Predigt zum Altjahrsabend - 31.12.2010 Textlesung: Jes. 30, 15 (16 - 17) Denn so spricht Gott der HERR, der Heilige Israels: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. (Aber ihr wollt nicht und sprecht: „Nein, sondern auf Rossen wollen wir dahinfliehen“, - darum werdet ihr dahinfliehen, „und auf Ren- nern wollen wir reiten“, - darum werden euch eure Verfolger überrennen. Denn euer tausend werden fliehen vor eines einzigen Drohen; ja vor fünfen werdet ihr alle fliehen, bis ihr übrigbleibt wie ein Mast oben auf einem Berge und wie ein Banner auf einem Hügel.) Liebe Gemeinde! „Umkehren, Stillesein, Stillebleiben, Hoffen ...“ darin soll Stärke und Hilfe liegen? Mir fielen einige Situationen ein, in denen ich an mir selbst oder bei anderen beobachten konnte, wie wir normalerweise auf Ereignisse, auf Dinge, die von außen kommen, reagieren. Etwa auf Fragen, auf Forderungen, Vorwürfe oder Urteile, aber auch auf Bitten und freundliche Gesten, auf Unglücksfälle oder schwierige Aufgaben, die uns gestellt sind. Ich will Ihnen einmal drei Beispiele für solche Situa- tionen schildern, an die ich denke und was mir an ihnen deutlich geworden ist: Vor Tagen bin ich einem Menschen begegnet, der auf jede Frage sofort eine Antwort wusste. Ich hatte kaum die letzte Silbe ausgesprochen, da begann er schon mit seiner Entgegnung. Ich weiß noch, dass ich dachte: Warum lässt er sich nicht wenigstens ein paar Sekunden Zeit, bis er antwortet. Ich würde doch dann auch nicht weglaufen, nur weil ich ihn für langsam oder für den falschen Gesprächspartner halte! (Außerdem muss ich bekennen, dass ich so schnell niemals antworten könnte.) Allerdings hatte ich auch den Eindruck, dass manches, was mein Gegenüber so schnell heraussagte, wirklich nicht durchdacht, ja, nicht einmal ansatzweise überlegt war. - „Umkehren, Stillesein, Stillebleiben ...“ Ich wünschte diesem Menschen, dass er sich zukünftig mehr Zeit ließe. Um es mit diesen Worten auszudrücken: Ich wünschte ihm, dass er zu einer ruhigeren Lebenseinstellung „umkehrt“ und zu einer bedachteren Gesprächsführung zurückkehrt. Dass er seinen Gedanken eine kleine Weile der Stille lässt, dass sie sich sammeln und ordnen können, um dann dem, der mit ihm spricht, nicht irgendetwas, sondern hilfreiche Worte sagen zu können, Worte, die ihn weiterbringen und die Beziehung zwischen ihm und dem anderen vertiefen. Ein Gespräch zwischen zwei Menschen ist ja doch viel zu wichtig und zu wertvoll, als dass man es nur danach bemisst, wie schnell man auf eine Frage irgendeine Antwort geben kann. Zugegeben: Dieser Mensch, von dem ich erzähle, hat mit seinen schnellen Äußerungen noch keine besondere Beziehung zum „Religiösen“ oder gar „Christlichen“. Darum habe ich hier in der Reihe „Umkehren, Stillesein, Stillebleiben ...“ auch das „Hoffen“ weggelassen. Aber dazu komme ich jetzt bei meinem zweiten Beispiel: Wie viele Menschen habe ich schon erlebt und erlebe ich immer wieder, die nicht oder nur ganz schlecht mit dem Leid umgehen können, mit der Trauer oder dem Unglück, das sie heimsucht. Sie überlassen sich dann ganz und gar dem Schmerz, den Tränen, der Angst und der Grübelei. Wir andere erreichen sie nicht mehr mit unseren Worten des Trostes und unseren Gesten des Mitgefühls. Aber wir möchten sie doch so gern erreichen. Wir möchten sie doch herausholen aus den bösen Erwartung- en und trüben Gedanken, dass sie wieder den hellen Streifen am Horizont sehen, das Licht am Ende des Tunnels. Wie wünschten wir ihnen, dass sie eintreten können in diese Reihe: „Umkehren, Stillesein, Stillebleiben, Hoffen ...“ Ihre Umkehr müsste in die gute Erinnerung führen: Dass doch immer nach ganz dunklen Tagen auch wieder gute, frohe und leichtere Zeiten kamen. Und sie müssten in das feste Wissen zurückfinden, dass da ein Vater im Himmel ist, der seinen Kindern nicht mehr auflegt, als sie tragen können. Und vielleicht führt das Erinnern sie dann in die Stille, in der sie auch zum Hören auf die Stimme Gottes kommen, die sie tröstet und ihnen Mut schenkt. Und dann, so wünschte ich ihnen, fassen sie auch Vertrauen und finden zur Hoffnung, dass auch dieses Mal - wie es doch schon so oft gewesen ist - die Trauer und der Schmerz der Freude weichen werden und der Erkenntnis, die sie doch auch schon früher hatten: Dass uns die schlimmen Erfahrungen nur noch näher an die Hand Gottes gebracht, gestärkt und unseren Glauben eher noch fester gemacht haben. An mir selbst musste ich in der Vergangenheit immer wieder feststellen, wie sehr mich die Katastro- phen, die rings um die Erde geschehen, die Überschwemmungen, Erdbeben und Vulkanausbrüche in- nerlich bewegen und manchmal in