Ich mache mit dieser Predigt eine Anleihe in der 3. Perikopenreihe. Da es in den Kirchenjahren kaum einen 22. Sonntag nach Trinitatis gibt und ich keine Predigt zum vorgeschlagenen Text habe, meine ich das tun zu dürfen.

Predigt am 22. Sonntag nach Trinitatis - 23.10.2016


Textlesung: Mt. 18, 15 - 20

Sündigt aber dein Bruder an dir, so geh hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Hört er nicht auf dich, so nimm noch einen oder zwei zu dir, damit jede Sache durch den Mund von zwei oder drei Zeugen bestätigt werde.

Hört er auf die nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er auch auf die Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide und Zöllner.

Wahrlich, ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein.

Wahrlich, ich sage euch auch: Wenn zwei unter euch eins werden auf Erden, worum sie bitten wollen, so soll es ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel. Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.

Liebe Gemeinde!

Als evangelischer Prediger möchte man schon gleich auf dieses Wort in der Mitte dieser Verse zusteuern: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein. Das ist nämlich das Gegenstück zum Wort Jesu, auf das sich die katholische Kirche beruft, wenn sie Petrus - und seine Nachfolger bis heute - als Stellvertreter Christi auf Erden bezeichnet. Da - in Mt. 16,19 - wendet sich nämlich Jesus nur an Petrus und sagt: "Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein." - Wenn wir darüber sprechen wollten, würde das eine Betrachtung darüber ergeben, ob nur einer (- der Priester, sozusagen als Teilhaber des päpstlichen Auftrags), oder eben wie wir Evangelische es sehen, die Gemeinde (und jedes ihrer Glieder) die Macht hat, Menschen zu binden und zu lösen, ihnen also die Schuld zu behalten oder zu vergeben. Aber diese Diskussion pflegt sich immer wieder ziemlich fruchtlos zu entwickeln: Beide Seiten stehen am Ende immer noch genau da, wo sie am Anfang gestanden haben. Und das geht so seit bald 500 Jahren.

Darum wollen wir uns lieber dieser kleinen Ordnung zuwenden, wie wir als Christen damit umgehen sollen, wenn uns ein Mitchrist Unrecht getan hat. Damit können wir alle gewiss etwas anfangen und nehmen von heute eine Verhaltensregel mit nach Hause, die uns wirklich im praktischen Leben helfen kann.

Gehen wir den drei Punkten dieser Ordnung einmal entlang und prüfen wir an ihr, wie wir es bis heute gemacht haben, wenn ein Nächster uns Böses getan, uns beleidigt, erzürnt oder schlecht über uns geredet hat:

1. Sündigt aber dein Bruder an dir, so geh hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein.
Ich glaube, das müssen Sie mit mir bekennen: Das war und ist bei uns meist ganz anders!
Nehmen wir einmal an, einer hat uns verleumdet. Wir haben davon sicher meist nicht direkt, sondern über einen oder gar einige Zwischenträger erfahren. Vielleicht haben wir dann in unserem Ärger darüber gedacht: Warum nur hat er nicht wenigstens den Mut, uns seine Lügen und die Verdrehung der Wahrheit ins Gesicht zu sagen? Dann hätten wir uns gleich an der richtigen Stelle beschweren können. So aber müssen wir damit rechnen, dass der Verleumder abstreitet, auch nur irgendetwas über uns geäußert zu haben. Und am Ende geht das Gerücht über uns weiter seine Wege und wir können nichts dagegen tun, müssen vielmehr ohnmächtig zusehen, wie unser Ruf beschädigt und unser Herz beschwert wird.

Wir hätten also jetzt allen Grund, selbst nicht genau so zu verfahren, selbst nicht zu Dritten über den zu reden, der uns verleumdet, selbst nicht mit gleicher Münze, also mit übler Nachrede und bösen Gerüchten über ihn herzufallen. - Was aber tun wir?

Zuerst fragen wir, wenn uns die Verleumdung zu Ohren kommt, meist: Wer hat das gesagt? Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir erfahren wirklich den Urheber (was sehr selten sein wird!), oder wir hören etwas in der Art: Das weiß ich auch nicht. Oder: Ich habe das nur so gehört. Oder auch: Ich weiß es, darf (will?) es dir aber nicht verraten. In jedem Fall aber - selbst wenn wir Glück hatten und den richtigen Namen genannt bekommen - werden wir unsererseits keinen Kontakt mit dem Verleumder aufzunehmen versuchen, sondern öffentlich unsere Gegendarstellung ausstreuen, was dann neuerlich eine Gerüchtekette in Gang setzt und eigentlich niemandem dient - der Wahrheit am wenigsten.

