Predigt am 4. Sonntag n. Trinitatis - 04.07.2004

Textlesung: Röm. 14, 10 - 13

Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.

Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.«

So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.

Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.

Liebe Gemeinde!

Ganz ehrlich: Ich mag solche kraftvollen Worte!: "Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden." - "...mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen." Das ist doch etwas anderes als das ewige Gejammer der Christen über die Gottlosigkeit dieser Zeit, über die leeren Kirchen am Sonntag, über das Desinteresse der Menschen an den christlichen Grundwerten oder auch das, was wir persönlich in unserer Familie oder Umgebung beklagen, wenn wir über den schwindenden Glauben oder die geringe Bedeutung Gottes im täglichen Leben nachdenken. Und auch das tut mir gut, wieder einmal zu hören: "So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben." Es ist ja gar nicht so, dass es gleichgültig wäre, was oder wie jeder glaubt und worauf er seine Hoffnung setzt im Leben und im Sterben. Wir wissen es zwar nicht, warum der eine den Glauben an Gott geschenkt bekommt, ein anderer nicht. Und wir können und dürfen darüber nicht urteilen, warum eine nah bei Gott lebt und eine andere von ihm ihr Leben lang nichts wissen will. Aber das wissen wir: Gott sieht es. Er wertet es und wir müssen vor ihm verantworten, warum wir vielleicht nichts oder wenig aus all seinen Gaben an uns gemacht haben.

Aber wir wollen wirklich dabei bleiben, dass wir beherzigen, was Paulus am Ende sagt:"Darum laßt uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, daß niemand seinem Bruder oder seiner Schwester einen Anstoß oder Ärgernis bereite." Es geht nicht darum, was wir von den anderen denken, es geht nicht darum, wie wir sie vor Gott sehen und wie stark oder überzeugend uns ihr Glaube erscheint. Gott allein kann das prüfen und er wird das auch tun und er spricht dann sein Urteil - über die anderen Menschen genau so wie über uns selbst. Gut, wenn wir uns aus der Beurteilung der anderen heraushalten! Denn es ist wahrhaftig ein Ärgernis, wenn wir uns zum Richter über die Mitmenschen aufschwingen. Wir haben gewiss mit uns selbst und unserer guten Beziehung zu Gott genug zu tun! Sorgen wir darum, dass wir einmal vor ihm bestehen können.

Soviel zu dieser Seite der Worte des Paulus an uns. Es gibt aber auch noch eine andere! Diese andere Seite hat mit solchen Gedanken zu tun: Wir werden mehrfach Brüder (und Schwestern) genannt - eben nicht einfach nur Glieder einer Gemeinde, oder Mitchristen oder gar nur Zeitgenossen... Und wir erfahren auch ganz klar, was auf dem Spiel steht: "Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden." Und: "So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen." Wenn wir das wissen und wenn wir untereinander Geschwister sind, dann haben wir zwar kein Recht ein Urteil über einander zu sprechen, aber wir haben die Pflicht, uns gegenseitig zu mahnen, einander von unserem Glauben zu erzählen und uns nach Kräften zu Gott und in unserem Leben zurechtzuhelfen! Wir sind also nicht nur für uns selbst verantwortlich, wir tragen auch Mitverantwortung für unsere Schwester und unseren Bruder!

Aber wie ist denn das in unserer Welt, in unserer Zeit?

"Das ist doch mir egal, was die macht!" So konnte man es gestern von der einen Nachbarin über die andere hören. Warum sie das gesagt hat? Nun, sie hatte sich darüber geärgert, dass ihr "guter" Rat auf taube Ohren gestoßen war. So etwas kann einen ja auch verletzen und beleidigen: Wenn man es doch so gut gemeint hat und dann niemand hört und schon gar nicht folgt ... Andererseits: Vielleicht hat man es ja auch nicht so recht hinübergebracht zu der anderen? War da nicht doch ein wenig Übelegenheit in der Stimme, als wir unseren Rat angebracht haben? Und haben wir die Augenbrauen nicht doch etwas hochgezogen? - Aber können wir unseren Rat, unsere Meinung nicht immer nur anbieten - und die andere muss dann entscheiden, ob sie sich entsprechend verhalten will? Wenn ich eine bestimmte Reaktion erwarte und dann beleidigt bin, wenn sie nicht kommt, dann habe ich ja eigentlich doch ein Urteil über den anderen gefällt - und dieses Urteil verdammt ihn. Die gute Beziehung ist abgebrochen, jetzt ist mir "egal, was der oder die andere macht!"

