Predigt zum 2. Adventssonntag - 5.12.2004

Liebe Gemeinde!

Heute habe ich mich fast nicht getraut, ihnen so, wie es ja meistens ist, gleich am Anfang den Predigttext zuzumuten. Ja, am liebsten würde ich uns den heute ganz ersparen, so hart und schmerzhaft deutlich ist er. Auf der anderen Seite aber ist er auch so wahr - darum glaube ich, wir dürfen ihn nicht aussparen, auch wenn er ganz und gar nicht erbaulich ist und (nicht nur auf den ersten Blick!) eher bedrückend. Und das schlimmste ist vielleicht, wir müssten nur ein paar Wörter austauschen und kein Mensch würde mehr merken, dass dieser Text 2000 Jahre alt ist, so aktuell ist er! - Aber nun genug der Vorbereitung. Wir hören auf Worte aus dem Matthäusevangelium, Kap. 24, die Verse 1 - 14:

Textlesung: Mt. 24, 1 - 14

Und Jesus ging aus dem Tempel fort, und seine Jünger traten zu ihm und zeigten ihm die Gebäude des Tempels. Er aber sprach zu ihnen: Seht ihr nicht das alles? Wahrlich, ich sage euch: Es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde. Und als er auf dem Öl- berg saß, traten seine Jünger zu ihm und sprachen, als sie allein waren: Sage uns, wann wird das geschehen? Und was wird das Zeichen sein für dein Kommen und für das Ende der Welt? Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Seht zu, daß euch nicht jemand verführe. Denn es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin der Christus, und sie werden viele verfüh- ren. Ihr werdet hören von Kriegen und Kriegsgeschrei; seht zu und erschreckt nicht. Denn das muß so geschehen; aber es ist noch nicht das Ende da. Denn es wird sich ein Volk gegen das andere er- heben und ein Königreich gegen das andere; und es werden Hungersnöte sein und Erdbeben hier und dort. Das alles aber ist der Anfang der Wehen. Dann werden sie euch der Bedrängnis preisge- ben und euch töten. Und ihr werdet gehaßt werden um meines Namens willen von allen Völkern. Dann werden viele abfallen und werden sich untereinander verraten und werden sich untereinan- der hassen. Und es werden sich viele falsche Propheten erheben und werden viele verführen. Und weil die Ungerechtigkeit überhandnehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten. Wer aber beharrt bis ans Ende, der wird selig werden. Und es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann wird das Ende kommen.

Liebe Gemeinde, nein, ich werde mich nun nicht unter die Christen einreihen, die zu allen Zeiten der Kirchengeschichte gefragt haben, wie es hier die Jünger tun: Sage uns, wann wird das geschehen? Denn mindestens das können wir ja den schrecklichen Bildern entnehmen, die Jesus hier malt, und der Tatsache, wie erschreckend aktuell sie sind, dass sie damals wie heute keinen Hinweis darauf geben, wann das Weltende kommt. Wir wollen uns ein für alle Mal das dazu sagen lassen und zu Herzen nehmen, was wir nur ein paar Verse weiter im Evangelium lesen: "Von dem Tage aber und von der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater" (Mt. 24,36).

Ich möchte lieber darüber reden, was Jesus als den "Anfang der Wehen" bezeichnet, und was heute genau wie damals jede und jeder von uns an jedem Tag erfahren kann und erfährt. Ich finde, das sind erschütternde Dinge - und sie sind leider wahr: "Dann werden viele abfallen...", sagt Jesus.

Oft habe ich schon gedacht: Ach, wenn es doch nur bald zu Ende ginge mit dieser Welt! Und gar nicht, weil ich den Bösen endlich gönnen möchte, was ihnen gebührt. Ich mache mir vielmehr darum Sorgen, dass die Menschen unserer Tage sich so leicht in einer Welt einrichten, in der Gott und der Glaube an Jesus Christus keine Rolle mehr spielen, nicht die geringste. Wie wenig Interesse finden doch unsere Gottesdienste übers Jahr. Wie gering war doch der Widerstand, als uns der Staat den Buß- und Bettag genommen hat. Und wie schnell werden auch die Proteste wieder verstummen, wenn man uns im nächsten Jahr wohl den Oster- oder Pfingstmontag zum Arbeitstag machen wird. Es ist doch einfach so: Der christliche Hintergrund dieser Feste ist auch bei den meisten Kirchenmitgliedern schon lange verloren. Wer sagt noch "Christi Himmelfahrt" zum "Vatertag"? Und wie viele Besucher unserer Christvespern kommen wohl darum, weil sie wieder einmal die beste Botschaft der Welt hören wollen und nicht in erster Linie deshalb, weil ihre Kinder oder Enkel beim Krippenspiel mitwirken?

Aber es ist ja nicht nur im öffentlichen Leben der Kirche so. Auch was den persönlichen Glauben angeht, müssen wir die Erfahrung machen, dass viele "abfallen": Wer wagt es, in der Werkskantine vor dem Essen die Hände zu falten? Wo ist Gott in unseren Alltagsgesprächen? Wer ruft nach erfahrener Bewahrung "Gott sei Dank" und meint es wirklich ernst damit und vor allem, wer lässt sich dann seinen Dank irgend etwas kosten - und wenn es nur ein Gebet oder ein Kirchgang wäre? Und nicht zuletzt müssen wir auch noch davon reden: In wie vielen Elternhäusern wird heute in der Erziehung noch ein christliches Fundament für ein ganzes Leben gelegt? Welcher Vater, welche Mutter hat noch den Mut, ihren Glauben und ihre Hoffnung an die Kinder weiterzugeben? Wo werden wenigstens zu den Festzeiten des Kirchenjahres noch echte christliche Bräuche gehalten und gelebt?

