Predigt zum Gründonnerstag - 13.4.2017

Textlesung: Wir lassen uns einstimmen durch Worte aus dem Mk. 14,17-26:

Und am Abend kam er mit den Zwölfen. Und als sie bei Tisch waren und aßen, sprach Jesus: Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch, der mit mir isst, wird mich verraten. Und sie wurden traurig und fragten ihn, einer nach dem andern: Bin ich's? Er aber sprach zu ihnen: Einer von den Zwölfen, der mit mir seinen Bissen in die Schüssel taucht. Der Menschensohn geht zwar hin, wie von ihm geschrieben steht; weh aber dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre. Und als sie aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach's und gab's ihnen und sprach: Nehmet; das ist mein Leib. Und er nahm den Kelch, dankte und gab ihnen den; und sie tranken alle daraus. Und er sprach zu ihnen: Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird. Wahrlich, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs Neue davon trinke im Reich Gottes. Und als sie den Lobgesang gesungen hatten, gingen sie hinaus an den Ölberg.

Liebe Gemeinde!

Eine Geschichte, die zum Geschehen dieses Abends passt, muss mindestens ebenso schrecklich sein, unser Herz mindestens ebenso rühren, wie die Verleugnung durch Petrus, die Einsamkeit Jesu in Gethsemane und der Verrat durch Judas. Sie müsste uns unter die Haut gehen, wir müssten von ihr genauso bewegt werden und an ihr etwas von der Botschaft des Leidens und Sterbens Jesu für uns begreifen. - Alles andere wäre zu wenig! Gibt es so eine Geschichte?

Ich habe neulich eine wahre Begebenheit gelesen! Die hat mich stark angerührt, ja erschüttert! Sie beschäftigt mich seitdem ständig. Ich glaube, sie ist geeignet, dass ich sie heute mit meinen Worten noch einmal nacherzähle. Sie passt zu diesem Abend:

Der Maler Leonardo da Vinci hatte den Auftrag bekommen, das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern darzustellen. Es sollte ein großes Wandbild im Speisesaal eines Klosters werden. Einige Jahre hatte er schon daran gearbeitet. Die Mönche des Klosters stellten sich bereitwillig zur Verfügung, dass Leonardo den Jüngern ihre Gesichter gab. Nur für zwei Köpfe hatte der Meister - verständlicherweise - keine Vorbilder unter den Klosterbrüdern gefunden: Den Jesu und den des Judas.

Da waren also auf dem sonst fertigen Gemälde an zwei Stellen weiße Flecke! Für Jesus Modell zu sitzen, verbot den Mönchen die Bescheidenheit und der geistliche Anstand. Und für Judas... Für den gab sich schon gar keiner her! Also machte sich der Maler außerhalb des Klosters auf die Suche. Ohne ein Modell konnte er nicht auskommen. Er war es gewohnt nach der Natur zu malen. Wochenlang streifte er durch die Straßen und die Parke der Stadt. Hunderte von Gesichtern prüfte er mit dem Blick des Künstlers. Wo waren die feinen Züge des Jesus? Wer strahlte die Liebe und Wärme aus, die der Meister "seinem" Christus verleihen wollte? Eines Tages wollte sich Leonardo auf die andere Seite des Flusses übersetzen lassen, der die Stadt durchschnitt. Er dachte, dass er vielleicht dort drüben sein Modell finden würde. Als er in der Fähre saß, die ihn hinüberbringen sollte, fiel sein Auge auf den Fährmann. Ein wunderschöner Jüngling mit ebenmäßigem Gesicht. Mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen trieb er das Boot an. Er schien ganz erfüllt vom Frieden einer in sich gefestigten Persönlichkeit. Es war etwas um ihn her, das sprach von Tiefe des Charakters und der Zuneigung zu allen Menschen. Der Künstler hatte seinen Jesus gefunden. Der junge Mann willigte auch ein, dem Meister Modell zu sitzen. Als der Christus des Bildes vollendet war, waren Maler und Auftraggeber höchst zufrieden mit der Wahl. Der Jüngling erhielt seinen Lohn und zog seiner Wege.

