Predigt am Drittl. Sonntag i. K.j. - 10.11.2002

[Predigten, Texte, Gedichte...] [Buch mit 365 Gedichten] [Diskussionsforum zur Kirchenreform] [Mein Klingelbeutel] [Liturgieentwurf zur akt. Predigt]

Textlesung: 1. Thess. 5, 1 - 6 (7 - 11)

Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wißt genau, daß der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht.

Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr -, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entfliehen. Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, daß der Tag wie ein Dieb über euch komme.

Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So laßt uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern laßt uns wachen und nüchtern sein.

Liebe Gemeinde!

Glauben wir das eigentlich, was wir hier hören? „Der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht." Gehen wir wirklich noch davon aus, daß Jesus und sein Tag zu unserer Lebenszeit erscheint? Und schließlich: Sind wir da so sicher, daß „wir alle Kinder des Lichtes und des Tages sind", wie es hier heißt?

Mir gingen zu diesen Fragen zwei Geschichten durch den Kopf, Geschichten, die ich kurz erzählen will, so daß die wesentlichsten Gedanken deutlich werden.

Die Erzählung von Martin dem Schuster fiel mir ein, sie spielt in Rußland, vor vielen, vielen Jahren. Der alte Schuhmacher Martin wurde dreimal von Jesus besucht, und er hat es gar nicht gemerkt. Weil Jesus eben nicht kam wie erwartet, sondern als erschöpfter Straßenkehrer, als arme junge Mutter mit Kind und als kleiner Junge, der einer Bäuerin einen Apfel stiehlt. Martin - obwohl er nicht wußte, wer da zu ihm gekommen war - hat sich aller dieser Menschen in guter und christlicher Weise angenommen.

Anders die Frau, deren Geschichte sich wie eine Gegenerzählung dazu anhört: Sie hatte im Traum von Jesus selbst versprochen bekommen, daß er sie aufsuchen wird. Sie jagt am nächsten Tag drei arme Leute von ihrer Haustür, weil sie „auf ihren lieben Herrn wartet", wie sie sagt. Am Abend dann träumt sie wieder, und Jesus läßt sie wissen, daß er in der Gestalt der drei Bettelleute zu ihr gekommen ist und sie ihn abgewiesen hat.
Was uns diese Geschichten sagen wollen: Daß wir vielleicht vergeblich auf Jesus warten, wenn wir nach ihm ausschauen, so wie wir ihn uns vorstellen: Wie auf den Bildern vom guten Hirten etwa oder so wie am Ostermorgen mit den Wundmalen an der Seite und an Händen und Füßen oder gar als strahlende Lichtgestalt auf einer Wolke... Jesus kommt auch zu uns vielleicht ganz anders!? Und er kommt eben zu jedem für sich? Und eben nicht zu allen Menschen zu gleicher Zeit. Und daß es so ist, dafür gibt es ja viel mehr Beispiele, als die beiden Geschichten, die ich angesprochen habe.

Schon zu Paulus kam Jesus auf ganz besondere Weise. Er hat ihn mit Blindheit geschlagen und ihn gefragt, warum er ihn verfolgt. Paulus hat ihn erkannt und sein Leben von Grund auf geändert.

Ins Leben Martin Luthers ist Jesus sozusagen mit dem Evangelium in der Hand getreten. Er hat ihm eine Schriftstelle im Römerbrief vor die Augen gehalten und ihm darin neu die wunderbare Botschaft von Gottes Gnade und Liebe zum Sünder geschenkt. Und Luther hat diese Botschaft in seine Zeit hineingesagt, eine Zeit, die noch ganz verdunkelt war von der Ansicht, Gott könnte nur gerecht sein und er müsse jede Schuld heimsuchen. Und zu vielen anderen Christen ist Jesus schon gekommen, seit Menschen in dieser Welt an ihn glauben. Und jeden hat er einzeln angesprochen, zu seiner Zeit und auf seine Weise. Und warum soll das nicht auch heute so sein? Ja, vielleicht war er ja auch schon bei uns? - Haben wir ihn aufgenommen? Haben wir gehört, was er uns sagen wollte? Haben wir ihn abgewiesen, weil wir dachten, das kann er doch nicht sein und so etwas kann er doch nicht von mir verlangen? - Doch, ich glaube fest, daß Jesus heute so zu uns kommt: Zu jeder und jedem persönlich, zu einer Stunde, da wir es nicht erwarten - eben wie ein Dieb in der Nacht. Aber wenn er kommt, dann haben wir für uns zu entscheiden, ob wir ihn aufnehmen oder abweisen und damit, ob wir - wie es hier heißt - Kinder des Lichts oder der Finsternis sind.

