Predigt am Vorl. So. im Kirchenjahr - 16.11.2003

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Liebe Gemeinde!

Ein Achtjähriger fragt im Religionsunterricht seinen Lehrer: „Gell, Herr Meier, an Weihnachten haben sie Jesus doch umgebracht?" - Ein Pfarrer beklagt, daß in seiner Konfirmandengruppe nicht einer weiß, was im Ort eigentlich gefeiert wird, wenn "Kirmes" ist. - Und vielleicht fragen sie einmal ihre Kinder oder Enkel, was sie denn mit dem "Volkstrauertag" verbinden, aber setzen sie sich vorher - es könnte ernüchternd, ja, erschreckend sein, was da herauskommt.

Was will ich damit sagen? - Nein, wir wollen uns jetzt nicht gemeinsam aufregen über den Mangel an Bildung zumal der jungen Menschen unserer Tage in religiösen Dingen. (In anderen Bereichen ist es nicht anders!) Wir wollen überhaupt nicht darauf den Finger legen; wir wollen es nur einmal feststellen: Es ist nicht mehr alles Allgemeingut, was unsere Mütter und Väter und vielleicht wir selbst noch wußten und wissen. Es ist nicht sozusagen selbstverständlich, daß einer die Feste der Christenheit kennt und ihren Anlaß weiß. Wir können nicht mehr davon ausgehen, daß einer die Geschichten um Jesus nacherzählen kann, den Noah mit der Arche verbindet und nach Kain den Abel nennt. Und vielleicht hat das ja auch mit uns als Eltern und Großeltern zu tun, daß unsere Kinder und Enkel in diesen Dingen wenig bewandert sind. Denn wie viel haben wir ihnen schon davon erzählt? - Aber bleiben wir zunächst bei dieser Sache: So ist es. Nichts mehr - auch noch von den wichtigsten, ja, heiligsten Dingen - ist selbstverständlich bekannt. Alles kommt also darauf an, daß wir es unseren Nachkommen neu sagen und einprägen.

Heute ist Volkstrauertag, ein Tag des Gedenkens und der Erinnerung, den die bürgerliche Gemeinde begeht. Aber es war und ist auch schon immer ein Anliegen der Kirchengemeinde, daß dieser Tag begangen wird und seinen wichtigen Sinn behält. Deshalb sind wir ja auch jetzt und jedes Jahr zu einem Gottesdienst zusammen, denn wir spüren, daß dieser Tag und sein Inhalt auch mit Gott und seiner Sache in der Welt zu tun hat. Und ich glaube, daß uns an diesem Tag die Fragen, die ich eben angesprochen habe, ganz besonders nahegehen. Das haben wir doch alle gemerkt in den letzten beiden Jahrzehnten: Wie doch immer weniger zu diesem Gottesdienst am Volkstrauertag kommen und auch die Schar derer, die sich nach dem Gottesdienst am Ehrenmal für die Gefallenen und Vermißten versammeln. Und ich spreche sicher aus, was wir alle empfinden, wenn ich sage: Von der einen oder dem anderen aus unserer Gemeinde würden wir es ja eigentlich auch erwarten, daß sie zu diesem Anlaß erscheinen, wenn schon nicht hier in der Kirche, dann doch wenigstens nachher am Ehrenmal; denn der Name des Vaters, des Großvaters, des Bruders oder des Kameraden aus Jugendtagen steht da in den Stein eingemeißelt. Aber es ist eben - namentlich bei den jüngeren Menschen - nicht nur pietätloses oder gleichgültiges Verhalten, wenn sie nicht kommen. Es ist oft schiere Unkenntnis. „Volkstrauertag" - was ist das eigentlich? Warum soll ich da hingehen? Warum soll ich mich da beteiligen?

Ja, liebe Gemeinde, was ist das: Volkstrauertag? - Wenn wir ein wenig darüber nachdenken, werden wir feststellen: Der Sinn dieses Tages hat sich gewandelt. Die Reden, die von unseren politischen Vertretern an diesem Tag gehalten werden, sprechen heute weniger von den Toten, Gefallenen und Vermißten der beiden großen Kriege, als vielmehr vom Frieden und von dem, was wir heute dazu beitragen können, daß Friede wird und bleibt - im Kleinen und im Großen. Und ich finde das gut und richtig, daß man dem Tag auch ein neues Thema dazugegeben hat. Die Angehörigen von im Krieg Gefallenen und Vermißten werden naturgemäß immer weniger werden. Gut also, wenn man auch andere Menschen anspricht mit einer Sache, die alle angeht - eben dem Frieden.