Nun fehlte nur noch der Kopf des Judas. Er sollte die Bosheit des Verrats in seinem Gesicht spiegeln, die Verschlagenheit eines Mannes, der seinen Freund ausliefert, die Verruchtheit eines Menschen, der einen Unschuldigen in den Tod bringt. Leonardo aber fand keinen, der dem entsprochen hätte. Es vergingen 10 Jahre, in denen Leonardo immer weiter auf der Suche war. Bestimmt einige 1000 Männer hatte er daraufhin angesehen, ob sie nicht "sein" Judas werden könnten. Ohne Erfolg. Eines Abends, der Künstler war wieder auf einem seiner Streifzüge nach seinem Modell, flog in unmittelbarer Nähe des Meisters eine Tür auf und ein Betrunkener wurde von harten Händen hinausgestoßen. Es war eine finstere Spelunke, in der man diesem Trunkenbold offenbar kein weiteres Glas füllen wollte. Leonardo sprang hinzu, half dem Gestrauchelten auf, der kehrte ihm sein Gesicht zu - und der Meister erkannte in einem Augenblick: Das war Judas! Dieser Mensch war gezeichnet vom Branntwein, verquollene Züge und ein boshafter Blick. Ein ganzes elendes Schicksal stand in diesen Augen! Ihm hätte man alles zugetraut, was der Jünger Judas vollbracht hatte. Er wäre fähig gewesen zum Mord, zum Verrat, zur Auslieferung - selbst eines Freundes. Das war Judas!

In den nächsten paar Tagen malte der Meister sein Modell. Er bezahlte ihn in flüssiger Währung, immer wenn der trunksüchtige Mensch nach einem weiteren Glas verlangte. Dabei lallte er stets nur Unverständliches, war auch nicht fähig seine Umgebung oder was mit ihm geschah wahrzunehmen. Am achten Tag, der Meister war gerade dabei, die letzten Pinselstriche des Porträts zu vollenden, fiel der trübe Blick des unglücklichen Mannes von ungefähr auf das Gesicht des Jesus auf dem Wandbild. Im Nu ging eine Veränderung mit ihm vor: In seinen Augen blitzte ein Erkennen auf; er sprang auf, der ganze Mensch schien bis ins Innerste getroffen. In einer Aufwallung des Gemüts, die ihm keiner zugetraut hätte, schrie er auf, raufte sich die Haare und rannte aus dem Kloster.

Leonardo dachte zuerst, der trunksüchtige Mensch wäre von der Anmut und Ausstrahlung seines Christus' derartig angerührt worden. Nachforschungen ergaben aber etwas anderes: Der so heruntergekommene Mann war durch verschiedene Schicksalsschläge immer tiefer gesunken. Ursprünglich hatte er einen Beruf ausgeübt und ein ganz normales Leben geführt. Widrige Umstände, der Tod der Frau, der Verlust der Arbeit und der damit verbundene gesellschaftliche Abstieg hatten ihn an den Alkohol und in die Gosse gebracht. Ein Schankwirt wusste sogar, welchen Beruf der unglückliche Mensch früher gehabt hätte: Er wäre Fährmann gewesen. - Der Christus des Wandbildes hatte dem Judas sein eigenes früheres Gesicht gezeigt. In einem Jahrzehnt war aus "Jesus" "Judas" geworden.

Liebe Gemeinde, eine wahre Geschichte. Eine Geschichte zu diesem Abend. Ich glaube, sie verstehen jetzt, dass einen dieser Gedanke stark beschäftigt: Wie kann ein Mensch sich so verwandeln? Wie können aus den edlen Zügen des "Jesus" die Verschlagenheit und der Verrat eines "Judas" herausblicken? Ich weiß darauf auch keine Antwort. Die Geschichte lässt uns hier im Stich. Sie sagt uns nicht, was genau das Ereignis gewesen ist, das den Fährmann damals so aus der Bahn geworfen hat. Sie verschweigt uns, welches der stärkste Einfluss war, der den Mann auf den Weg nach unten gebracht hat. Vielleicht waren es die vielen Schicksalsschläge gemeinsam? Wieviel erträgt ein Mensch, bis er aufgibt und es ihn in die Gosse treibt? -

Mich bewegt an dieser Geschichte eigentlich am meisten, dass so etwas möglich ist. Es kann geschehen! Ein makelloser Mensch kann durch die Ungunst des Geschickes in Sünde und Verzweiflung geraten. Eine Frau, die wir für die Güte selbst halten, kann durch ein allzu schweres Schicksal böse und ungerecht werden. Ein Mann der Liebe und Gerechtigkeit kann zum Verbrecher werden, wenn das Leben ihn nur allzu sehr quält. Es ist alles offen.

