Predigt zum Erntedankfest - 6.10.2019

Liebe Gemeinde,
ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Es ist genaugenommen ein Märchen. Es heißt: "Hans im Unglück", und ich denke, die meisten hier kennen es schon.

Es war einmal..., so beginnt es, es war einmal ein junger Mann, der hatte einem Scherenschleifer sieben Jahre lang gedient. Als er sich nun verändern wollte, hoffte er, vom Meister das nötige Startkapital für ein eigenes Geschäft zu erhalten, denn er hatte in der Vergangenheit immer seine Pflicht getan. Der Meister aber, der seinen Gesellen gern hatte, sprach zu ihm: "Ich habe dir immer deinen Lohn ausgezahlt, wie es recht war, ich habe dich immer gut behandelt. Ich will dir kein Geld geben, denn mit Geld wirst du dein Glück nicht machen. Auch ich habe ganz klein angefangen, und was du heute siehst, ist meiner Hände Arbeit gewesen. Alles, was ich dir geben will, ist hier dieser Schleifstein. Auch ich habe allein mit ihm angefangen. Nimm ihn, er soll dir Glück bringen und Grundstein für deine Zukunft werden." Keiner malt sich die Enttäuschung des Gesellen aus. Als er sein Bündel schnürt, um den Meister zu verlassen, legt er den Schleifstein ganz zuoberst. Wenn er erst außer Sichtweite wäre, dann will er ihn von sich in den Fluss werfen. Doch er ist kaum hundert Meter gegangen, da trifft er einen Burschen, der unterm Arm eine Gans trägt, die er eben zum Schlachten bringen will. Hans gelingt es, dem Burschen den Schleifstein gegen die Gans aufzuschwatzen. Eine Strecke Wegs weiter, begegnet ihm ein Bauer, der ein Schwein vor sich her treibt. Kurz und gut, Hans tauscht vorteilhaft seine Gans gegen das Schwein. Wenig später kreuzt ein Metzger mit einer Kuh seinen Weg. Schnell sind die beiden handelseinig: Der Metzger nimmt das Schwein, Hans die Kuh. Und schließlich, ein paar Meilen später, gesellt sich ein Reiter zu Hans, den Hans bald davon überzeugt, wie gut es wäre, wenn er die Kuh für das Pferd nähme. Hoch zu Ross trabt der Hans nun auf sein Heimatdorf zu und dort bezahlt ihm ein Händler sein Pferd mit einem Klumpen von Gold, so groß wie Hansens Kopf. Und Hans kauft sein Schleifergeschäft. Er stellt Leute ein. Er kommt zu Reichtum und Ansehen. Aber auch mit ihm selbst geht eine Veränderung vor: War er früher sorglos und unbekümmert, so reibt ihn nun die Angst auf. Hatte er früher nichts zu verlieren, so steht für ihn jetzt die ganze Existenz auf dem Spiel. War er früher mit dem Wenigen zufrieden, was er verdiente, so will er jetzt mehr und immer mehr, um das was er hat besser abzusichern. Und noch etwas geht mit Hans vor, er merkt es selbst gar nicht mehr, aber er ist nicht mehr glücklich wie ehedem bei seinem Meister, er ist vielmehr todunglücklich. Er versucht das mit Arbeit zu verdrängen. Er schafft und schafft, damit ihm nur ja nicht zu Bewusstsein kommt, wie leer es in ihm selbst trotz all seiner Güter ist. Er streckt sich nach Posten in den örtlichen Vereinen, damit er auch die letzten freien Stunden, die er in der Woche noch hat, ausfüllt. Er vergrößert sein Geschäft, dann baut er an, dann eröffnet er Filialen in den Nachbardörfern. Alles das tut er eigentlich nicht mehr, um reicher oder angesehener zu werden - er ist ja auch längst der Reichste im Ort - er tut es, um den einen Gedanken in seinem Herzen zu betäuben und zum Schweigen zu bringen: Wie leer sein Leben eigentlich ist, wie wenig Freude er daran hat und wie sehr er in ihm Sinn und Fülle vermisst.

Soweit meine Geschichte. Sie haben gemerkt, was ich mit dem "Hans im Glück" der Gebrüder Grimm gemacht habe. Aber mich hat dieses Märchen schon immer geärgert. Einen solchen Hans gibt es ja nicht: Am Anfang einen Klumpen von Gold und am Ende - nach diversen Tauschgeschäften - einen alten Schleifstein und der fällt ihm dann noch in den Brunnen - und trotzdem heißt es zuletzt: "So glücklich wie ich", rief Hans aus, "gibt es keinen Menschen unter der Sonne"!

