Predigt zum So. "Misericordias Domini" - 25.04.2004

Textlesung: 1. Petr. 2, 21 - 25

Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen; er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand; der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt, er stellte es aber dem anheim, der gerecht richtet; der unsre Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden.

Denn ihr wart wie die irrenden Schafe; aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.

Liebe Gemeinde!

Wie war das eben? "Christus hat für euch gelitten und euch ein Vorbild hinterlassen, damit ihr seinen Fußstapfen nachfolgt..." Ich soll Christus als Vorbild predigen? Den Leidenden zum guten Beispiel machen? Den Gekreuzigten als Idol zum Nacheifern? Und aufrufen soll ich: "Folgt seinen Spuren! Auf, ihm nach! Werdet wie er!" Da möchte man am liebsten wieder von der Kanzel steigen... Der leidende, geschundene, sterbende Mann am Kreuz...als Vorbild?

Mir fallen andere Vorbilder ein. Ich könnte über Elvis reden, den gefeierten Popsänger, über seine bekanntesten Lieder, seine größten Erfolge, seine Millionen... So möchte man doch sein: umjubelt wie er bei seinen Auftritten, überall im Mittelpunkt, in den Spalten jeder Zeitung...

Ich könnte von einer Führungspersönlichkeit aus Politik und Wirtschaft sprechen, dem Präsidenten an der Spitze einer Weltmacht oder einer Großbank. Vom enormen Einfluss, dem Gewicht seines Wortes, der Bedeutung des Amtes, der Tragweite aller Entscheidungen... So möchte man doch sein: Mächtig, etwas zu sagen haben, am Drücker sitzen, die Fäden in der Hand... Sogar vom Marlboro-Mann könnte ich reden, der mir hoch von den Plakatwänden herab Freiheit und Abenteuer verheißt. Von seinem wilden, unabhängigen Leben draußen in der Weite der Prärie, keinen Zwängen unterworfen, frei vom Diktat eines Kalenders, von Terminen, immer in der Natur... So möchte man doch sein: Markig, stark und verwegen, Wind in den Haaren, gut Freund mit der Wildnis, raus aus dem Käfig der Zivilisation, weg von der Enge, der Langeweile, dem Immer-so-weiter.

Und mir kommen auch noch andere Vorbilder in den Sinn: Albert Schweitzer, Marilyn Monroe, Franz Beckenbauer oder Michael Schuhmacher... Über die alle wüsste ich etwas zu sagen, als beispielhafte Menschen, meine ich, als Idole... - Aber ich soll über einen Ohnmächtigen reden, einen Misshandelten, einen Gequälten, einen, den sie wie den letzten Verbrecher ans Holz genagelt haben... Liebe Gemeinde, wie soll das gehen? Wie soll ich das glaubhaft und überzeugend machen?

Da schaue ich sie mir lieber noch ein wenig an: meine Vor-Bilder, die Stars, die Mächtigen, die Reklamehelden... So möchte man sein. So möchte ich sein. So möchtest du sein. Gewiss, ich weiß ja doch: Das sind Träume, Illusionen; die Wirklichkeit sieht anders aus. Das "herrliche" Dasein eines Elvis endete mit frühem Herztod, andere sagen - sie entschuldigen - er habe sich überfressen mit süßem Zeug und Torten, weil ihm, dem angehimmelten, verehrten, angebeteten Liebling, die Liebe gefehlt hat.

Die Machtfülle eines Wirtschaftsbosses oder Staatspräsidenten, ist sie nicht auch eine furchtbare Belastung? Raubt einem das nicht den Schlaf, zu wissen: Jeder deiner Entschlüsse kann unabsehbare Folgen haben, weltpolitische Verwicklungen größten Ausmaßes; du verantwortest Krieg und Frieden.
Der verwegene Marlboro-Reiter... Sicher steigt er nach der Aufnahme, die mich auf dem Werbeplakat so anspricht, von seinem Vollbluthengst, der nicht ihm gehört, in sein Dutzendauto. Dann fährt er zu seinem Reihenhaus in irgendeiner durchschnittlichen Wohngegend, wo er sein durchschnittliches Leben führt: ganz und gar nicht verwegen, ganz und gar nicht abenteuerlich, ganz und gar nicht freier und unabhängiger als deines und meines.

