Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis - 17.10.2004

Textlesung: Eph. 4, 22 - 32 Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind. Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen, und gebt nicht Raum dem Teufel. Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann. Laßt kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören. Und betrübt nicht den heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung. Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit. Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.

Liebe Gemeinde!

Was soll ich da noch sagen? Einmal ist es ja nun wirklich genug, was uns hier an Forderungen vorgelegt wird: Erneuert euren Geist und Sinn, legt ab die trügerischen Begierden, lügt nicht, redet die Wahrheit, sündigt nicht, stehlt nicht und zürnt nicht ... Und was wir sonst noch alles tun bzw. lassen sollen. Zum andern aber wird sich jede und jeder von uns doch bei jeweils anderen Fehlern oder Versäumnissen an der Nase gepackt gefühlt haben. Und das auch ohne, dass ich den ganzen Katalog noch einmal im einzelnen durchgehe. Mir ist ein Satz mehr am Ende der Laster- bzw. Tugendliste nahe gegangen. Der hat mich berührt und über ihn möchte ich gern sprechen: Betrübt nicht den heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung.

Vielleicht hört und spürt man das nicht gleich, aber da ist eine ganze Menge drin! Wir können den heiligen Geist "betrüben" ... Mir fiel dabei ein, dass wir Gott ja unseren Vater nennen. Und da denke ich jetzt ganz kindlich: Unser himmlischer Vater wird traurig, wenn wir stehlen, faule, also überflüssige oder verletzende Worte sagen, oder wenn wir unserem Mitmenschen über den Sonnenuntergang, d.h. den heutigen Tag hinaus zürnen und ihm so nicht vergeben, vielmehr seine Schuld behalten! Und wie von selbst stellen sich da ja noch andere Gedanken ein: Gott, unser Vater, ist traurig über uns, weil wir unseren Geschwistern gegenüber so sind: Wir kränken den Bruder - denn wir haben den einen Vater! Wir tun der Schwester Böses - sie gehört ja wie wir in die selbe Familie!

Es mag ja sein, wir Menschen dieser Zeit tun uns schwer mit dieser Vorstellung: Ein Vater, eine Familie, wir alle Geschwister ... Denn eigentlich ist doch in unserer Gesellschaft genau der gegenteilige Trend zu beobachten. Immer mehr treiben wir das Eigene: Unser Haus soll größer sein als das des Nachbarn, das Auto schneller, der Verdienst höher und die Kinder sollen es weiter bringen als die der anderen. "Individualismus" nennen das die Gesellschaftsforscher. Das mag für die noch jüngeren Menschen ein Lebensziel sein, wenn wir älter werden, empfinden wir diese Haltung meist gar nicht mehr so erstrebenswert. Dann fühlen wir uns nur noch einsam, dann sind wir allein und würden gern ein Stück davon zurückholen, dass wir in die Familie Gottes gehören - auch mit denen, die nicht unsere leiblichen Geschwister, Kinder oder Enkel sind.

Ich finde jedenfalls, dass es sich auch für die noch jüngeren Leute lohnt, darüber nicht nur nachzudenken, sondern auch ein paar Änderungen des eigenen Verhaltens zu versuchen: Einmal vorsichtig sein mit allem, was unsere Mitmenschen bedrückt, ärgert, betrübt, herabsetzt ... Wir haben es vor Gott bei ihnen mit der Schwester und dem Bruder zu tun! Dann sollten wir auch einmal sozusagen von der anderen Seite her kommen: Wenn wir uns bemühen, die Mitmenschen als Geschwister zu achten, wird ihnen das sicher leichter fallen, auch uns als solche zu sehen und zu behandeln. Wenn wir uns als Christen auch fast nicht trauen, es einmal so zu betrachten, aber das alte Sprichwort bleibt auch für uns wahr: Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus! Und ich könnte nicht sagen, dass diese Wahrheit so ganz unchristlich wäre!

Was uns bei diesen Gedanken und diesem Verhalten vielleicht noch helfen kann, ist dies: Es ist ja nicht nur so, dass Gott unser Vater ist, spätestens auf Golgatha ist sein Sohn Jesus Christus unser Bruder geworden! Sollten da alle, die an ihn glauben, nicht Geschwister sein? Eben nicht nur ferne Verwandte, nein, wirklich Brüder und Schwestern! Und wie könnte ich diese z.B. bestehlen, sie beschweren mit übler Nachrede oder ihnen nicht vergeben, wenn unser Bruder Christus ihnen doch - wie mir selbst auch! - alle Schuld erlassen hat?

