Predigt zum Reformationstag/-fest - 31.10./2.11.2014 Textlesung: Phil. 2, 12 - 13 Also, meine Lieben, - wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit, - schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach sei- nem Wohlgefallen. Liebe Gemeinde! Vergangenen Freitag war Reformationstag. (Heute ist das Reformationsfest.) Ein sehr wichtiger Tag (wichtiges Fest) für uns evangelische Christen: Wir denken an unseren Reformator Martin Lu- ther. Wir erinnern uns dankbar, dass er das Evangelium, die „frohe Botschaft“ Gottes in der Heili- gen Schrift wiederentdeckt hat. Mit den Worten zu sprechen, die wir eben gelesen haben: Wir sol- len „selig werden“! Wir sind um Jesu Christi willen von Gott gnädig angenommen, unsere Sünde ist vergeben, unsere Schuld hat Christus am Kreuz abgetragen. Durch ihn sind wir ohne unser eige- nes Verdienst gerechtfertigt... Ohne unser Verdienst? Aber warum heißt es dann hier: „Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern?“ Geht es also doch um unsere Werke, unser Tun und Lassen? Will die Seligkeit bei Gott etwa doch verdient werden? Und müssen wir Furcht haben vor Gottes Verdammungsurteil, wie sie Luther in seiner Zeit als junger Mönch empfunden hat, bevor er im Römerbrief die befreiende Botschaft von Gottes Gnade entdeckt hat? Lesen wir weiter, was zugegeben nicht so leicht zu verstehen ist: „Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“ Nein, es geht nicht um die Werke! Wir müssen uns keine eigenen Verdienste erwerben. Vielmehr wirkt Gott auch noch das, was uns vor ihm die Seligkeit erwirbt: Das Wollen und das Vollbringen. Aber das muss uns klar sein. Und das müssen wir uns immer wieder selbst sagen. Und das muss uns immer wieder eingeschärft werden. Denn wir vergessen es so leicht: Es ist allein Gottes Gnade, die uns selig macht. Es ist allein sein Wohlgefallen, das uns den Himmel öffnet. „Furcht und Zittern“ sollen uns immer wieder überkommen, wenn wir das vergessen und doch wieder auf unsere Werke und Ver- dienste weisen. Wir können nichts dafür tun, vor Gott zu bestehen. Er macht uns gerecht, er allein. Liebe Gemeinde, heute ist der Tag, an dem wir das Evangelium in den Mittelpunkt unseres Gottes- dienstes stellen wollen. Wir denken dabei an Martin Luther. Wir verneigen uns heute aber auch vor so vielen Frauen und Männern in der Geschichte unserer Evangelischen Kirche, die um ihres Glau- bens an Gottes Gnade willen verfolgt wurden und teilweise gelitten haben. Und es scheint wichtig und angebracht, auch in der Predigt über die Reformation und was sie für uns bedeutet zu sprechen. Mir kommen da Worte in den Sinn, die man in unseren Tagen immer wieder einmal hören kann: „Ob evangelisch oder katholisch - wir haben doch alle denselben Gott und denselben Jesus!“ Ist das so, liebe Gemeinde? Natürlich!, werden Sie sagen - und ich würde auch so antworten. Aber: Da liegt noch etwas anderes in solchem Reden! Wer so spricht, will auch sagen: Das ist doch heutzuta- ge völlig gleichgültig, ob einer evangelisch oder katholisch ist! Und da möchte ich ganz entschie- den widersprechen! Daran mögen sich die Christen, die sich Katholiken oder Protestanten nennen, vielleicht nicht mehr erinnern - aber es gibt gewaltige Unterschiede, ach was, da liegen Welten zwi- schen den beiden großen Konfessionen - auch noch heute! Bevor mich jetzt einer einen Gegner der Oekumene nennt oder einen Katholikenfresser... Nein, setzen wir uns an einen Tisch - und endlich auch gemeinsam an den Tisch des Herrn(!), beten wir zusammen, halten wir Gottesdienste zusam- men, feiern wir das Mahl zusammen, aber ebnen wir nicht ein, was uns (leider) trennt, was uns un- terscheidet und was namentlich wir Evangelische nicht aufgeben dürfen: Eben das Evangelium von der Gnade Gottes in Jesus Christus, die allein uns selig macht! Nun ist es ja so: Auch dieses Kernstück unseres evangelischen Glaubens ist kein dauerhafter Besitz. Wenn wir das so hören: Evangelium von der Gnade, dann kann nicht jeder evangelische Christ gleich etwas damit anfangen. Immer und immer wieder müssen wir uns das sagen lassen, erklären lassen und uns davon überwinden lassen. Ich habe jetzt bewusst nicht davon gesprochen, dass wir das begreifen oder verstehen müssten, denn mit dem Kopf lässt sich die „frohe Botschaft“, dieses ungeheure Wort von Gottes Gnade nicht begreifen! Sie kann uns nur überwinden, überwältigen. Aber dann wird alles Fragen aufhören, ob es denn wirklich Glaubensunterschiede zwischen Evangelischen und Katholischen gäbe und ob wir nicht eigentlich denselben Gott hätten und denselben Jesus! - Aber beschreiben wir heute am Reformationsfest neu das Kernstück unseres evangelischen Glaubens und tun wir’s in der Hoffnung, dass die überwältigende Gnade Gottes auch heute morgen Menschen innerlich überwindet, die sie vielleicht bisher immer nur ratlos angeschaut haben. Und fangen wir da an, als das Licht der Gnade nach rund 1500 Jahren einiger Finsternis wieder zu leuchten begann: Da war also ein Mönch in einem sehr strengen Kloster. Er war - wie alle Menschen seiner Zeit - gelehrt worden, dass Gott hart und gerecht wäre, dass er nichts durchgehen lasse und jede Schuld der Menschen heimsuche und auf Heller und Pfennig vergelte. So hart ist dieser Gott, dass er und sein hartes Herz geradezu berechnet werden kann: Die und die Sünde - wird bezahlt mit dem und dem Ablass und der und der Strafe. Ja, man sagte diesem Gott sogar nach, er könnte niemals auf die Bezahlung der Schuld verzichten, weil er nun einmal gerecht sein müsse! Wir können uns dabei kaum gegen den Vergleich wehren, dass dieser Gott eigentlich wie ein Automat erscheint, aber ge- wiss nicht wie ein Vater oder ein liebender Freund. So aber war Gott - in der Darstellung der gän- gigen Theologie und in den Augen der Gläubigen. Und so sah es auch unser Mönch, so musste er es sehen. Und er litt an diesem Gottesbild, wie wahrscheinlich viele Menschen vor ihm und nach ihm an dieser Vorstellung litten und leiden. „Ich elender Mensch, wer wird mich von der Schuld erlösen?“ So schrie er manchmal in der Qual dieses Glaubens auf. Und er machte es sich nicht leicht: Er war schon Mönch geworden, hatte auf Besitz, Ehe und eine glänzende Karriere verzich- tet, und er betete ohne Unterlass und er geißelte sich und unterwarf sich aller Genugtuung für sei- ne Sünden. Und er konnte doch keinen Frieden finden: „Ich elender Mensch wer wird mich erlö- sen?“ - Und vor diesem Gott gibt es ja auch keinen Frieden! Und vor diesem Gott werde ich nie- mals fertig mit Schuld und Sühne, neuer Schuld und wieder Sühne in einem Kreislauf ohne Ende. Und ich kann mir keine Verdienste schaffen, denn alles, was ich Gutes tue wird aufgezehrt von meiner Sünde. Noch der beste Gedanke, die Tat aus Güte, das Wort der Liebe wird aufgefressen von der Schuld, die ich längst auf mich geladen habe. Und vielleicht das Schlimmste ist, dass ich diesen furchtbaren, gerechten Gott, der mich verfolgt wie ein Schuldeneintreiber, nicht lieben kann! Aber wir sollen ihn doch lieben, diesen Gott, mit unserem ganzen Herzen, unserer ganzen Seele, von ganzen Kräften... Daran ist unser Mönch fast zerbrochen: Keine Liebe zu Gott zu haben, ja ihn und die Sünde und die ewigen Selbstvorwürfe hassen zu müssen. „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?“ - Und dann geschieht es. In einer Nacht voll Qual und Marter, gefüllt mit der Lektüre der Heiligen Schrift, beschäftigt mit dem Ringen um den rechten Sinn der Worte... Da geht unserem Mönch das Licht auf, nein, viel zu wenig: da strahlt ihm eine Sonne auf mitten im Dunkel seiner Turmstube und mitten hinein in seine geschundene Seele! Er liest den Satz des Paulus: „Der Gerechte wird aus Glauben leben!