Ist das denn realistisch? Ist da mein Hans nicht näher an der Wirklichkeit? Und kennen wir nicht einige solcher Menschen? Ja, sind wir nicht selbst gar solche Menschen wie der unglückliche Hans?: Zwar reich an allem Äußerlichen, zwar gesegnet mit Wohlstand, satt und umgeben von Kram und Luxus - doch im Inneren arm, ohne rechte Lebensfreude, ohne Ziel, ohne Erfüllung, ohne Sinn. Und befällt uns denn nicht wirklich oft die Angst, wir könnten verlieren, was wir uns erworben und aufgebaut haben? Und haben nicht auch wir unsere eigenen Methoden entwickelt, uns von der Angst und den Fragen abzulenken? Der eine, indem er atemlos von Termin zu Termin hetzt, die andere in ihrem Bemühen, immer noch mehr Geld und Gut aufzuhäufen, das man eigentlich gar nicht mehr zum Leben braucht, ja, das zum wirklichen Leben eher hinderlich ist und im Wege steht?

Liebe Gemeinde, ich sehe da jetzt bei einigen die Frage ins Gesicht geschrieben, warum ich darüber am Erntedanksonntag spreche. Hier ist die Erklärung. Das ist der Predigttext für heute:

Textlesung: Mt. 6, 19 - 23

Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe einbrechen und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo sie weder Motten noch Rost fressen und wo die Diebe nicht einbrechen und stehlen. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!

Bei diesen Versen habe ich mich gefragt, passt das denn zum Dankfest? "Sammelt euch nicht Schätze auf Erden." Dürfen wir uns denn nicht daran freuen, dass wir wieder haben ernten können, wenn auch nicht so viel wie in feuchteren Jahren, dass es aber auch diesmal wieder reichen wird zum Leben, dass keiner wird hungern müssen? Erst einmal: Gewiss dürfen wir uns darüber freuen! Aber "Schätze", von denen hier gesprochen wird, sind das doch wohl nicht. Seien wir doch einmal ehrlich: Dass wir auf dieser Seite des Globus wohnen und selbst in mageren Jahren ausreichend zu essen haben, ist uns doch eigentlich überhaupt keine Frage mehr, das ist uns selbstverständlich. Es mag angesichts des Hungers in der Welt kurzsichtig, gedankenlos und vielleicht undankbar sein - aber so ist es doch, oder? Aber ich will auf etwas anderes hinaus: Spricht der Predigttext heute nicht vielleicht von all den anderen Dingen - außer der Nahrung - die uns da in den letzten 12 Monaten oder schon seit Jahren zugewachsen sind. "Schätze auf Erden", könnte da nicht unser ganzer Besitz gemeint sein, all unsere Habe, unser Haus, unser Gut, an dem oft unsere ganze Seele hängt?

Zwar leben wir letzten Endes von dem Brot, das auf unseren Feldern reift, von all den Nahrungsmitteln, die unseren Leib erhalten - aber haben wir nicht selbst unser Leben, unsere ganze Existenz viel mehr mit den Dingen, den anderen Gütern um uns herum verbunden? Wir sprechen doch auch nicht von "Meier" oder "Schmidt", der da und da Gemüse oder Korn anbaut, der Schweine oder Kühe hält, sondern wir sagen, der dort und dort das neue Haus gebaut hat, der bei dem und dem in leitender Stellung ist oder diesen oder jenen dicken Wagen fährt. Das bestimmt für uns den Menschen näher. Das sind heute die "Schätze auf Erden" - aber doch nicht zuerst, dass wir satt zu essen haben! Darum möchte ich dieses Erntedankfest einmal auf mehr beziehen, als auf das, was wir draußen auf den Äckern geerntet haben. Ich möchte all unser Hab und Gut einbeziehen in den Dank. - Wie geht das?

Denken wir noch einmal an das Brot. Wenn ich dankbar bin dafür, dass ich Brot zu essen habe, während mein Mitmensch in der dritten Welt hungert, dann wird mein Dank mich das Teilen lehren. Ich werde von dem Meinen abgeben, damit auch der andere leben kann. Sollte das mit den "Schätzen auf Erden" nicht auch gehen, das Teilen? - Ei freilich, geht das: Teilen wir zum Beispiel unser Haus. Ob hier nicht Gastfreundschaft angesprochen ist? Ob mein Haus nicht ein Ort der Gemeinschaft mit anderen Menschen sein soll, ein Stück Heimat für die, die nicht wissen, wohin sie gehören, denen es an Geborgenheit im Leben fehlt? Was aber sind uns die Vierwände: Oft ein Symbol dafür, dass "wir es geschafft haben". Oft unser Hoheits- und Rückzugsgebiet und damit gerade kein gastlicher Ort. Oft Palast oder Burg, hinter deren Mauern wir uns vor den Mitmenschen abschirmen, womit wir die Gemeinschaft schwächen und zerstören.