Und auch solche Worte kann man oft hören: "Die da oben machen ja sowieso was sie wollen! Die interessieren sich doch nicht für uns kleine Leute!" Mit denen "da oben" können dabei die Politiker in Land und Bund, die Verantwortungsträger in Kirche und Kirchengemeinde, oder der Vorstand unseres Vereins gemeint sein. Aber in jedem Fall gilt doch: Wir brechen die Verbindung mit ihnen ab, wenn wir so reden. Wir nehmen unsere Pflicht nicht wahr, sie - wo sie sich von der Arbeit und vom Einsatz für die Menschen entfernt haben - daran zu erinnern: Ihr seid von uns gewählt. Wir haben euch unser Vertrauen ausgesprochen - nicht dass ihr nun das Eigene treibt, nur noch an euch und vielleicht eure Karriere denkt, sondern dass ihr die Sache aller voranbringt: das Gemeinwesen, die Kirchengemeinde, den Verein ... Auch hier haben wir im Grunde verurteilt: Ihr tut das Falsche, ihr vertretet uns nicht mehr - und wir geben euch keine Chance dahin zurückzukehren, wofür wir euch eingesetzt haben.

Aber es gibt noch einen viel persönlicheren Bereich, in dem wir vor den Worten des Paulus oft nicht bestehen können. Da wird so gesprochen: "Mein Mann muss doch selbst wissen, wie er's mit der Religion hält." - "Meine Tochter ist konfirmiert, wenn sie jetzt die Verbindung zur Kirche aufgibt, ist das ihre Sache." - "Mein Vater braucht das nicht, Gottesdienst, Glauben und so, der geht lieber am Sonntag auf den Fußballplatz." Fällt uns dabei eigentlich noch auf, dass wir die Menschen, immerhin unsere Allernächsten, unsere "Lieben" und unser "Fleisch und Blut", wie wir gern sagen, mit solchen Sätzen abschreiben? Das ist halt so bei ihr, bei ihm ... Da kann man nichts ändern. - Spüren wir das noch, dass wir eigentlich auch nichts ändern wollen? Und ist uns das so ganz klar, dass wir auch hier urteilen, ver-urteilen ... Der Zustand, wie er ist, wird festgeschrieben. Mein Mann, mein Kind, mein Vater ist nun einmal so: Nicht religiös, braucht die Kirche nicht, hat keinen Glauben, Gott ist nicht wichtig für sie, für ihn ...

"So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben." - "Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden."

Liebe Gemeinde, noch einmal: Für uns selbst werden wir uns rechtfertigen müssen! Aber in diese Rechenschaft wird einbegriffen sein, dass wir auch für die Mitmenschen Verantwortung tragen. Wir sind Schwestern und Brüder! Wir gehören zusammen. Wir haben alle den einen Vater im Himmel und den einen Bruder, Jesus Christus. Wir können nun nicht mehr sagen: Was geht es uns an, was die Geschwister machen, wie sie denken, reden, handeln, glauben ... und ob sie nicht glauben.

Wir sind verantwortlich für die Nachbarin, die wir vielleicht mit solchen Worten abtun: "Mir ist egal, was die macht!" Immer wieder sollen wir sie hinweisen, mahnen, ihr raten, was man auch noch bedenken und tun könnte. Aber wir sollen nicht urteilen! Das Richten nämlich ist Gottes Sache.

Und wir haben Mitverantwortung für die "da oben", denn wir haben sie auf den Platz gestellt, an dem sie heute gut arbeiten, oder versagen. Wenn sie ihre Sache nicht mehr gut machen, ihre Aufgabe nicht erfüllen, dass müssen sie das von uns hören, oder wenigstens bei der nächsten Wahl spüren. Wenn wir schweigen, sprechen wir unser Urteil über sie: Da ist nichts zu machen! Dieses Urteil aber hat sich ein anderer vorbehalten.

Und ganz besonders sind wir in der Verantwortung für die Menschen, die uns die Nächsten sind, unsere Familie, unsere Verwandten und Freunde. Und noch einmal besonders wichtig ist es doch, ob diese Menschen in Glaubensdingen, also in ihrer Sache mit Gott so oder so leben und denken. Wer kann denn sein Kind, seinen Vater, seinen Freund abschreiben: Die brauchen Gott nicht! Wenn ihnen doch der Halt des Glaubens nicht wichtig ist! Wer kann das - vor allem dann, wenn uns Gott und die Botschaft von Jesus Christus doch selbst erreicht hat und groß und wichtig geworden ist!? Auch hier trifft uns das Wort: "Du aber, was richtest du deinen Bruder, deine Schwester?" Denn es ist "gerichtet" und abgeurteilt, wenn wir die Menschen, für die Jesus Christus auch gestorben ist und die wie wir in die Gottesfamilie gehören, für unerreichbar für Gott und den Glauben erklären! Dieses Richten aber hat Gott sich vorbehalten und er wird es tun an seinem Tag ...

"So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben." Ja, so wird es sein. Aber diese Rechenschaft umfasst auch die Verantwortung für unsere Geschwister. Wir werden einmal auch dafür gerade stehen müssen, ob wir genügend gemahnt, gerufen und für die Sache des Glaubens gesprochen haben. Wenn dies in und aus Liebe geschieht, dann ist ihm von Gott auch Erfolg verheißen: "...mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen."

Gott schenke uns, dass wir unsere Verantwortung für unsere Mitmenschen wirklich wahrnehmen - ohne zu verurteilen. Gott schenke uns, dass wir mit unserer Liebe und unserem ehrlichen Interesse an den Nächsten überzeugen und sie für Gott und seine Sache gewinnen können. AMEN