Liebe Gemeinde, ich weiß schon und ich spüre das wie sie, wie ernst diese Gedanken doch sind! Ich bin auch ganz gewiß, daß wir - wie etwa Martin der Schuster oder die Frau aus der Geschichte - oft nicht erkannt haben, wer da vor uns gestanden hat und uns angesprochen, etwas gefragt oder um Hilfe gebeten hat. Und wir können uns nicht darauf verlassen, daß wir dann - etwa wie Martin - so ganz aus uns selbst heraus gut und christlich gehandelt haben. Denn unser Fleisch ist schwach, wie es im Evangelium heißt. Oft sind wir träge und unentschlossen. Meist denken wir lieber an uns, unseren Bauch und an die Mühe, die es macht, den Menschen zu helfen und zu dienen, selbst wenn er es wäre, der vor uns steht! Aber - Gott sei Dank! - er kann ja noch einmal kommen! Auch die Geschichte von der Frau, die auf ihren lieben Herrn wartet, geht ja nicht so aus, daß der liebe Herr nun sagt: „Jetzt komme ich nimmermehr!" Darum denke ich, es wäre gut, wenn wir einfach einmal ein paar Lebenssituationen betrachten, in denen es darum geht, ihn zu erkennen, ihn aufzunehmen oder fortzuschicken und damit ein Kind des Lichts zu sein oder des Dunkels. Denn eins steht ja fest: Es ist nicht gleichgültig für uns, ob wir ihn bei uns einlassen! Da steht auf dem Spiel, ob unser Leben gelingt oder ob wir es vergeuden. Ob unser Leben - bei allem Schweren, das es auch enthält - Freude und Sinn hat oder ob wir am Ende sagen müssen: Es war leer und ohne Erfüllung und es gibt wenige Menschen, die mir etwas verdanken und für die mein Leben wichtig war.

Sicher tritt Jesus an jeden Menschen auf seine Weise heran. Und gewiß hat er seine eigene Art mit jedem und jeder zu reden. Und seine Aufträge oder Bitten sind ganz unterschiedlich. Aber ich will ein paar Gelegenheiten nennen und ein paar Arten, wie es geschehen kann, vielleicht geschehen ist oder morgen geschehen wird. Mag sein, daß wir so aufmerksamer werden für ihn - wenn er das nächste Mal vor uns tritt.

Ich glaube, daß es Jesus ist, der uns dieses Gefühl der Scham und des Ärgers über uns selbst eingibt, wenn wir einem Menschen begegnen, mit dem wir aus irgend einem Grund in Streit leben. Er ist es, der macht, daß wir uns dann immer wieder dumm und vielleicht hartherzig vorkommen, wenn wir krampfhaft wegschauen oder gar die Straßenseite wechseln. - Wenn wir nun einfach hinübergingen und dem Menschen die Hand reichten, dann wären wir ins Licht getreten.

Und ich glaube, daß es Jesus ist, der mir immer wieder in Erinnerung ruft, daß es neben dem Schaffen, dem Essen, Schlafen und Ausruhen, neben Arbeit, Freizeit und Fernsehen noch seine Sache gibt. Vielleicht geschieht das dann, wenn ich durch eine Zeit der Krankheit erkennen muß, daß ich von all dem, was ich immer für so wichtig gehalten habe, ja eigentlich nicht lebe. Vielleicht geht mir auch in einem Gottesdienst, in den ich - wie ich meine: "zufällig" - gegangen bin, ein Wort auf, das mir wie für mich gesprochen erscheint. Wenn ich dann nicht weghöre, sondern antworte und gehorche, das wäre ein Schritt ins Licht.

Und schließlich glaube ich, daß es Jesus ist, der mir vielleicht, wenn ich vor dem Spiegel stehe, sagt, wie eitel und hochmütig ich doch bin. Er ist es auch, der mir schonungslos klar macht, daß ich meinem Nachbarn neide, was er sich leisten kann und in seinem Leben erreicht hat. Er sagt mir auch ins Gesicht, daß ich mich eigentlich doch freuen müßte, wenn einem Mitmenschen mit seinen Gaben gelingt, was ich nicht kann. Er weist mich immer wieder einmal darauf hin, daß es doch mehr um die Sache geht als um die Personen, die ihr dienen sollen. Er dämpft meine Überheblichkeit, wenn ich denke, es ginge nicht ohne mich. Er zeigt mir wieder das Ziel, zu dem ich unterwegs bin, wenn ich es vor lauter Gedanken um den Weg dahin aus den Augen verloren habe. Und er bringt mir auch immer wieder vor die Augen und den Sinn, daß ich einmal sterben und Rechenschaft ablegen muß. Wenn wir in diesen Augenblicken hinhörten und aufmerksam wären, ja wenn wir sie als Chance begreifen könnten und nicht als harte oder gar böse Zurechtweisung - wir gingen ins Licht!

Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So laßt uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern laßt uns wachen und nüchtern sein.

Liebe Gemeinde! Ich wünsche uns, daß wir für uns selbst erkennen, wo Jesus uns schon begegnen wollte, ob wir ihn abgewiesen oder aufgenommen haben. Noch mehr wünsche ich uns, daß wir beim nächsten Mal aufmerksam sind und ihn einlassen und so ein Kind des Lichtes werden!