Aber dabei müssen wir auch gleich wieder einschränken: Das Thema „Frieden" ist wichtig, gewiß. Aber in Zeiten wie den unseren, in denen er doch nicht so sehr gefährdet ist, könnte am Volkstrauertag ja noch eine andere Sinngebung wichtiger sein? Einen Sinn, den ich da sehe und diesem Tag gern noch hinzufügen würde, bringt uns der Predigttext zu diesem Sonntag nahe.

Textlesung: Mt. 25, 31- 46

Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.

Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!

Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.

Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?

Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?

Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.

Vielleicht haben sie ja jetzt schon gespürt, was ich meine? Wie selbstverständlich ist den einen in dieser Geschichte doch ihr Verhalten, ihr Besuch bei dem Kranken, das Bekleiden des Nackten, dem Hungrigen zu essen und dem Durstigen zu trinken zu geben... Die Menschen, die so getan haben, sind es gar nicht gewahr geworden. Es war ihnen eben die selbstverständlichste Tat, die nicht befohlen werden mußte, ja, die sie selbst gar nicht beachtet hatten. Und die anderen? Denen war eben nichts selbstverständlich. Die haben nichts gewußt, nichts von selbst gesehen, nichts getan. Und warum?

Gehen wir von der günstigsten Möglichkeit aus: Es hat ihnen niemand gesagt, daß ein Gefangener sich freut, wenn er Besuch bekommt. Es hat ihnen niemand gesagt, daß man dem einen Trunk reicht, der Durst hat und dem ein Stück Brot, den hungert. Es hat ihnen niemand gesagt, daß der Nackte Kleidung braucht und der Arme eine Hilfe. Liebe Gemeinde, sagen wir jetzt nicht, aber das gibt es doch gar nicht. „So etwas weiß man doch, da tut man doch was, da hilft man doch - als Mensch und schon gar als Christ..." - Erinnern wir uns: „Gell, Herr Meier, an Weihnachten haben sie Jesus doch umgebracht?" Zu „Kirmes" fällt nicht einem von vielleicht 20 Konfirmanden etwas Vernünftiges ein. Machen sie die Probe, was ein junger Mensch in ihrem Haus wohl zum Volkstrauertag meint! - Also: Nichts mehr ist selbstverständlich! Nichts mehr wird einfach getan, weil es doch getan werden muß. Und schon gar nichts bewegt von selbst den Kopf, die Hände und die Füße der heutigen Menschen, nur weil es „christlich" ist. Und darum, so müssen wir fürchten, darum wird uns und unsere Kinder von unserem Herrn wohl auch eher dieses Urteil treffen: "Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan." Aber - so sagt es diese Geschichte auch unmißverständlich - es wird zu wenig sein, uns dann zu entschuldigen und zu sagen: "Wir haben nichts gewußt! Wir haben doch nicht wissen können, was du, Herr, von uns willst."

Und darum, liebe Gemeinde, laßt uns dem Volkstrauertag in diesem Jahr noch diesen Sinn hinzufügen: Daß wir uns neu erinnern, daß wir diesen Tag im Jahr nutzen, uns vor Augen und Herzen zu führen, wo wir herkommen - auch als Christen, was unsere Geschichte ist, wie unser Leben war und was uns so hat werden lassen, wie wir sind. Ja, wir wollen uns erinnern an diesem Tag und wir wollen davon reden - vor allen, die wir erreichen können und besonders vor unseren Kindern und Enkeln!

