Predigt zum 20. Sonnt. nach Trinitatis - 13.10.2013 Textlesung: Mk. 2, 23 - 28 Und es begab sich, dass er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, wäh- rend sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abimelechs, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Men- schensohn ein Herr auch über den Sabbat. Liebe Gemeinde! Wie unmenschlich sind sie doch, die Pharisäer! Was ist denn schon dabei, wenn ein paar bettelarme Menschen - das waren die Jünger! - am Sabbat ein paar Ähren abzupfen, um den ärgsten Hunger zu stillen! Das war sogar im Gesetz erlaubt! Die frommen Männer aber haben es gesehen und es kam ihnen gerade recht! Jetzt tun sie so, als hätten die Freunde Jesu gleich das ganze Feld abgeerntet - das nämlich war am Sabbat verboten, weil es mit Recht als Arbeit galt. Wie menschlich sind sie aber auch, die Pharisäer! - Im Wohngebiet fährt einer - statt um den gan- zen Block zu fahren - fünf Meter bis zu seiner Hauseinfahrt gegen die Einbahnstraße. Der Nachbar aber, der mit den Armen auf ein Kissen gestützt am Fenster seines Hauses liegt, hat es gesehen und es kommt ihm gerade recht! Ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung! Tage später bekommt der „Verkehrssünder“ ein Schreiben von der Behörde: „Unerlaubtes Fahren gegen die Einbahnstra- ße.“ Bußgeld: 15 €! Zeuge: Der Nachbar. Im Großraumbüro überzieht eine Frau die Mittagspause um 10 Minuten. Sie wurde durch ein wich- tiges Gespräch in der Kantine aufgehalten. Eine Kollegin sagt zwar nichts dazu, aber hat es genau registriert und es kommt ihr gerade recht. Tage später erhält die Frau eine Abmahnung durch die Betriebsleitung: „Unerlaubtes Entfernen vom Arbeitsplatz, im Wiederholungsfall müssen wir lei- der...“ Eine Zeugin wird nicht benannt, trotzdem weiß die Frau genau, wer sie angeschwärzt hat. Liebe Gemeinde, ich denke, sie kennen alle sicher einige solcher „Fälle“, in denen sich eine oder einer Ihnen gegenüber ganz ähnlich verhalten hat. Vielleicht sogar - es könnte ja sein und es erfährt ja jetzt keiner! - waren sie selbst es auch, der sich bei anderen auf solche Weise unbeliebt gemacht hat? - Warum aber ist das unmenschlich? - Weil es gemein und kleinlich ist. Weil die Menschen, die eine Sünde oder einen Fehler bei anderen anprangern, vielleicht nur eine Stunde oder einen Tag zuvor eine mindestens ebenso große Sünde oder einen noch größeren Fehler begangen haben. Vielleicht auch wird der heutige Tag nicht vergehen, bevor sie diese Sünde oder diesen Fehler begehen wer- den. Nur wurden sie nicht erwischt oder sie werden nicht erwischt oder andere, die es wohl gesehen haben oder sehen werden, sind gnädiger mit ihnen oder ihre Stellung in der Gesellschaft, im Kolle- genkreis oder der Nachbarschaft ist so stark, dass keiner es wagen würde, sie anzuschwärzen. Und warum ist das menschlich? - Weil Menschen immer wieder nach solchen Mitteln greifen, an- deren eins auszuwischen, sich selbst aufzuwerten, sich bei einer Behörde als besonders gesetzestreu darzustellen, bei Vorgesetzten einzuschmeicheln oder sich irgendeinen Vorteil zu verschaffen. Gewiss, bei den Pharisäern damals kam noch ein gewichtiger Gedanke hinzu, der in unserem Alltag so keine Rolle spielt: Sie wollten Jesus von dem Sockel holen, auf den er sich ohne Berechtigung - wie sie meinten - gestellt hatte. Sie wollten ihn als einen herabsetzen, der doch wohl nicht dem Anspruch genügt, von Gott gesandt und gar Gottes Sohn zu sein. Wie antwortet Jesus auf die Vorwürfe der Frommen? „Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abimelechs, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren?“ (1.Sam. 21,2-7) Das wird die Pharisäer nicht zufrieden gestellt haben! Und das besonders aus diesem Grund: David war ein großer, von Gott gesalbter König Israels! Wer, bitteschön, ist dagegen Jesus? Ein hergelau- fener Wanderprediger. Ein Scharlatan, der mit Taschenspielertricks ein paar Zeichen vollbracht hat, die von den Leuten als Wunder gepriesen werden. Und vor allem einer, der ihnen den Rang ablief, weil er die Menschen mit seiner Predigt begeisterte und mit seinen Taten blendete. Und dieser Je- sus stellt sich auch noch auf die selbe Stufe wie David! „Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte...“ Ja, eigentlich sagt er: Hier ist ein größerer als David, denn der hat noch wenigstens den Hohenpriester Abimelech gefragt, ob er von den heiligen Broten essen darf. Jesus aber fragt niemanden! - Die Pharisäer müssen außer sich gewesen sein über so viel unverfro- rene Anmaßung! Aber es geht weiter mit der unmöglichen Rede: „Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“ Jesus maßt sich auch noch an, das Gesetz auszulegen - und anders als es die Pharisäer taten. Wenn überhaupt jemand, dann hatten sie und die Hohenpriester die Deutungshoheit über das Gesetz Gottes! Was Jesus hier sagt, ist ungeheuerlich! Seine Worte bedeuteten ja, der Mensch steht höher als das Gesetz. Ich glaube, wir ahnen es jetzt, wie verstört die frommen Männer von Jesu Rede und seinem Verhal- ten waren. Er stellte die göttliche Ordnung auf den Kopf. Er zog das, was ihnen heilig war, in den Dreck und bezichtigte sie der falschen Auslegung des Gesetzes. Und immer noch ist es nicht genug! Jesu letzte Äußerung ist für die Pharisäer die reinste Gottesläs- terung: „So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.“ Der „Menschensohn“, das ist der, dem von Gott beim letzten Gericht die Weltherrschaft übergeben wird (Dan. 7,13-14) und der in Gottes Auftrag und Vollmacht das letzte Gericht über die Menschen abhalten wird (Buch Henoch). Hier stellt sich Jesus also auf die Stufe direkt unter dem Thron Gottes! Wenn wir ehrlich sind, hat uns das, was Jesus hier den Pharisäern entgegnet, nicht besonders aufge- regt. Für uns Christinnen und Christen ist klar, dass Jesus Herr über das Gesetz ist. Und es ist uns auch vertraut, dass der Mensch höher steht als das Gesetz oder sagen wir besser: Dass der Mensch und die Menschlichkeit vorgeht, wenn es sich um die Erfüllung des Gesetzes dreht. - Liebe Gemeinde, warum handeln wir dann nicht entsprechend? Denken wir noch einmal an den „Verkehrssünder“, der die kurze Strecke gegen die Einbahnstraße fährt. Wem hat er geschadet? Niemandem! Wer hatte seines Verhaltens wegen irgendeinen Nach- teil? Keiner! Gewiss: Die Straßenverkehrsordnung hat er nicht eingehalten. Aber warum zeigt ihn der Nachbar an? Weil er kleinlich ist, engherzig, vielleicht sogar böswillig. Der Nachbar verursacht also den Schaden. Nach der Anzeige ist die gute Nachbarschaft und das Vertrauen zerstört. Und bei der Frau aus dem Großraumbüro? Da ist es nicht anders. Die 10 Minuten Abwesenheit vom Arbeitsplatz hat die Firma sicher verkraftet. Und das Gespräch in der Kantine war wichtig. Warum aber informiert die Kollegin die Betriebsleitung? Weil sie der anderen eins auswischen will. Weil sie kleinlich ist, engherzig und böswillig. Sie tut, was dem Betriebsklima schadet. Sie zerstört das vertrauensvolle Miteinander. Dass Sie mich nicht falsch verstehen: Ich will nicht dazu auffordern, die Vorschriften der Straßen- verkehrsordnung oder die Regeln, die im Betrieb gelten zu missachten. Aber es geht um die Abwä- gung, was jeweils wichtiger ist: Das Gesetz, die Vorschrift, die Regel oder der Mensch und die Menschlichkeit. Jesus, unser Herr, wollte uns jedenfalls frei machen von der unerbittlichen Härte des Gesetzes. Er bricht das Gesetz, wenn er mit dem Zöllner zu Tisch sitzt. Er bricht das Gesetz, wenn er die Ehebrecherin vor der Steinigung beschützt. Er bricht das Gesetz, wenn er seinen Jün- gern erlaubt, am Sabbat Ähren zu raufen und selbst in so vielen Fällen am Sabbat Menschen heilt. Aber er tut es nicht um das Gesetz zu missachten, sondern aus Hochachtung vor dem Gesetz Got- tes. Denn Gott hat ein für alle Mal die Liebe zum Mitmenschen als höchstes Gebot eingesetzt. Wir lesen es im Markusevangelium (und bei Matthäus und Lukas): „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Das andre ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mk.12,30f) An diesem höchsten Gebot muss sich jedes andere Gesetz, jede Vorschrift und Regel messen las- sen. Und nicht nur das: Auch die Menschen, seien sie die Pharisäer aus der heutigen Geschichte, sei es der Nachbar des Falschfahrers, die Kollegin der Frau, die ihre Pause überzogen hat oder wir, du und ich, wenn wir das Gesetz kleinlich und engherzig höher stellen als unsere Nächsten. AMEN