Predigt zum 19. So. nach Trin. - 21.10.2001

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Liebe Gemeinde!

Sicher spielen einige von ihnen im Lotto mit. Millionen in Deutschland jedenfalls tun es. Für wenig Geld kaufen sie sich eine Hoffnung. Sie möchten sich einmal die großen Wünsche des Lebens erfüllen können: Eine Weltreise, ein Haus, sich alles leisten können... Auch gestern abend hat das Lottofieber wieder ein ungezähltes Publikum vor dem Bildschirm versammelt. Da wurde gehofft und gezittert, 5 Minuten lang. Und dann, als die letzte der Glückskugeln gefallen war, hat sich millionenfach die Spannung gelöst: "Wieder nichts, das nächste Mal vielleicht, einmal kommt jeder dran; es trifft ja mehr, als man denkt." Aber das nächste Mal wird's genauso sein. Die Chance ist einfach zu gering. Eins zu soundsoviel Millionen. Und doch wird weiter gespielt, Woche für Woche. Wie groß muß die Hoffnung sein, die es uns immer wieder versuchen läßt.

Und ist das nicht auch in anderen Bereichen so. Ist es nicht eigentlich die Hoffnung, die wie ein Motor unser Leben treibt, die uns auch in aussichtslosen Lagen durchhalten läßt?.

Da ist die Hoffnung des Einsamen, einmal einen Menschen zu finden, der sich um ihn kümmert. Da ist die Hoffnung des Strafentlassenen, Verständnis zu finden und einen neuen Anfang. Da ist die Hoffnung von uns allen, auf Anerkennung und Liebe unserer Mitmenschen.

Auch unser heutiger Predigttext handelt von Hoffnung und ihrer .Erfüllung. Wir lesen im Joh.-Evangelium im 5. Kapitel:

Textlesung: Joh. 5, 1 - 16

Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf hebräisch Bethesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank. Als Jesus den liegen sah und vernahm, daß er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber an dem Tag Sabbat. Da sprachen die Juden zu dem, der gesund geworden war: Es ist heute Sabbat; du darfst dein Bett nicht tragen. Er antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! Da fragten sie ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin? Der aber gesund geworden war, wußte nicht, wer es war; denn Jesus war entwichen, da so viel Volk an dem Ort war. Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, daß dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre. Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte.

Da liegen also unzählige Kranke in den 5 Hallen am Teich Bethesda. Alle warten auf das Wunder, das von oben kommt. Denn ein Engel ist es, der zuzeiten die Wasser bewegt. Bethesda heißt übrigens 'Ort des Erbarmens'. Aber trifft dieser Name?

Wir können uns ausmalen, was geschieht wenn die Wellen schlagen: Von Erbarmen keine Spur. Da beginnt vielmehr das große Rennen zu den Fluten des Teichs. Die egoistische Jagd um die eigene Gesundung hebt an. Jeder ist sich selbst der Nächste. Alles was laufen kann stürzt zum Wasser. Gehbehinderte und Lahme schaffen's nicht. Andere sind schneller. Einer, ein Gelähmter, wartet schon 38 Jahre. Seine Chancen sind noch geringer, als für uns, im Lotto 6 Richtige zu bekommen. Und doch hat er nach 38 Jahren die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Vielleicht wird das Wunder einmal wahr. Vielleicht bringt ihn einmal einer zum Wasser, im rechten Augenblick. Vielleicht erfährt er einmal, was der Name des Ortes verheißt: Erbarmen! Allein ist er hilflos. Einer muß ihn zum Wasser tragen. Nur ein anderer kann das Wunder für ihn möglich, machen. Darauf wartet und hofft er seit 38 Jahren.

