Predigt zum Erntedankfest - 1.10.2017

Textlesung: Jes. 58, 7 - 12

Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen, und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: "Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne".

Liebe Gemeinde!

"Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!"

Geht es ihnen nicht auch so? Diese Aufforderungen rufen das schlechte Gewissen in mir wach. Sicher, wir tun ja etwas: Die Spende für 'Brot für die Welt' zu Weihnachten, 50,- € für ein Patenkind in Indien, nachher der Geldschein auf dem Kollektenteller... Aber viel ist es nicht, gemessen an dem, was wir tun könnten. "Brich dem Hungrigen dein Brot, die im Elend und ohne Obdach sind, führe in dein Haus..." Das ist wohl auch etwas anderes, was hier von uns verlangt wird, irgendwie konkreter: Brot brechen, Obdach gewähren, Nackte kleiden... Da wird ja so getan, als lägen sie vor unserer Tür, die Notleidenden, die Hilfsbedürftigen - dort steht doch aber nur unser Auto. - Die schreiende Not kennen wir doch nur vom Fernsehen, wenn unser Blick einmal den entsetzlichen Bildern nicht ausweicht, den aufgequollenen Kinderbäuchen, dem Elend der Flüchtlinge in den überfüllten Lagern, den verkrüppelten Opfern in den Kriegsgebieten der Erde...

Manchmal denke ich, das ist uns vielleicht auch ganz recht so, dass das alles so weit weg ist und nur im Fernsehen spielt und wir den Kasten ja auch ausmachen können, wenn's gar zu arg wird. Und so ein bisschen Geld - das beruhigt, da kann man besser vergessen, was da überall auf diesem Globus los ist. Glauben sie mir, ich will unsere Spende gar nicht schlechtmachen. Auch wenn sie nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist - aus vielen Tropfen wird ein Regen - und der hilft dann auch. Mich ärgert aber, wenn ich vor lauter Elend in der Ferne, nicht mehr sehen kann, was sich nur ein Haus weiter zuträgt - und das ist ganz buchstäblich gemeint! Da gibt es Leute in unserer Gemeinde, die vor Einsamkeit, vor "Hunger" nach einem Menschen schier vergehen. Es gibt aber keinen Nachbarn, der einmal nach ihnen sieht, ein Wort mit ihnen wechselt, einmal fragt: "Wie geht es dir?". Wohl aber spendet der Nachbar ein paar Euro für ein Waisenheim in Indien und eine Blindenanstalt in Ghana... Da gibt es Leute in unserer Nähe, die haben für ihren äußeren Menschen zwar einen Ort, eine Wohnung, ein Haus - innerlich aber haben sie kein Dach, unter dem sie leben können, kein Zuhause, keinen Halt, der ihnen Mut und Kraft gibt. Die Menschen in ihrer Umgebung spüren es wohl: Man müsste etwas tun! Der braucht einen, sonst geht er vor die Hunde! "Man müsste...man sollte..." Aber dabei bleibt's meistens. Allerdings geben wir ein paar Cent fürs Diakonische Werk und für Bethel. -