Und teilen wir einmal unser Einkommen und unsere gute Stellung, auch das geht: Geld, das zum Überleben nicht nötig ist, kann ich herschenken - das ist zwar schwer genug, aber eine klare Sache. Schwieriger noch, scheint das Teilen der beruflichen Position. Aber auch das ist möglich. Vielleicht so: Dass ich mir wirklich einmal klarmache und begreife, was das heißt, ohne Arbeit zu sein, während ich als Beamter oder in unkündbarer Stellung auf krisenfestem Posten sitze. Dann könnte mir aufgehen, was das wohl für ein furchtbares Los sein muss, seine Arbeitskraft nicht einbringen zu dürfen, immer wieder die vielsagenden Blicke der Nachbarn ertragen zu müssen und doch nichts tun zu können, um die eigene Lage zu verändern. Teilen könnte hier auch heißen: Um der vielen Menschen ohne Arbeit willen, eigene Möglichkeiten zur Hilfe ausschöpfen und auch politische Lösungen des Problems fördern und mittragen. Wie ich alle anderen Dinge, all meine Habe, meinen Besitz, eben all meine persönlichen "Schätze" mit meinen Nächsten teilen kann, das sei jetzt der Phantasie und dem Einfallsreichtum von uns allen überlassen. Ich wollte nur zeigen, dass es möglich ist.

In jedem Fall aber wird das Teilen auch ein Stück "Frei-werden" für uns bedeuten, ein Stück Freiheit von den Sachen, von den "Schätzen auf Erden". Und da bin ich wieder zurück bei meiner Geschichte vom "unglücklichen Hans". Der ist eben nicht frei von seiner Habe. Er ist schnell in den gefährlichen Sog des Besitzes geraten: Ein Pferd, ein Klumpen Gold, ein Geschäft, ein größeres Geschäft, ein paar Filialen, Ansehen bei den Leuten, mehr Ansehen, mehr Macht...

Was uns bei diesem Hans ganz klar und deutlich wird - bei uns selbst erkennen wir's nur schwer oder gar nicht: Aber wir stecken auch schon drin in diesem Sog, einer mehr, ein anderer weniger, aber alle irgendwie! Wir haben auch schon viel von unserer Freiheit verloren an die Faszination des Besitzes mit seinem trügerischen Versprechen von Sicherheit. Aber was wird es dem unglücklichen Hans am Ende helfen, wenn er aus dieser Welt muss? Was wird er mitnehmen? Ja, wird ihm der Abschied nicht umso schwerer fallen, je mehr er an seiner Habe hing? Und bedeutet bei diesem Hans nicht schon das Leben mit all seinen Gütern eigentlich eine Qual, eine Last und wirkliches Unglück? Wann kommt er denn noch einmal zu sich selbst? Wann kann er sich an irgendetwas freuen, was er sich aufgebaut hat? Immer jagt ihn die Angst, immer muss er fürchten, sein ein und alles zu verlieren, immer muss er dem Mehr an Sicherheit und dem noch größeren Besitz nachhetzen. Nie kann er einmal Luft holen, sich besinnen, umkehren...

Ein kluger Mensch hat einmal gesagt: "Man darf besitzen, aber man darf nicht davon abhängen". Ob das nicht gemeint ist mit dem Wort: "Sammelt euch nicht Schätze auf Erden...?" Und das geht ja dann weiter: "Sammelt euch vielmehr Schätze im Himmel!" Ob nicht eben das "Teilen" hier auf Erden das "Sammeln" himmlischer Schätze bedeutet? Sind das nicht die Güter, die einmal vor Gott zählen sollen: Die Menschlichkeit, wenn ich vom Meinen abgebe. Die Liebe, aus der heraus ich den Mitmenschen mit meiner Habe helfe. Die Gemeinschaft, die da entsteht, wo ich andere an all meinem Gut teilhaben lasse.
Ich sagte vorhin: "Der unglückliche Hans kann nicht umkehren." - Wenn er es doch einmal versuchte? Gegen alle inneren und äußeren Widerstände? Mit der Geschichte gesprochen, ginge das so: Er tauscht seine Güter und sein Geschäft gegen den Goldklumpen, den gegen das Pferd, das gegen die Kuh, die gegen das Schwein, das gegen die Gans und die gegen den Schleifstein...und der fällt ihm dann auch noch in den Brunnen... Sie denken, das ist nun wirklich ein Märchen. Und sie haben ja Recht. Das ist unrealistisch und sowas gibt's nicht in der Wirklichkeit. Aber das Märchen ist in tiefstem Sinne wahr, das müssen wir zugeben: Dieser Hans ist wirklich frei geworden von allem, was ihm zuvor eine Last war. Dieser Hans hat all das Seine geteilt. Diesen Hans hält auf der Erde nichts mehr fest. Seine Schätze, sind...im Himmel. Dieser Hans hat sein Glück gemacht.

Wie weit können wir ihm folgen? Wie weit können wir es ihm nachtun? Wo sind unsere Schätze? Wird ein wenig von diesem Märchen bei uns wahr an diesem Dankfest? AMEN