Predigt zum 1. So. nach Trinitatis - 22.6.2003

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Liebe Gemeinde!

Den heute vorgeschlagenen Text könnte man predigen...wenn man wollte...da würden hinterher viele sagen, ich hätte die Situation ausgenutzt! Dann hieße es vielleicht: "Heute wurden auf der Kanzel ja geradezu die Flammen der Hölle entzündet, man hat es direkt knistern hören!" - Aber mancher würde dann gewiß auch so denken: "Mit einer solchen Predigt gewinnt man doch niemanden, so erschreckt man nur!" - Jetzt sind sie sicher gespannt auf diesen Text! Hier ist er:

Textlesung: Lk. 16, 19 - 31

Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren und begehrte, sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel; dazu kamen auch die Hunde und leckten seine Geschwüre.

Es begab sich aber, daß der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben.

Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen.

Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, und du wirst gepeinigt. Und überdies besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, daß niemand, der von hier zu euch hinüber will, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber.

Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, daß du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual.

Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören.

Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.

 

Das muß man wirklich sagen: Die Sache mit dem Reichen, der in die Hölle kommt und dem Armen, der nach dem Tod in Abrahams Schoß getröstet wird ist schon eine sehr drastische Geschichte! Sie kann auch Angst erregen. Und sie wirbt nicht gerade für Gottes Sache und macht auch nicht neugierig auf die Kirche und die Gemeinde der Christen. Sie weckt eher Vorbehalte und Ablehnung... Ich möchte eigentlich aber lieber für Kirche, Gottesdienst und Gemeinde werben! Und ich finde, wir Christinnen und Christen dürfen alle nicht müde werden, zur Gemeinde, dem Gottesdienst, den Kreisen und Gruppen, die unter unserem Kirchturm stattfinden, einzuladen. Aber eben "einzuladen"! Und das geht niemals mit Angstmache und irgendwelchem Druck. Das geht nur mit Liebe und freundlichem Angebot, mit eigenem Vorbild und eigener Überzeugung und daß man selbst von dem begeistert ist, wozu man andere einlädt.

Ich möchte ihnen ein Märchen erzählen. (Es stammt aus dem Lieblingsbuch meiner Kindheit: "Die glücklichen Inseln" (von Wilhelm Matthiesen) heißt es. Und es ist auch noch mein Lieblingsmärchen aus diesem Buch.) Ich finde, es paßt sehr gut zum Text, den wir heute predigen sollen - und ihm gelingt es vielleicht - ohne Angst zu machen! - seine Botschaft in ihre Ohren und Herzen hinein zu sagen. - Ich fasse das Wesentliche an diesem Märchen mit meinen Worten zusammen:

Ein Junge kommt bei einem Buchhändler in die Lehre, dem Buchmännchen. Er darf auch bei seinem Lehrherrn wohnen, in einem Haus, das vom Keller bis zum Dach voller Bücher ist. Oben im Dachstübchen bekommt der Junge sein Kämmerchen zugewiesen. Von nun an lernt der Junge wie man Bücher kauft und verkauft, wie man alte Bücher pflegt und restauriert, wie man sie in Listen aufnimmt und in Regalen ordnet und aufbewahrt. Immer wenn das Buchmännchen über Land ausfährt, um auf Dachböden und in Kirchensakristeien wertvolle alte Folianten und Bibeln aufzustöbern, nutzt der Junge die Zeit, das Bücherhäuschen seines Herrn zu erkunden. Immer wieder entdeckt er dabei neue Stübchen und Gänge, vom Boden bis zur Decke mit Büchern zugestellt.

