Predigt am 18. Sonntag nach Trinitatis - 10.10.2004

Textlesung: Röm. 14, 17 - 19

Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist. Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig und bei den Menschen geachtet. Darum laßt uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.

Liebe Gemeinde!

Das ist schon klar, dass hier mit "Essen" nicht nur Brot, Wurst, Käse, Gemüse oder Salat gemeint ist. Und bei "Trinken" denkt Paulus gewiss nicht nur an Wasser, Kaffee, Tee oder Bier, zumal mindestens zwei dieser Getränke zu seiner Zeit noch gar nicht bekannt gewesen sind. "Essen und Trinken" - das ist alles, was unseren äußeren Leib erhält, was er braucht und ihm Freude macht. - So gesehen, hört sich das jetzt doch ziemlich leibfeindlich an und so, als wollte uns der Apostel den Spaß am Leben verderben: Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist. - Aber meint er es auch so?

Es kann ja in den drei Sätzen, die uns heute gesagt sind, nicht viele Hinweise geben, wie er es wohl gemeint hat, aber einen gibt es ganz sicher: Darum laßt uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander. Es scheint fast so, als wäre das für Paulus ein Gegensatz: Essen und Trinken, alles, was wir für unseren Leib tun - und der Friede und die Gemeinschaft unter den Menschen. Oder anders gesagt: Alles, was sich um unser äußeres Lebend dreht, steht oft genug unseren guten Beziehungen zu den Menschen im Wege! Und ich muss sagen: Da hat Paulus wohl recht!

Ich habe dazu eine Geschichte gefunden, die ist zwar etwas lang, ich will sie aber aus drei Gründen dennoch - ein wenig gekürzt! - hier erzählen: Einmal trifft sie haargenau, was Paulus uns heute sagen will. Dann ist sie äußerst interessant und verblüffend. Und schließlich wird sie unseren (Konfirmanden und) jungen Leuten gut gefallen, denn sie handelt von einem Jugendlichen, der ist in eurem Alter und euch darum sicher nicht fremd:

Heinz war bald vierzehn und fühlte sich sehr cool. In der Klasse und auf dem Fußballplatz hatte er das Sagen. Aber richtig schön würde das Leben erst werden, wenn er im nächsten Jahr seinen Töff bekam und den Mädchen zeigen konnte, was für ein Kerl er war. Im (Schul-)unterricht machte er gerne auf Verweigerung. Der Lehrer sollte bloß nicht auf den Gedanken kommen, dass er sich anstrengte. Mittags konnte er nicht nach Hause, weil der eine Bus zu früh, der andere zu spät abfuhr. So aß er im Selbstbedienungsrestaurant, gleich gegenüber der Schule. Aber an manchen Tagen sparte er lieber das Geld und verschlang einen Hamburger an der Stehbar. Samstags leistete er sich dann eine neue CD, was die Mutter natürlich nicht wissen durfte. Doch manchmal - so wie heute - hing ihm der Big Mac zum Hals heraus. Er hatte Lust auf ein richtiges Essen. Einen Kaugummi im Mund, stapfte er mit seinen Cowboystiefeln die Treppe zum Restaurant hinauf. Die Reißverschlüsse seiner Lederjacke klimperten bei jedem Schritt.

Viel Geld wollte Heinz nicht ausgeben; er sparte es lieber für die nächste CD. „Italienische Gemüsesuppe" stand im Menü. Warum nicht? Immer noch seinen Kaugummi mahlend, nahm Heinz ein Tablett und stellte sich an. Ein schwitzendes Fräulein schöpfte die Suppe aus einem dampfenden Topf. Heinz nickte zufrieden. Der Teller war ganz ordentlich voll. Eine Schnitte Brot dazu, und er würde bestimmt satt. Er setzte sich an einen freien Tisch, nahm den Kaugummi aus dem Mund und klebte ihn unter den Stuhl. Da merkte er, dass er den Löffel vergessen hatte. Heinz stand auf und holte sich einen. Als er zu seinem Tisch zurückstapfte, traute er seinen Augen nicht: Ein Schwarzer saß an seinem Platz und aß seelenruhig seine Gemüsesuppe!