Wir fragen jetzt vielleicht, wo denn der Gründonnerstag, die Passion, das Leiden und Sterben Jesu sind in diesen Gedanken. - Für wen ist denn Christus am Kreuz gestorben? Für alle Menschen, werden wir antworten, wie sich das gehört. Wir denken doch aber dabei meist weniger an uns, vielmehr an die "Bösen", die mit dem verkehrten Lebenswandel, Menschen, die wirklich so sind wie Judas, die falschen Leute, die anderen... Und selbst jene, die es oft im Munde führen: Christus ist für mich gestorben, meinen meist: "Für mich, als ich noch Sünder war, für mich, vor meiner Bekehrung, für mich, als ich noch nichts von Vergebung wusste." Diese Geschichte könnte uns etwas anderes sagen: Auch in mir ist Judas. Auch ich bin des Herrn Verräter! Ich könnte es sein! Darum: Für mich, wirklich für mich und meine Schuld und Bosheit muss dieser Herr ans Kreuz! Und selbst wenn ich heute der beste Mensch wäre - es ist noch nicht ausgemacht, wer ich vielleicht schon bald sein werde! Aus dem milden Antlitz des Jesus blicken später die verschlagenen Züge eines Judas hervor. Es ist alles im Fluss, alles ist möglich. Nichts ist endgültig: Das Gute nicht und das Böse nicht. Es mag heute - da ich mich für sündlos halte - schon der Keim zum Schlechten gelegt sein. Bin ich auch an diesem Abend noch an der Hand meines Herrn, so kann ich ihn doch morgen schon ans Kreuz bringen. Was dahin führt, ist vielleicht ein Geschick, das mir zu schwer ist zum Tragen. Es ist leicht, gut sein, wenn man im Glück ist. Es ist dasselbe Herz, das heute Liebe verschenkt und morgen hasst.

Noch einmal: Für wen ist Christus gestorben? - Für alle Menschen! Für dich und mich. Für die Guten und die Bösen. Für die, die wir heute sind und die, die wir schon morgen sein können. Christus ist für die Schuld der Menschen ans Kreuz gegangen. Sie wohnt in jedem Menschen - ohne Ausnahme. Sie kann heute schon sichtbar und wirksam sein. Sie kann morgen - durch den Weg, den ich geführt werde - ans Licht kommen. Darum: Auch ich habe den Herrn ans Kreuz gebracht!

Liebe Gemeinde, ich kann mir vorstellen, dass manche von Ihnen immer noch denken: Aber die Geschichte von dem Fährmann ist doch ein ganz seltener Fall! So etwas Ähnliches geschieht doch nur alle hundert Jahre! - Gewiss: Vom Jesus zum Judas...das ist eine ganz und gar extreme, einmalige Sache. Aber auch ein Petrus ist ja vom treuesten Jünger zu einem Verleugner seines Herrn geworden! Darum wird die Aussage der Geschichte durch die Erfahrung gedeckt: Es kann geschehen! Aus dem guten Menschen kann das Geschick einen Verbrecher machen. Der Keim des Bösen ist in uns allen. Darum ist Christus für uns alle gestorben! Und nicht nur so, wie wir das in unseren frommen Reden und in unserer gottesdienstlichen Liturgie sagen. Nein, buchstäblich: Für uns gestorben, wegen unserer Schuld, unserer Sünde, unserer Bosheit, unserer Verleugnung, unserem Verrat. Darum haben wir auch alle die Vergebung nötig. Und wir gehen heute auch nicht zum Abendmahl, weil es halt wieder einmal dran ist, weil wir heute halt des letzten Abendmahls Jesu mit seinen Jüngern gedenken oder gar, weil es uns peinlich wäre, vor der Mahlfeier die Kirche zu verlassen. Nein, wir tragen alle Schuld in uns, wir sind allzumal Sünder, in uns ist die Möglichkeit zum Verleugnen, der Keim des Verrats. Vielleicht ist es nur die Gunst unseres Schicksals bis heute, wenn das noch nicht offenbar geworden ist, wer und was doch auch in uns schlummert. –

Aber einen tröstlicher Gedanken wollen wir zum Schluss auch noch sagen, ich finde, es ist der tröstlichste Gedanke überhaupt: Durch Leiden und Sterben für uns, durch das Opfer Jesu Christi am Kreuz ist jetzt auch das andere möglich: Noch der schlechteste Mensch kann durch Jesu Tod Vergebung erlangen und recht werden vor Gott. Selbst wenn er wie Petrus oder gar wie Judas wäre! AMEN