Sicher kommt das der Wirklichkeit näher als meine Träume, meine Wunschbilder. Ich weiß das ja auch alles, aber ist es denn nicht schön zu träumen? Ist es denn nicht schön, Luftschlösser zu bauen? Ist es denn nicht schön, Hirngespinsten nachzuhängen? Gesetzt der Fall, die Stars säßen wirklich ganz auf der Sonnenseite und nichts trübte ihre glücklichen Tage, gesetzt der Fall, die Machthaber könnten ihren Einfluss und ihre Gewalt wirklich so recht genießen, gesetzt der Fall, es gäbe sie wirklich, die Marlboro-Freiheit, dieses wilde, abenteuerliche, ungebundene Leben... Wäre das wirklich schön? Für dich? Für mich? -

Ja müsste mir denn da nicht die ganze bittere Wahrheit bewusst werden, die da heißt: Die Plätze oben, an der Spitze, im Rampenlicht, dort, wo man den Beifall bekommt, die sind ja doch alle schon besetzt! Da ist kein Raum mehr für Leute wie mich. Die da oben sind, die haben nicht gewartet auf einen wie mich! - Wie kommt man sich da auf einmal schäbig vor, minderwertig und klein. Wie fühlt man sich da in den Winkel gestellt, abgedrängt, zu kurz gekommen. Nein, es ist alles andere als schön, das zu erkennen und dazu zu stehen: Dass es Höhen des Ruhms gibt, der Macht und der Freiheit, die nicht für unsereiner bestimmt sind! Wir langen da nicht hin, mögen wir uns noch so sehr zur Decke strecken. Solche Höhen bleiben unerreichbar für dich und mich - wie das Kleid von Dior für eine kleine Putzfrau.

Liebe Gemeinde, immer noch nicht genug mit dieser schmerzhaften Erkenntnis. Jetzt soll ich auch noch dies andere Vorbild predigen: Den gemarterten Jesus in der Leidenspose. Als reichte es nicht, wenn mir all die anderen Idole zerbrachen. -

Andererseits...das muss man ja sagen: Es ist ein ehrliches Bild, das dieser Gekreuzigte bietet. Da ist alles echt: kein Schein, keine Blenderei. Das ist wirklich ein so unrühmlicher Tod; so hat man sonst die Kriminellen hingerichtet. Er ist wirklich so ohnmächtig wie er aussieht, hat sich ganz und gar in die Willkür seiner Peiniger gegeben. Und das passt auch zu dem übrigen Leben dieses Menschen: im Viehstall geboren, Freund der Armen und Rechtlosen, Tischgenosse der Sünder und Dirnen, ohne Behausung, ohne Habe und Einfluss... Dieser Tod am Kreuz ist wie das letzte Glied in einer Kette: Alles stimmt zusammen, als hätte es so sein sollen!

Und nun merke ich: Der Jesus am Kreuz, der passt ja auch zu all den anderen Bildern in meinem Kopf, die mich nicht loslassen, die mich Tag für Tag immer aufs Neue bestürmen: Die Bilder menschlicher Qual, wie Menschen behandelt werden, leiden und dulden müssen. Da ist ja auch nichts vorbildlich, vielmehr alles durchschnittlich, von beharrlicher Alltäglichkeit, Montag-bis-Freitag-Bilder ohne Glanz und Höhepunkte: Das müde gewordene Gesicht der alten Frau, die so schwer an ihrem Einkaufskorb trägt, das zermürbte Gesicht des Fließbandarbeiters, der von der Schicht kommt, die hoffnungslos und traurig gewordenen Züge einer Witwe... Und manchmal grell dazwischen, fast wie ein Aufschrei, die Bilder der Katastrophen unserer Zeit: Aufgequollene Kinderbäuche, Hungerödeme in der Sahelzone, Terroropfer im Nahen Osten, das von Öl verklebte Gefieder der Seevögel nach dem Tankerunfall... Keine Vorbilder, diese Bilder! Aber eben welche, die nicht täuschen, die mir nichts vormachen, was nicht so ist und schon gar nichts, was ich nachmachen müsste. Und da habe ich jetzt doch das Gefühl, dass diese Bilder, so bedrängend sie sind, ehrlicher mit mir umgehen als jene Vor-Bilder der Elvisse und Schuhmachers, der Wirtschaftsführer oder des Marlboro-Mannes. Und er, der Gekreuzigte passt da hinein, in diese Welt der ehrlichen Bilder.

Liebe Gemeinde, wenn wir ihn nun doch einmal als Vorbild gelten lassen...nur einen Augenblick lang... Er könnte uns zeigen, dass es keine Schande ist, hilflos zu sein und ohnmächtig... Er hat das ausgehalten. Bei ihm könnte uns aufgehen, dass wehrlos sein und ruhmlos nicht heißt: ohne Würde! Er hat das ans Licht gebracht. In seiner Nähe würden wir lernen, dass es geht: Geschlagen werden, ohne zurückzuschlagen, einfach leben, ohne nach oben zu müssen, den anderen neidlos das Ihre gönnen... Er hat's vorgelebt. An seiner Hand ließe sich's ertragen, zum Durchschnitt zu gehören, so wie du und ich, so schwach zu sein, so wenig fertig zu bringen, zu so vielem nicht die Kraft haben... Er wollte nicht mehr sein. In seinen Fußstapfen wüssten wir, wohin der Weg geht: dorthin, wo so ohnmächtige, so hilflose, so ganz und gar durchschnittliche Menschen wie du und ich eine Heimat haben - beim Vater zu Hause.

Liebe Gemeinde, ich soll den Gekreuzigten als Vorbild predigen? Ich glaube, ich wüsste jetzt wie...