Vielleicht fangen wir da an, was der erste, älteste Sinn dieses Tages ist und bleibt: Daß wir unserer gefallenen Väter, Söhne, Brüder, Kameraden und aller anderen gedenken, die uns der Krieg genommen hat. Und vielleicht führt uns das dann zum zweiten: Daß wir begreifen, wie wichtig es ist, alles daran zu setzen, daß Frieden bleibt und wird in der Welt. Daß wir selbst dem Frieden dienen, der Verständigung und der Toleranz zwischen den Menschen, den Völkern, den Rassen und denen, die bei uns fremd sind und denen, die schon immer unter uns wohnen... Und wie von selbst wird uns das zum dritten führen: Wir werden neu verstehen, daß alles das davon herkommt, daß unser Volk eine christliche Vergangenheit hat. Ja, wenn auch an vielen Stellen nur noch wenig davon zu spüren ist, es kommt alles von da her... Und ohne die christliche Hoffnung im Hintergrund auch unseres Lebens müßten wir verzweifeln über jeden Tod und schon gar den so frühen und gewaltsamen. Aber wir können unserer Gefallenen und Toten der Kriege in aller Zuversicht gedenken, weil wir als Christen wissen, daß kein Tod vergeblich ist, daß alle, die da sterben, eine ewige Zukunft haben und in Gottes guten Händen geborgen sind. Und wir können am Frieden und an der Verständigung arbeiten und dabei auch einmal von uns und unserem Vorteil absehen, weil wir als Christen wissen, für uns ist gesorgt, wir vergeben uns nichts, wenn wir das Wohl eines Mitmenschen einmal höher stellen als unser eigenes. Es kommt von Gott tausendmal zurück, es wird uns deshalb nicht schlechter gehen, sondern besser, wir werden niemals ärmer durch gelebte Liebe, sondern immer nur reicher.

Ja und dann können wir von alledem ein Zeugnis geben, davon erzählen, weitergeben an unsere Kinder, Enkel und alle, die wir erreichen. Daß wir ihnen den Sinn unserer Kirchenfeste neu erhellen, daß unsere Nachkommen noch und wieder wissen, wie sehr diese Feste und ihr Inhalt die Alten und doch auch uns selbst noch geprägt und bestimmt und ihnen und uns für das Leben Halt und Richtung gegeben haben. Ja, erzählen wir unseren Kindern auch, was wir an der "Kirmes" feiern, nämlich den Geburtstag unserer Kirche, in der vielleicht schon unsere Eltern und Ahnen getauft, getraut und in Gottes Hände zurückgegeben wurden. Und verhehlen wir nicht die Gefühle, die dann in uns aufsteigen. Zeigen wir unseren Lieben, daß uns das auch das Herz anrührt, wenn wir uns an all das erinnern. Tränen und innere Bewegung werden unser Zeugnis nur unterstreichen. Denn das ist eine große, wichtige Sache, daß wir diese Tradition haben und von dieser Vergangenheit herkommen. Ihr verdanken wir, was wir heute sind. Und ohne sie, wären wir nicht, wer wir sind und auch die, die von uns herkommen, wären nicht dieselben, denn sie sind wieder durch uns geworden, wie sie heute sind.

Es wird so viel über die Werte gesprochen in dieser Zeit, und wir beklagen den Verlust - besonders der christlichen Werte - in unseren Tagen. Hier, bei diesen Gedanken um den Sinn des Volkstrauertages in unserer Zeit, sehe ich einen Beitrag, den jede und jeder von uns leisten kann: Daß wir diesen Tag nutzen, uns zu erinnern an alle, die wir verloren haben, daß wir uns besinnen, was uns an ihnen lieb und wichtig war, daß wir auch darüber nachdenken, was die Kirche und der Glaube uns bedeutet haben und noch bedeuten, daß wir wir uns alles einmal neu vor Augen und vor die Seele führen, was uns in unserem Leben an Halt, Trost und Hilfe durch die Kirche und den Glauben geschenkt worden ist - und daß wir nach Kräften auch unseren Nachkommen von diesem Halt, diesem Trost und dieser Hilfe weitergeben und zugute kommen lassen durch unser erzählendes Zeugnis.

Es darf einfach nicht so sein, daß Kinder in unserer Nähe Weihnachten mit dem Tod Jesu in Verbindung bringen. Es darf einfach keinem unbekannt sein, daß an Kirmes die Kirche Gottes im Ort Geburtstag hat. Jeder muß wissen: Volkstrauertag ist ein Tag der Erinnerung, des Friedens, der Besinnung und Erneuerung...