Heinz stand mit seinem Löffel fassungslos da, bis ihn die Wut packte. Zum Teufel mit diesen Asylbewerbern! Der kam irgendwo aus Uagadu-gu, wollte sich in Europa breit machen, und jetzt fiel ihm nichts Besseres ein, als ausgerechnet seine Gemüsesuppe zu verzehren! Schon möglich, dass so was den afrikanischen Sitten entsprach, aber hierzulande war das eine bodenlose Unverschämtheit! Heinz öffnete den Mund, um dem Menschen lautstark seine Meinung zu sagen, als ihm auffiel, dass die Leute ihn komisch ansahen. Heinz wurde rot. Er wollte nicht als Rassist gelten. Aber was nun? Plötzlich fasste er einen Entschluss. Er räusperte sich vernehmlich, zog einen Stuhl zurück und setzte sich dem Schwarzen gegenüber. Dieser hob den Kopf, blickte ihn kurz an und schlürfte ungestört die Suppe weiter. Heinz presste die Zähne zusammen, dass seine Kinnbacken schmerzten. Dann packte er energisch den Löffel, beugte sich über den Tisch und tauchte ihn in die Suppe. Der Schwarze hob abermals den Kopf. Sekundenlang starrten sie sich an. Heinz bemühte sich, die Augen nicht zu senken. Er führte mit leicht zitternder Hand den Löffel zum Mund und tauchte ihn zum zweiten Mal in die Suppe. Seinen vollen Löffel in der Hand, fuhr der Schwarze fort, ihn stumm zu betrachten. Dann senkte er die Augen auf seinen Teller und aß weiter. Eine Weile verging. Beide teilten sich die Suppe, ohne dass ein Wort fiel. Heinz versuchte nachzudenken. „Vielleicht hat der Mensch kein Geld, muss schon tagelang hungern. Dann sah er die Suppe da stehen und bediente sich einfach. Schon möglich, wer weiß? Vielleicht würde ich mit leerem Magen ähnlich reagieren? Und Deutsch kann er anscheinend auch nicht, sonst würde er ja nicht dasitzen wie ein Klotz. Ist doch peinlich. Ich an seiner Stelle würde mich schämen. Ob Schwarze wohl rot werden können?"

Das leichte Klirren des Löffels, den der Afrikaner in den leeren Teller legte, ließ Heinz die Augen heben. Der Schwarze hatte sich zurückgelehnt und sah ihn an. Heinz konnte seinen Blick nicht deuten. In seiner Verwirrung lehnte er sich ebenfalls zurück. Schweißtropfen perlten auf seiner Oberlippe, sein Pulli juckte, und die Lederjacke war verdammt heiß! Er versuchte, den Schwarzen abzuschätzen. „Junger Kerl. Etwas älter als ich. Vielleicht sechzehn oder sogar schon achtzehn. Normal angezogen: Jeans, Pulli, Windjacke. Sieht eigentlich nicht wie ein Obdachloser aus. Immerhin, der hat meine halbe Suppe aufgegessen und sagt nicht einmal danke! Verdammt, ich habe noch Hunger!" Der Schwarze stand auf. Heinz blieb der Mund offen. „Haut der tatsächlich ab? Jetzt ist aber das Maß voll! So eine Frechheit! Der soll mir wenigstens die halbe Gemüsesuppe bezahlen!" Er wollte aufspringen und Krach schlagen. Da sah er, wie sich der Schwarze mit einem Tablett in der Hand wieder anstellte. Heinz fiel unsanft auf seinen Stuhl zurück und saß da wie ein Ölgötze. „Also doch: Der Mensch hat Geld! Aber bildet der sich vielleicht ein, dass ich ihm den zweiten Gang bezahle?" Heinz griff hastig nach seiner Schulmappe. „Bloß weg von hier, bevor er mich zur Kasse bittet! Aber nein, sicherlich nicht. Oder doch?" Irgendwie wollte er wissen, wie es weiterging.

Der Schwarze hatte einen Tagesteller bestellt. Jetzt stand er vor der Kasse, und - wahrhaftig - er bezahlte! Heinz schniefte. „Verrückt!", dachte er.

Da kam der Schwarze zurück. Er trug das Tablett, auf dem ein großer Teller Spaghetti stand, mit Tomatensoße, vier Fleischbällchen und zwei Gabeln. Immer noch stumm, setzte er sich Heinz gegenüber, schob den Teller in die Mitte des Tisches, nahm eine Gabel und begann zu essen, wobei er Heinz ausdruckslos in die Augen schaute. Heinz' Wimpern flatterten. Heiliger Strohsack! Dieser Typ forderte ihn tatsächlich auf, die Spaghetti mit ihm zu teilen! Heinz brach der Schweiß aus. Was nun? Sollte er essen? Nicht essen? Seine Gedanken überstürzten sich. Wenn der Mensch doch wenigstens reden würde! „Na gut. Er aß die Hälfte meiner Suppe, jetzt esse ich die Hälfte seiner Spaghetti, dann sind wir quitt!" Wütend und beschämt griff Heinz nach der Gabel, rollte die Spaghetti und steckte sie in den Mund. Schweigen. Beide verschlangen die Spaghetti. „Eigentlich nett von ihm, dass er mir eine Gabel brachte", dachte Heinz. „Da komme ich noch zu einem guten Spaghetti-Essen, das ich mir heute nicht geleistet hätte. Aber was soll ich jetzt sagen? Danke? Saublöde! Einen Vorwurf machen kann ich ihm auch nicht mehr. Vielleicht hat er gar nicht gemerkt, dass er meine Suppe aß. Oder vielleicht ist es üblich in Afrika, sich das Essen zu teilen? Schmecken gut, die Spaghetti. Das Fleisch auch. Wenn ich nur nicht so schwitzen würde!"