Eines Tages kommt der Junge in ein kleines Zimmerchen, in dem auch das Bett des Buchmännchens aufgebaut ist. Auch hier bestehen alle Wände aus Buchrücken und Regalen. Nur an einer Stelle ist Platz für eine uralte, schon arg rostige Eisentür ausgespart. Diese Tür hat keine Klinke und man sieht auch keinen Mechanismus, sie zu öffnen. Als der Junge aber wie zufällig dreimal dagegen klopft, springt sie auf und ein riesiger, behaarter Kerl steht deckenhoch im Raum und fragt nach dem Begehr des Jungen. Beim ersten Mal bittet der erschreckte Junge den Troll, nur recht bald wieder zu verschwinden. Dann aber faßt er sich ein Herz, klopft neuerlich an die Eisentür und bestellt sich bei dem haarigen Geist ein üppiges Abendessen. Überdies bittet er den Troll, beim Schmausen doch kräftig mitzuhalten. So kommen sie ins Gespräch. Der Geist erzählt dem Jungen, daß er dem Buchmännchen schon bald 60 Jahre dienen muß, immer wenn es an die eiserne Tür schlägt. Und er erzählt ihm, was diese Dienste wären: Stockflecken aus den Folianten beseitigen, Eselsohren in alten Bibeln glätten, eingerissene Seiten kleben und lederne Bücherrücken reparieren und metallene Buchschließen auf Hochglanz bringen und noch dergleichen läppische Arbeiten, die seiner eigentlich unwürdig wären. Noch nie hätte das Buchmännchen, so wie er heute, ein Essen bestellt oder sonst etwas, wobei er seine wirkliche Macht hätte zeigen können. Des Buchmännchens Ansprüche wären nur die einfachsten Dienste: Stockflecken, Tintenkleckse, fehlende Seiten...

Wir können uns denken, wie das Märchen weitergeht: Immer wieder, wenn sein Herr über Land ist, klopft der Junge an die Eisentür und läßt den Geist hervorkommen. Und er stellt ihm große, angemessene Aufgaben: Eine sechs-spännige Kutsche läßt er erscheinen, mit dem Geist selbst als Kutscher, mit der fährt er sein altes Mütterchen aus. Ein Festbankett läßt er den Troll ausrichten, bei dem er das ganze Städtchen bewirtet. Und schließlich muß der Geist ihn sogar das Fliegen lehren, denn er will doch zu gern einmal die Welt von oben sehen... Alles das erfüllt der Geist nicht widerwillig, sondern voller Freude! Endlich ein Gebieter, der verlangt, was er doch kann, der sehen will, was seine Fähigkeiten sind und vollbringen können!

Liebe Gemeinde! Hier breche ich mit meinem Märchen ab. Ahnen sie schon, was es uns sagen soll? Können sie es in unsere Zeit hinein übertragen und deuten und mit uns und unserem Leben verbinden? Und haben sie auch erkannt, wo die Beziehung zur Geschichte vom "reichen Mann und armen Lazarus" ist? - Aber das war ein bißchen viel auf einmal, wir gehen es der Reihe nach durch... Um hinten anzufangen: Der Reiche sagt zu Abraham: So bitte ich dich, Vater, daß du Lazarus sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. Und Abraham antwortet: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören. Mit dem Märchen im Hintergrund unserer Gedanken könnten wir jetzt sagen: Zu uns muß auch keiner "von drüben" kommen! Wir haben die Bibel, die Kirche, unsere Gemeinde...

Und so können wir jetzt die Beziehung von Lazarus zum Märchen und von dort zu unserem Leben herstellen: Der uralte, zottige Geist ist für mich die Kirche, unsere Gemeinde. Und das Buchmännchen? Das ist für mich der "Reiche", aber sagen wir besser so ein Durchschnittschrist unserer Tage. Wann klopft er an die eiserne Tür? Wenn es um eine Konfirmation, eine Hochzeit oder eine Taufe geht. Und vielleicht noch an Weihnachten - aber nur um ein Stündchen Glanz und Schimmer zu bestellen. Und dann noch - wenn's hoch kommt - einmal im Jahr, sozusagen um die "Stockflecken" zu beseitigen (ich meine das Abendmahl in der Passionszeit). Der uralte Geist aber kann mehr, viel mehr! Und es muß uns eigentlich auch niemand darauf aufmerksam machen - Kirche, Gemeinde, Gottes Wort...alles steht doch bereit und wartet nur darauf, daß wir sie nutzen! Und dahin führt uns im Märchen dieser Junge - und im wirklichen Leben auch: Nach anfänglichem Zögern und Zaudern vor dem Troll, will er wissen, was der "uralte Geist", was die "Kirche" vermag. Er ist nicht zufrieden mit dem bißchen Taufen und Trauen. "Ich will eine Kutsche mit sechs Pferden davor!", sagt er. Und er kriegt sie! In unserer Zeit ist das vielleicht der Wunsch, daß unsere Kirchengemeinde das Leben begleitet, das heute ja schwierig genug ist, daß sie Gottes Wort in den Alltag übersetzt und alles, was uns heute an Schönem und Schwerem begegnet von diesem Wort her sieht, bespricht und beleuchtet. Und das kriegen wir doch auch in unseren Gottesdiensten! (Und das bietet unser Bibelkreis!) Und überall wo sich die Gemeinde trifft, nimmt man etwas davon mit: Ein gutes Wort, einen guten Gedanken, einen Anstoß, der uns weiterbringt, hilft, tröstet...