"Und es werden sich viele falsche Propheten erheben und werden viele verführen", sagt Jesus. Und auch das können wir in unserer Zeit zunehmend beobachten: Die ungebrochene Faszination fernöstlicher Religionen und der so genannten Jugendsekten ist ein Beispiel für diese Verführung. Oder die Esoterik mit dem Angebot eines Flickenteppichs aller möglichen religiösen, psychologischen und sogar medizinischen Heilsversprechen. Wenn erst der Platz im Herzen der Menschen frei geworden ist, an dem früher das christliche Gottesbild hing, dann wird dort sehr bald ein anderes aufgehängt. Wir scheinen die Leere nicht zu ertragen, die entsteht, wenn wir dem Glauben an den Vater Jesu Christi abgeschworen haben. Oft genug sind die "falschen Propheten" aber auch ganz weltlich, tragen nicht einmal einen religiösen Mantel: Sie rufen uns z.B. auf den Weg zu Macht und Karriere. Sie preisen uns den Sport, die körperliche Fitness oder die gesunde Ernährung als die Erlösung aus allen irdischen Sorgen und Lebensängsten an. Sie reden uns ein, wenn wir nur mehr leisten, uns leisten können und mehr konsumieren, dann wäre ein glückliches Leben garantiert. Immer mehr und immer wieder aber geht es so aus: Wir haben alles, wir sind "jemand", es fehlt äußerlich an nichts - bloß im Inneren sind wir leer geblieben, ohne Halt, ohne Mitte, unerfüllt und gefangen in einem sinnlosen Immer-so-weiter. Und am Ende steht der kalte Tod und die Angst vor ihm. Und es gibt meist keinen Weg mehr zurück zu dem, der von sich sagt: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Jh. 14,6). Zu weit hat man sich schon von ihm entfernt. Zu weit liegen die Zeiten zurück, in denen uns Gottes Wille und Wort noch etwas bedeutet haben. Verblasst oder ganz vergessen ist alles, womit wir einmal von ihm beschenkt und begnadet wurden ...

Schließlich hören wir noch das aus Jesu Mund, was mich persönlich am meisten erschüttert: "Und weil die Ungerechtigkeit überhand nehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten." Ich denke dabei an so viele Menschen, die ich immer wieder so oder ähnlich sprechen höre: Wer schenkt denn mir irgend etwas? Ich werde auch nichts mehr für andere tun! - Wenn du zu freundlich zu den Leuten bist, dann wirst du doch nur ausgenutzt! - Vielleicht war ich früher ja einmal anders, aber immer zurückzustecken lohnt sich einfach nicht. Jeder muss sehen, wo er bleibt!

Warum mich das so erschüttert? Weil es mir scheint, als wäre Ungerechtigkeit und darum die Kälte und Lieblosigkeit gerade in den letzten Jahren stark auf dem Vormarsch! Sicher hat das damit zu tun, dass unser Staat das "soziale Netz" immer großmaschiger gestaltet, so dass immer mehr Menschen - und gerade die Alten, Kranken und die Schwächsten der Gesellschaft hindurch fallen. Und das wird sich im nächsten Jahr, wenn die neuen Gesetze um "Hartz IV" greifen, noch einmal dramatisch verschlechtern. Aber müssten wir als Christen nicht noch etwas anderes wissen, als angesichts ungerechter Verhältnisse mit den Achseln zu zucken und dann, wenn wir selbst sie erleiden müssen, unser Herz in Lieblosigkeit zu verhärten? Menschen, die vom Kampf um ein würdiges Leben und manchmal buchstäblich ums Überleben gebeutelt werden, brauchen vor allem eines: Liebe und Solidarität und das Gefühl, ich bin nicht allein. Wir sind gefordert, ihnen das entgegenzubringen - und dass es uns selbst vielleicht nicht besser geht ist durchaus keine Entschuldigung dafür, sich den anderen zu entziehen, die sind nämlich unsere Schwestern und Brüder!

Jetzt haben wir so vieles gehört, was uns sicher nicht so gefallen hat, was uns fordert und unbequem ist, was uns verändern und verwandeln will zu Menschen, die Gott mit uns gemeint hat und die etwas davon wissen, dass Jesus Christus für sie gestorben ist. Und da wollen wir jetzt noch einmal auf sein Wort an uns heute hören: "Wer aber beharrt bis ans Ende, der wird selig werden."

Liebe Gemeinde, ich kann mich dazu bekennen, dass ich diesen Gedanken ungemein tröstlich finde: Wir werden einmal die Seligkeit erlangen! Ich höre das nicht als Vertröstung aufs Jenseits, sondern als Ermutigung für ein Leben und ein Wirken an und unter den Menschen, das nicht abhängig ist vom "Erfolg", nicht von dem, was die Leute reden oder von uns halten und auch nicht von unserer eigenen Kraft. "Wer aber beharrt bis ans Ende, der wird selig werden." Diese Verheißung ist allein abhängig von dem, der sie uns zuspricht. Und auf den ist Verlass. Das Vertrauen zu ihm kann uns in aller Enttäuschung, allen bösen Erfahrungen, allem Leid und allen Ängsten eine große Freude und Geborgenheit schenken. Im Glauben an ihn, Jesus Christus, der uns heute schon drüben eine Wohnung bereitet hat, liegt der Halt und die Mitte, liegen Kraft und Ausdauer, Geduld und Beharrlichkeit ... Mit ihm an der Seite können wir unser Leben bestehen und anderen Menschen zum Zeugnis werden, wer unser Herr ist. Da mag das Ende der Welt Morgen kommen, oder erst in 1000 Jahren.