Glaubenszweifel stürzen: Warum nur trifft es dabei meist die Ärm- sten der Armen, die Hungernden und Elenden, die schon ohne diese schrecklichen Heimsuchungen wenig oder gar nichts haben. Und warum kommt wirklich oft ein Unglück nicht allein? Warum werden Menschen, die schon ihre Arbeit verloren haben, dann auch noch krank oder der Le- benspartner läuft ihnen davon? Warum müssen kleine Kinder, kaum dass sie geboren sind, schon lei- den und sterben? Wie kann das sein, dass Politiker, wenn es um Steuer- oder Beitragserhöhungen geht, ungestraft immer wieder gerade die Schwachen der Gesellschaft heranziehen - auf der anderen Seite aber machen sie dann den Reichen Geschenke? Und noch viele andere Beispiele wollen mir täglich neu vermitteln, wie ungerecht diese Welt doch ist und wie wenig wir doch die Güte Gottes und die Liebe eines himmlischen Vaters spüren können. „Umkehren, Stillesein, Stillebleiben, Hoffen ...“ Das muss ich mir dann selbst auch immer wieder sagen. Und es soll mich dazu bewegen, zu einer Einschätzung umzukehren, die nicht nur bei und in allem, das Schlechte sieht und mit dem Finger darauf zeigt, sondern neben dem Bösen und Schweren in den Ereignissen auch das Gute, das schon als Keim in ihnen liegt. Und ich möchte gern hinter den ungerechten Verhältnissen auch die Kräfte und die Menschen wahrnehmen, die daran arbeiten, dass am Ende doch noch die Gerechtigkeit siegt - und das tut sie schließlich auch immer wieder! Darum möchte ich still bleiben und abwarten, ehe ich etwas beurteile und verdamme. Aus dieser Stille soll auch bei mir Hoffnung wachsen, die alle Dinge mit anderen Augen ansehen kann. Dabei möchte ich gern das Leben als ein umso größeres Geschenk begreifen, je mehr ich erkennen muss, wie gefährdet es ist und wie viele kein glückliches und schönes Leben haben. Und die größte Hoffnung, die uns Christen geschenkt ist, möchte ich schon gar nicht aus dem Blick verlieren: Dass wir um Jesu Christi willen auf eine Herrlichkeit zugehen, gegen die al- les, was wir hier sehen und kennen, erleben und erleiden, bemängeln und beweinen so klein und un- bedeutend ist, dass wir seiner in Gottes ewigem Reich nicht mehr gedenken werden. „Umkehren, Stillesein, Stillebleiben, Hoffen ...“, ja, liebe Gemeinde, darin liegt Stärke und Hilfe! Immer wieder zurückkehren zu Gedanken, die uns schon einmal neue Kraft und neuen Mut geschenkt haben, vollbringt auch immer wieder neu das Wunder: Dass wir uns lösen können von bösen Erwartungen und dunklen Befürchtungen. In die Stille gehen, einmal nicht mit Lärm von außen unser Nachdenken ausschalten, vielmehr die Ruhe und die Abgeschiedenheit von allem Tun ein paar Mi- nuten lang aushalten ... Das kann uns viel geben: Einen Halt, eine Mitte, ein neues Ziel, eine Antwort - und eben Hoffnung und Zuversicht, die uns aus dem Immer-so-weiter herausreißt und uns neue Ausblicke und neue Sichtweisen auf die Dinge, die Menschen und das Leben eröffnet. So wünsche ich heute Abend dem, der immer so schnell Antworten - auch auf ganz schwierige Fragen - geben kann, dass er zuvor einen Moment still bleibt, nachdenkt und sich Zeit lässt zu prüfen, was er sagen will. Dass er erst dann den Mund aufmacht, wenn er weiß, was sein Gegenüber wirklich weiterbringt und ihm helfen kann. Den Menschen, die immer aufs Neue von ihrem Leid, ihrer Trauer oder ihrem Unglück zu Boden ge- zogen werden, wünsche ich, dass sie immer wieder in ihrer Erinnerung so weit zurückgehen können, bis ihnen der Tag oder die Stunde einfällt, in der sie schon einmal in Leid oder Trauer waren und Gott ihnen durch sein Wort und seine Güte herausgeholfen hat. Und aus dieser Erinnerung heraus wünsche ich ihnen, dass sie frei werden von schweren Gedanken und voll Hoffnung wieder nach vorn blicken können. Für mich selbst und für alle anderen, denen es ähnlich geht wie mir, bitte ich um ein gutes Gedächtnis auch für alle schönen Dinge des Lebens und alle guten Erfahrungen mit Gott und den Menschen. Dass wir nicht immer nur auf das Böse in der Welt starren, auf die Ungerechtigkeit und die Katastrophen und Unglücke die allenthalben geschehen, sondern immer auch die Ereignisse in unserer Erinnerung tragen, die uns Freude und uns glücklich gemacht haben. Uns allen wünsche ich für das morgen beginnende Jahr viele Glücksmomente, aber auch manche Weile der Stille und des Nachdenkens und dann die Kraft, die uns daraus erwächst. Vor allem aber wünsche ich uns, dass wir keinen Augenblick lang die Hoffnung verlieren, dass dieses Leben sinnvoll ist, dass ein gütiger Vater uns behütet und dass wir um Jesu Christi willen auf ein herrliches Ziel die- ses Lebens zugehen: Die ewige Nähe Gottes. AMEN