“ Und er begreift, nein, er ist vom Evangelium ergriffen! Der Gerechte lebt aus Glauben, also macht Gott ja uns gerecht, also müssen ja nicht wir uns bei ihm Vergebung, Gerech- tigkeit und Liebe verdienen! Nein, Gott kommt uns mit all seinen Gaben entgegen. Er beschenkt uns mit seiner Zuneigung und seinem Verzeihen, mit seiner Güte und mit der Möglichkeit immer neuen Anfangs. Gott ist kein Rechenmeister! Er ist der großzügige, grenzenlos gebende Vater der Menschen, der noch und noch und noch gnädig ist und die Schuld seiner Kinder nicht heimsucht und nicht bezahlt haben will. „Die Pforten des Paradieses waren mir aufgetan“, schreibt der Mönch in sein Tagebuch. Das Unterste war ihm zuoberst gekehrt. Alles war ganz anders, als er es gelernt hatte, anders, befreiend und wunderbar! Und er erkannte auch den tiefsten Grund, warum Gott so freundlich, so freigebig zu seinen Menschen ist: Weil Jesus Christus treu war bis zum Tod, weil sein eigener Sohn alle Schuld der Menschen abgetragen hat am Kreuz, weil es seit seinem unschuldigen Leiden für die Schuld der Welt bei Gott nichts mehr zu verdienen gibt. „Wer wird mich erlösen“, so hatte er einmal gesprochen; jetzt wusste er die Antwort: Jesus Christus hat mich erlöst; er hat meine ganze Schuldenlast ans Kreuz gebracht und abgetragen! Gott ist mein Freund, mein Vater, mein gnädiger Gott um Christi willen! Und es war nicht nur diese eine Stelle, die unser Mönch entdeckte. Das ganze Neue Testament konnte er jetzt neu verstehen. Überall sprachen die Texte, die Briefe, die Geschichten ihm jetzt von der Gnade Gottes, von der geschenkten Gerechtigkeit, von seiner Güte und seiner väterlichen Liebe: Der verlorene Sohn bekommt eben nicht bei seinem Vater den verdienten Fußtritt. Der Vater nimmt ihn in die Arme, steckt ihm einen Ring an, bekleidet ihn mit einem neuen Gewand und feiert ein Fest mit ihm. Der Zöllner Zachäus bleibt eben nicht unbeachtet auf seinem Baum; Jesus ruft ihn herab, kehrt bei diesem verachteten, schuldbeladenen Menschen ein, beschenkt ihn mit der Ehre seines Besuchs. Die Ehebrecherin bekommt eben nicht ihre Sünde vorgehalten! Sie wird in Schutz genommen und vor der Steinigung bewahrt. Sie hat Strafe verdient, sie hat sich vor dem Gesetz schwer verfehlt und hört doch nur: Sündige hinfort nicht mehr! Und noch in vielen anderen Geschichten und Gleichnissen macht uns Jesus deutlich, dass unser Gott gnädig ist. Aber nicht nur, was er sagt, auch wie er sich verhält, predigt die Gnade Gottes: Sie haben den Jesus einen Freund der Sünder, einen Zöllnergesellen und einen Genossen der Dirnen und des Abschaums genannt. Und das war er auch! Er wollte es sein, damit wir erfahren, wie gütig unser himmlischer Vater ist. Und eben auch die Paulusbriefe sind voll von der Freude des Apostels über die Gnade Gottes. Alles das verstand unser Mönch jetzt neu und anders, ganz anders: „Die Pforten des Paradieses waren mir aufgetan“! Gott ist gnädig! So ist es das Kernstück unseres evangelischen Glaubens - bis heute. - Und wir können - wie Luther schon - in unserer Bibel davon lesen. Wir können uns das sagen lassen und versuchen zu verstehen... Und irgendwann wird uns das auch aufgehen wie eine Sonne, wird uns umkrempeln und befreien...wie es vielen, vielen evangelischen Christen seit Martin Luther gegangen ist. Und dann wird die Frage verstummen, ob wir nicht eigentlich alle denselben Gott haben... Dann werden wir die Antwort wissen: Ja, es ist derselbe Gott, aber es ist doch ganz unterschiedlich, was wir von ihm erwarten und wie wir mit ihm stehen. So unterschiedlich wie das alte und das neue Testament. Und so unterschiedlich wie ein Leben, das Verdienste vor Gott sammeln möchte und eines, das sich mit Gottes Gnade beschenken lässt. Und wenn wir diese Antwort wissen, werden wir nur noch dankbar sein, in Ewigkeit dankbar für alles, was Gott in seinem Sohn Jesus Christus für uns getan hat. Und wir werden aus dieser Dankbarkeit heraus Gott und unserem Mitmenschen gerne tun, was recht ist und was die Liebe von uns fordert. Und wir werden uns daran freuen, dass es Gott ist, der unsere Seligkeit schafft, der in uns „wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“ Und wir werden das festhalten in unserem Herzen und es nicht mehr vergessen, so lange wir leben. Und wir werden dankbar dafür sein. AMEN