Ich könnte das noch weiterführen. Aber sie verstehen, was ich meine: Oft wollen wir uns mit unseren - sowieso vergleichsweise geringen - Spenden loskaufen von der Verpflichtung, dort zu helfen, wo uns die Not ganz nah kommt: Im nächsten Haus, nur schräg über die Straße... Und wir haben noch mehr gute Gründe, um uns vor der Hilfe an den 'Nächsten' zu drücken: "Was wird der sagen, wenn ausgerechnet ich zu ihm komme?" - "Die hat doch auch Verwandtschaft, sollen die doch erst einmal!" - "Ob der überhaupt Hilfe annimmt, wenn ich sie anbiete?" Da ist es vielleicht wirklich besser, sich für Hungernde auf der anderen Seite der Erdkugel einzusetzen, etwas für Flüchtlinge aus Eritrea zu tun. Da weiß ich doch, dass mein Euro wirklich Not lindert. Kontonummer notieren und eine Summe Geldes überweisen. Es wird schon ankommen. Andere werden mein Geld in echte Hilfe verwandeln, in Brot, in Obdach, in Kleidung... - Ja, ist das nicht einfach gut und wichtig? Ist das nicht einfach gut? Ist das nicht einfach...? Seien sie mir jetzt nicht böse, ich finde, es ist zu einfach! Einen Besuch bei einem Mitmenschen machen, der in Not geraten ist, wäre schwieriger, aber er wäre auch mehr. Einem Mitmenschen in meiner Nähe einen Halt und ein Zuhause geben, wäre schwieriger und mehr. Meine Zeit und meine Kraft für einen Mitmenschen drangeben, der es in den Augen der Leute gar nicht verdient hat, wäre schwieriger und mehr. "Brot brechen, Obdach gewähren, Nackte kleiden" - so konkret soll unsere Hilfe sein und wir können sie tun - kaum ein paar Schritte von unserer Haustür entfernt. Das andere müssen wir deshalb nicht lassen: Warum denn nicht: auch für die Hungernden in der Dritten Welt spenden - und noch viel mehr als bisher. Warum nicht auch etwas für die Erdbebenopfer in Italien tun - und noch viel großzügiger als bisher. Warum nicht auch einen Scheck an Bethel oder Hefata senden - und noch viel öfter als bisher. Aber darüber nicht das furchtbare Leid des Nachbarn vergessen und nicht an der Einsamkeit eines alten Menschen vorbeigehen und nicht den stummen Schrei eines in seelische Not Geratenen überhören. Und vor allem nicht fragen: "Wer denn? Wo denn?" Ich bin sicher, es gibt keinen in dieser Kirche, der bei ein paar Augenblicken - ehrlicher - Besinnung, nicht wenigstens einen Menschen in unserer Gemeinde nennen könnte, der ihn bitter nötig braucht! Und schließlich, bitte nicht fragen und sagen: "Ja, warum denn gerade ich? Soll doch die Regierung etwas tun, die Kommunalverwaltung, die Kirche..."

Ich gebe zurück: Wer denn sonst, als du? Du weißt um die Not deines Nächsten. Du hast die Mittel ihm zu helfen. Was fragst du noch?

Und vielleicht ist gerade an diesem Tag heute einmal Gelegenheit, sich darauf zu besinnen, was wir alles für Mittel haben, um zu helfen. Wir danken heute für die Ernte. Wir danken für alles, was uns auf den Feldern und in den Gärten gewachsen ist. Die Scheunen sind voll. Das meiste ist eingebracht. Wir werden unser Auskommen haben. Sicher Grund genug, heute einmal die Hand und das Herz ganz besonders weit aufzutun, wenn wir nachher für die sammeln, die auf unserer Erde hungern müssen.

Aber was ist mit all den anderen Gaben Gottes? Die Liebe, die uns von unserer Familie und unseren Freunden entgegenkommt? Die Freude und der Erfolg, die sich im vergangenen Jahr im Beruf und privat eingestellt haben? Die Erfahrung eines sinnvollen und ausgefüllten Lebens, die wir täglich neu machen dürfen? Sollten wir dafür nicht auch einmal danken? Sie fragen: Wie? - Warum nicht so: Dem Menschen, mit dem ich Tür an Tür wohne und der so gar nichts Gutes erfährt, ein wenig von der Liebe bringen, die mir geschenkt wurde. Dem Menschen, der so freudlos und ohne irgendwelche Anerkennung ist, ein gutes Wort sagen, ein wenig Zeit und Freude mit ihm teilen. Dem Menschen, dem da im vergangenen Jahr so viel kaputtging, mal wieder von Sinn reden und ihm vielleicht für eine Zeit zum Halt werden. - Setzen Sie hier bitte selbst fort. Und denken Sie dabei doch auch an solche, die ganz nah bei Ihnen wohnen...vielleicht gar Haus an Haus mit ihnen!

Eine Frage, die sonst immer so hässlich klingt, ist heute ausnahmsweise erlaubt: "Was hab' ich davon, wenn ich anderer Leute Not lindere, anderen helfe, in der Welt draußen und hier bei uns?"

Gott lässt uns durch den Propheten Jesaja ausrichten: "Das hast du davon!" (Wir hören noch einmal auf die Verheißung des Jesaja für diesen Erntedanktag:)

"...dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt." AMEN