Und der Junge will, daß der Geist ein Festbankett für die ganze Stadt gibt. Und er kriegt, was er verlangt! In unserer Gemeinde wären das vielleicht die Höhepunkte übers Jahr, (das Gemeindefest, die Freizeit im Sommer, die der Kinder im Herbst...). Aber auch unsere Gruppen, die das ganze Jahr über laufen, fallen mir ein. (Der Senioren- und der Ehepaarkreis, die Jungschar, der Jugendkreis, der Frauen- und der Bibelabend...) Was schenkt das allen, die mitmachen doch immer wieder so viel! Erlebnisse von Gemeinschaft und Freude, Lachen und Singen, Feier und festliche Stunden, in denen wir einmal den Alltag hinter uns lassen...

Schließlich will der Junge sogar fliegen! Und er kriegt, was er will! Und ich scheue mich nicht, auch das in unser Leben hineinzubuchstabieren: Ja, auch wir lernen bei unserer Kirche das Fliegen! Das ist sogar - aus einer bestimmten Sicht gesehen - eine der vornehmsten Aufgaben des uralten Geistes hinter der eisernen Tür, uns gerade diesen Wunsch zu erfüllen: Fliegen, sich über den Boden des Alltäglichen zu erheben, alles einmal von oben sehen, von höherer Warte sozusagen... Das kann uns die Kirche geben! Ich meine da ihre Botschaft, die unser Herz und unseren Blick verändern will. Was tun denn die Worte von der Vergebung, von der Liebe und Fürsorge Gottes für uns und die Botschaft vom ewigen Leben, was tun diese Worte denn anderes, als uns über diese Welt und ihre Dinge hinaus zu bringen? Wer hört, daß Gott ihn um Christi willen annimmt und liebhat, so wie er ist, der kriegt Abstand von seiner Schuld - so als flöge er ein paar hundert Meter darüber hin. Sie ist klein dort unten, ja, sie gilt nicht mehr. Und wer es vernimmt und glaubt, daß Gott gerade die Schwachen mag und daß er für alle seine Kinder sorgt, daß es also nicht auf unseren Besitz, unsere berufliche oder gesellschaftliche Stellung und die Karriere ankommt, die wir machen, ein solcher Mensch ist doch in seinem Herzen hoch über allem, was ihn hier unten beschäftigt und beschwert, seine Gedanken und seine Energien bindet. Und schließlich einer, der vom Ewigen Leben weiß, der die Herrlichkeit bei Gott - wo er sie sich schon nicht ausmalen - aber doch glauben und ersehnen kann... Ist ein Mensch mit dieser Aussicht vor Augen und vor der Seele nicht wirklich wie einer, der schwebt, der alles Schwere und Dunkle dieser Welt unter sich und hinter sich läßt und auffliegt wie ein Adler, hin zur Hoffnung und zum Licht?

Liebe Gemeinde, wenn wir jetzt vielleicht auch noch dem Jungen gleichen, als er zum ersten Mal an die eiserne Tür schlägt...wenn wir jetzt vielleicht auch noch zögern, den uralten Geist ein zweites, ein weiteres Mal und immer wieder zu rufen... Wir sollten es tun! Wir brauchen - wie die Brüder des reichen Mannes - niemanden, der uns warnt oder zurecht bringt. Alles Wesentliche ist uns bekannt: Wir haben eine Gemeinde, eine Kirche, Gottes Wort spricht uns an, meint uns ganz persönlich... Wir müssen nur anklopfen - dann geht die Tür auf! Wir brauchen uns nicht zu fürchten. Der alte zottige Kerl will uns freundlich dienen, und er kann so viel mehr, als wir meist von ihm haben wollen.