Und das führt uns zu dem zweiten Teil dieses Wortes: Betrübt nicht den heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung.

"Versiegelt" sind wir! Da ist also etwas in uns, das können wir nicht mehr verlieren! Das ist unser bleibender, ja, ewiger Besitz! Denn es geht um den "Tag der Erlösung". Und da denken wir Christen an die Heimkehr zum Vater, an die Auferstehung und den Eintritt in unsere ewige Wohnung, in der wir erlöst von allen Beschwerden dieses Lebens, ohne Krankheit und Behinderung, ohne Krieg und Hass, ohne Leid und Tränen für immer zu Hause sein werden.

Noch einmal: "Versiegelt" sind wir für diesen Tag! Keiner kann uns diese Zukunft nehmen! Der Heilige Geist Gottes, unseres Vaters, hat es so für uns bestimmt - durch Jesus Christus unseren Herrn und Bruder.

Gewiss, jetzt könnten wir sagen, wenn mir das niemand und nichts mehr nehmen kann, was soll ich mich dann an diese Tugenden halten: Die Wahrheit sagen, gerecht und gut sein, reden und tun, was erbaut ... Ja, das könnten wir sagen! Unser himmlischer Vater hat in seinem Sohn Jesus Christus ein für allemal riskiert, zurückgewiesen, nicht wieder geliebt zu werden und er hat es unserem Willen überlassen, ob wir ihm die "Erlösung" und die Aussicht des ewigen Lebens danken. Darum auch heißt es hier nur: "Betrübt nicht den heiligen Geist..." und nicht: Zieht nicht den Zorn Gottes auf euch, der euch die verheißene Erlösung auch verweigern kann! - So ist der Vater nicht!

Aber ich frage mich dabei, ob wir so sein können: Überschüttet mit guten Gaben, eingehüllt von Erweisen der Liebe und des Wohlwollens unseres Vaters, all unsere Schuld durch Christus vergeben, ein ewiges Leben in Gottes Herrlichkeit vor Augen ... Und wir sollten nun mit unserer Liebe zu Gott und den Menschen knausern? Wir sollten so rechnen und berechnend sein: Wenn mir der Himmel doch nicht mehr zu nehmen ist, dann will ich auch auf Erden schon alles haben, alles genießen und das mit allen Mitteln und ohne einen Gedanken an die Mitmenschen zu verschwenden? - Wer kann so sein? Ich glaube, unser himmlischer Vater hat uns mehr zugetraut. Vielleicht kann man es so sagen: Ich habe dich, Menschenkind, so geliebt, so begnadet, so überhäuft mit Gutem, dass du jetzt so reich bist, so voll von Güte und Freude, dass du wie ein überfließender Brunnen Liebe verströmen und teilen wirst, was du besitzt, was du kannst, glaubst und hoffst - an deine Schwestern, die dich brauchen, an deine Brüder, die deine Gaben nötig haben.

Zu allem Überfluss ist nun noch ein Geheimnis in solchem Tun verborgen - aber davon wissen nur die, durch deren Herz die überfließende Liebe Gottes gegangen ist, um sich durch uns und aus uns zu den anderen Menschen hin zu verteilen: Das macht Freude! So viele Augen werden wir sehen, in denen ein Glanz der Dankbarkeit liegt. So manches Wort werden wir hören, das von neuem Mut und Hoffnung spricht. Und wir selbst werden dabei nicht ärmer werden, sondern reich: Nichts von dem verzehrt sich, was wir von Gottes Güte weiterreichen. Keine einzige Gabe ist für uns selbst verloren, wenn wir sie an andere weitergegeben haben. Alles wird uns wunderbar aufgefüllt. Eben wie das Wasser in der Brunnenschale, wenn es an den Rändern überströmt ... Und manchmal dürfen wir es erleben, wie die Kette des Nehmens und Gebens mit uns wächst und sich fortsetzt: Was Gott uns gibt, schenken wir weiter. Was wir weiterschenken, füllt den Herzensvorrat unserer Mitmenschen und fließt aus ihnen wieder über zu den anderen ...

Lasst uns aus Gottes Liebe den Anfang machen: Zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Seid untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.