wir in Dank und Bitte des täglichen Gebets vor ihm leben. Das kann das Zimmer unseres Hauses werden, in dem wir die tiefsten Erfahrungen machen, die wesentlichen Entscheidungen treffen, die beglückendsten Erlebnisse haben. Alles ist noch offen hinter der Tür. Es kommt so viel darauf an, was wir mit dem, was wir vorfinden, tun, mit welcher Haltung wir ihm begegnen. Stillesein vor Gott, die feste Hoffnung auf ihn werden uns helfen!

Wir haben die Klinke schon in der Hand. Bald werden wir sie herunterdrücken. Lasst uns jetzt alles, was uns so befangen und ängstlich macht, an der Schwelle ablegen: die Zweifel, ob es wohl im kommenden Jahr besser werden kann mit uns und unserem Leben. Die furchtsamen Erwartungen, was der neue Raum wohl an Schwerem und Bedrängendem bereithalten mag. Auch das Urteil über uns selbst: Wie soll ich denn "umkehren", ich kann mich doch nicht mehr ändern. Auch die Schuld, die wir im vergangen Jahr aufgehäuft haben. Gott vergibt sie uns.

Lassen wir das alles jetzt an der Schwelle abfallen von uns. Es soll uns nicht mehr belasten. Wir sind frei! Wir treten ein in den neuen Raum unseres Lebens und danken Gott: 365 Tage misst das Zimmer. An jedem Tag will Gott mit uns sein vom Morgen bis zum Abend. Mit ihm können wir den neuen Raum ganz getrost betreten und durchschreiten. Ihm gehört das ganze Haus. Aber er hat es uns überlassen für die Jahre unseres Lebens. Es wird an uns liegen, ob wir ihm den Platz darin geben, der ihm zusteht! Wo er mit uns lebt und arbeitet, da weicht alle Furcht. Es ist ein sicheres Gehen an seiner Seite. Auch unsere Schuld, die wir uns immer wieder aufladen, schleppen wir nicht allein. Gott nimmt sie uns ab in Jesus Christus, wenn wir ihn bitten. Auch wenn wir im kommenden Jahr dunkle Stunden erfahren müssen, werden wir nicht allein sein. Mit Gottes Hilfe können wir alles bestehen, was uns erwartet. Und selbst wenn wir aus diesem Haus in ein anderes gehen müssen, verlässt er uns nicht. Er begleitet uns und hat das neue Haus schon bereitet - durch Jesus Christus, unseren Herrn. Wenn ihr umkehrt und stille bleibt, wird euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen werdet ihr stark sein. AMEN