Läßt sich das Bild von den Kranken am Teich Bethesda nicht gut in unsere Zeit übertragen? Sind wir Menschen dieser Tage nicht auch wie eine große Menge von Hoffenden? Warten wir nicht alle auf unsere Weise auf das Wunder, das uns zurechtbringt uns hilft und heilt? Die Hoffnung auf das große Geld, wie sie sich beim Lottospiel äußert, ist nur ein Beispiel dafür. Das Problem ist nur, wie damals am Teich: Wunder sind selten. Wenn's eintrifft, will jeder etwas davon haben. Und andere sind schneller, stärker und oft rücksichtsloser. Immer sind die Schwächsten die Dummen, sie haben das Nachsehen. Es müßte einmal einer nicht nur an sich denken und sehen, daß andere noch schlechter dran sind. Aber wer sollte das tun? Wer bringt es fertig, einmal die eigenen Hoffnungen und Wünsche hintanzustellen und sich für den anderen einzusetzen, der Hilfe braucht? Da vergehen leicht 38 Jahre, bis einer bemerkt, da liegt einer, der mich nötig hat!

Doch: Das ist eine zeitlose Geschichte, die da am Teich Bethesda spielt! Wenn wir noch einmal genauer hinhören, bemerken wir noch etwas seltsames an ihr: Eigentlich steht gar nicht das Wunder, die rätselhafte Bewegung des Wassers durch den Engel, im Mittelpunkt der Erzählung, sondern die Not des Gelähmten, der sich selbst nicht helfen kann. Wir sollen also nicht über das Wunder staunen oder darüber rätseln, wie es wohl möglich ist, sondern über die Zuversicht, die unerfüllte Sehnsucht des Gelähmten ins Nachdenken kommen. In den 38 Jahren, die er in den Hallen gelegen hat, wird er oft Zeuge des Wasserwunders gewesen sein. Sicher hat er viele Heilungen gesehen. Er weiß um seine fast völlig aussichtslose Lage und doch hat er die Hoffnung nicht aufgegeben. Er wartet auf das größere Wunder, als daß sich das Wasser bewegt! All die Jahre hofft er auf einen Menschen, der sich ihm zuwendet, der sich erbarmt und ihm hilft. Und solche Wunder der Mitmenschlichlichkeit sind selten, seltener noch als die Wunder von oben, seltener als daß ein Engel vom Himmel steigt. Ich glaube, das will die Geschichte uns sagen.

Doch er kommt, der andere, der Mitmensch der hilft. Jesus sieht den Lahmen und erbarmt sich seiner. Ohne Wunder von oben, ohne Engel und heilkräftiges Wasser. Der Mensch Jesus heilt ihn. Das ist der springende Punkt. Der Nächste, der Bruder, wie er damals in Jesus erscheint, bringt die Heilung, die Erfüllung der Hoffnung. Darauf will die Geschichte hinaus.

Aber ich glaube, auch wir können heilen. Andere Gebrechen zwar, aber auf die gleiche Weise: Der Einsame braucht einen Menschen, der Zeit hat, der die eigenen Sorgen einmal vergessen kann und sich vorbehaltlos zur Verfügung stellt. Wer von Ängsten umgetrieben wird, hofft auf Trost, auf einen Menschen, der ihm Mut macht. Der Ausgestoßene sucht einen, der ihn annimmt, der in Not Geratene einen, der ihm zurechthilft. Es muß kein Wunder von oben sein, es braucht keinen Engel, wir können helfen. Hierin will uns die Geschichte von der Heilung am Teich Bethesda Jesus zum Vorbild machen. Sie fragt nicht nach dem Wunder selbst: Wie war es möglich, daß Blinde sehen, Lahme wieder gehen konnten? Wie konnte die Heilung geschehen? Was veränderte sich im Wasser, wenn der Engel herabstieg. Auch die Frage, hat Jesus von all den Kranken nur den einen geheilt, interessiert die Geschichte nicht. Sie fragt nach dem Menschen, der die Not sieht, der sich erbarmt und hilft. Jesus war damals dieser Mensch. Wir können es heute sein. Überall wo Menschen nach der Not und der Hoffnung anderer sehen und fragen kann Bethesda sein: Der 'Ort des Erbarmens'.