Die Portion war sehr reichlich. Bald hatte Heinz keinen Hunger mehr. Dem Schwarzen ging es ebenso. Er legte die Gabel aufs Tablett und putzte sich mit der Papierserviette den Mund ab. Heinz räusperte sich und scharrte mit den Füßen. Der Schwarze lehnte sich zurück, schob die Daumen in die Jeanstaschen und sah ihn an. Undurchdringlich. Heinz kratzte sich unter dem Rollkragen, bis ihm die Haut schmerzte. „Wenn ich nur wüsste, was er denkt!"

Verwirrt, schwitzend und erbost ließ er seine Blicke umherwandern. Plötzlich spürte er ein Kribbeln im Nacken. Ein Schauer jagte ihm über die Wirbelsäule von den Ohren bis ans Gesäß. Auf dem Nebentisch, an den sich bisher niemand gesetzt hatte, stand - einsam auf dem Tablett - ein Teller kalter Gemüsesuppe. Heinz erlebte den peinlichsten Augenblick seines Lebens. Am liebsten hätte er sich in ein Mauseloch verkrochen. Es vergingen zehn volle Sekunden, bis er es endlich wagte, dem Schwarzen ins Gesicht zu sehen. Der saß da, völlig entspannt und cooler, als Heinz es je sein würde, und wippte leicht mit dem Stuhl hin und her. „Äh ...", stammelte Heinz, feuerrot im Gesicht. „Entschuldigen Sie bitte. Ich..." Er sah die Pupillen des Schwarzen aufblitzen, sah den Schalk in seinen Augen schimmern. Auf einmal warf er den Kopf zurück, brach in dröhnendes Gelächter aus. Zuerst brachte Heinz nur ein verschämtes Glucksen zu Stande, bis endlich der Damm gebrochen war und er aus vollem Halse in das Gelächter des Afrikaners einstimmte. Eine Weile saßen sie da, von Lachen geschüttelt. Dann stand der Schwarze auf, schlug Heinz auf die Schulter.
„Ich heiße Marcel", sagte er in bestem Deutsch. „Ich esse jeden Tag hier. Sehe ich dich morgen wieder? Um die gleiche Zeit?" Heinz' Augen tränten, sein Zwerchfell glühte, und er schnappte nach Luft. „In Ordnung!", keuchte er. „Aber dann spendiere ich die Spaghetti!"

Liebe Gemeinde, ich finde, das ist eine herrliche Geschichte! Sie bringt die heutige Botschaft auf den Punkt: Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist.

Zunächst steht das "Essen und Trinken" zwischen den beiden jungen Leuten, wie eine Mauer: Wem gehört die Suppe? Wie kommt der dazu, mein Essen zu verzehren? Was will der überhaupt hier in meinem Land? Erst als Heinz peinlich genug begreifen muss, dass er dem anderen die Suppe weggegessen hat, erst als die Gedanken loskommen vom "Essen und Trinken", erst da wird es möglich, einander herzlich und freundlich zu begegnen und damit dieses Wort zu erfüllen: Laßt uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Gemeinschaft (Erbauung) untereinander.

Vielleicht nehmen wir von diesem Gottesdienst und dieser guten Geschichte das mit nach Hause: Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken ... Das ist nicht "leibfeindlich"; das ist "gemeinschaftsfreundlich"! Alles, was mit meinem Leib, meinem äußeren Menschen zu tun hat, darf nicht zwischen meinem Nächsten und mir stehen. Gott will, dass wir im Frieden miteinander leben. Gott will, dass unsere Gemeinschaft untereinander herzlich ist, geprägt von Freundlichkeit, Vertrauen und gegenseitiger Liebe.

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Die in der Predigt gekürzt vorgetragene Geschichte, "Spaghetti für zwei", stammt von Federica de Cesco. Sie ist auf meiner Kanzelsplitterseite

(http://www.predigt-eichendorf.de/indexHauptmenueTexteboerseKanzel.htm)

unter dieser Adresse zu finden: http://www.predigt-eichendorf.de/Texte/Kanzelsplitter/Spaghetti%20fuer%20zwei.doc