Vielleicht ist das also ein guter Rat - namentlich für uns Christen, die doch der Wahrheit besonders verpflichtet sind: Sündigt aber dein Bruder an dir, so geh hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. Wie gesagt: Vielleicht bekommen wir ja nicht heraus, wer dieser "Bruder" war, der gegen uns gesündigt hat. Dann aber wäre Schweigen immer noch besser, als dass wir zum Gerede beitragen, ja, es noch vermehren. Und wer weiß, irgendwann ergibt sich vielleicht doch eine Gelegenheit, mit dem wirklichen Urheber zu sprechen und wir erleben hinterher dies: Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen.! - Aber die Verhaltensregeln gehen weiter:

2. Hört er nicht auf dich, so nimm noch einen oder zwei zu dir, damit jede Sache durch den Mund von zwei oder drei Zeugen bestätigt werde. Das kommt uns gewiss ein wenig fremd vor in dieser Zeit, in der doch das Motto gilt: Jeder für sich, Gott für uns alle.

Andererseits: Die Bibel weiß es schon lange, die Eheberatung und die Politik z.B. wissen es auch, dass es zu ganz anderen Gesprächs- oder Verhandlungsergebnissen führen kann, wenn jemand dabei ist, wenn wir miteinander reden, der neutral, nicht verwickelt ist in die Sache oder die dazugehörigen Interessenskonflikte. Wie wäre das z.B. für die Ehebrecherin (Jh. 8,3-11) ausgegangen, wenn man nicht Jesus sozusagen als Zeugen ihrer Sünde angerufen hätte? Man hätte sie gewiss gesteinigt! Aber auch für die andere Seite war es gut, Jesus in die Angelegenheit einzubeziehen. Mit seinem Wort: "Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie!", hat er ihnen eine neue, barmherzigere Sicht auf die Frau und ihre Tat eröffnet.
Mancher Eheberater könnte uns davon erzählen, wie wichtig es war, dass die Eheleute einmal ihre Sache vor einen Dritten (und vielleicht eine Gruppe?) gebracht haben. Da überlegt man sich doch gleich besser, was man sagt und wie man es sagt. Außerdem hat das, was nicht nur einer meint, größeres Gewicht und je mehr Menschen mir deutlich machen, dass ich umdenken und mich ändern muss, umso besser. Die Ehen, die dadurch noch einmal eine Chance bekommen und die Liebe zueinander neu entdeckt haben, zählen - allein bei uns - nach Tausenden!
Und schließlich kann man sich heute kaum noch vorstellen, dass ein großes, reiches Land mit einem kleinen, armen Land der Dritten Welt Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit führt. Da würde der schwächere "Partner" gewiss über den Tisch gezogen. Im Europäischen Parlament oder der UNO allerdings werden viele andere darauf achten, dass beide Seiten zu einem gerechten Ergebnis kommen. - Und hier ist noch der dritte Punkt:

3. Hört er auf die (Zeugen) nicht, so sage es der Gemeinde. Vielleicht erscheint uns das ja jetzt so ein wenig wie "Petzen" in der Schule: "Herr Lehrer, ich weiß was!" Außerdem bewegt uns sicher die Frage, wie das denn heute praktisch gehen soll: Wer ist das denn, die "Gemeinde"? Der Kirchenvorstand, die Pfarrerin, der Pfarrer, die Menschen, die den Gottesdienst besuchen? Hier ist hilfreich, was Jesus am Ende dieser Verse sagt: ... wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. Ich will es einmal so ausdrücken: Das kann jede Mitchristin, jeder Mitchrist aus der Gemeinde sein, an die wir uns wenden. Wichtigste Bedingung ist dabei, dass es "im Namen" Jesu Christi geschieht, also nicht weil wir uns rechtfertigen oder gar jemanden auf unsere Seite ziehen wollen. "Im Namen Jesu" heißt: Der Wahrheit verpflichtet! Alles so darstellen, wie es wirklich gewesen ist und auch davon nicht schweigen, was vielleicht an Ärger oder als Ursache des Verhaltens unseres "Bruders (oder unserer Schwester), der/die gegen uns gesündigt hat", von uns ausgegangen sein könnte. Vielleicht spricht der Mensch aus der Gemeinde dann mit dem "Bruder" oder der "Schwester"? Vielleicht sagt er auch zu uns Worte, die unseren Anteil am Konflikt betreffen?

Jedenfalls kommt hier die Verhaltensregel, die uns Jesus heute vorgelegt hat, an ihr Ende. Jetzt haben wir alles Nötige getan, dass die Sache wieder in Ordnung kommen kann. - Aber erst jetzt! Alles Weitere liegt in Gottes Hand und in der Hand dessen, den wir aus der Gemeinde ins Vertrauen gezogen haben.

Ob wir diese kleine Ordnung für das Verhalten bei Streit, Konflikten und übler Nachrede nicht wirklich von heute mit nach Hause nehmen sollten? Prüfen wir sie doch einmal, wenn uns demnächst wieder hinterbracht wird, was diese oder jener über uns gesagt haben soll. Ich bin davon überzeugt, dass es eine gute, hilfreiche Verhaltensregel ist! Wir werden das daran spüren, dass Segen von ihr ausgeht. AMEN