Predigt zum 4. Sonntag nach Trinitatis - 28.6.2015 Textlesung: Lk. 6, 36 - 42 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen. Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Bal- ken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bru- der, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst! Liebe Gemeinde! Was beim Evangelisten Matthäus die Bergpredigt Jesu ist, das ist bei Lukas die so genannte Feldre- de. Beide Reden sind nicht gleich, aber beide enthalten recht viele Einzelanweisungen, über die man kaum in einem größeren Zusammenhang sprechen kann. Darum wollen wir über einige der Anweisungen und Gedanken, die uns hier vorgelegt werden, auch im Einzelnen nachdenken. Sich das alles zu behalten und zu beherzigen, fällt heute sicher besonders schwer. Darum will ich uns am Ende dieser Predigt noch einmal zu jedem Gedanken eine Art Merksatz mitgeben: Am Anfang dieser sieben Verse aus der Feldrede Jesu heißt es: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Sicher würden wir sagen: Barmherzig, das sind wir doch auch! Aber im Hinterkopf denken wir ganz anders. Da bewegt uns meist zuerst die Frage: Ist denn mein Mit- mensch barmherzig mit mir? Erfahre ich von ihm Freundlichkeit, Verständnis, Zuneigung. Wenn ja, dann will ich auch mit ihm barmherzig sein, freundlich, verständnisvoll, ihm zugetan. - Und wenn nicht? Wenn er mich schlecht behandelt, mir wo er nur kann schadet, mich gar an die Wand drückt und lieblos mit mir umgeht? Dann kann er auch von mir nichts anderes erwarten als das, was er mir gegenüber tut. Hören wir den Vers noch einmal: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Das ha- ben wir vielleicht gar nicht gleich bemerkt, aber hier ist kein Wort von unserem Mitmenschen die Rede und wie der sich uns gegenüber verhält! Unser Maßstab ist nicht er, sondern unser Gott. Und Gott ist die Barmherzigkeit selbst. An ihm sollen wir Maß nehmen. Wie er uns gegenüber barmher- zig ist, so sollen wir auch den anderen gegenüber barmherzig sein sein. So gehen die Verse weiter: „Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.“ Als evangelische Christen denken wir nicht so gern an das Gericht und die Verdammung, die dort vielleicht einmal über uns ausge- sprochen werden könnte. Wir glauben doch an Jesus Christus, der für uns ans Kreuz ging und dort alles abgetragen hat, was wir an Sünde und Schuld einmal mit ins Gericht bringen werden. Und wir dürfen uns darauf berufen, dass Christus für uns gestorben ist und das Lösegeld für uns bezahlt hat. Andererseits: Wäre das nicht ein seltsamer Christ, der obwohl er weiß, dass er für seine Schuld nicht gerichtet wird, über seine Mitmenschen den Stab bricht? Wäre das nicht auch ein undankbarer Christ, der, wenn er weiß, dass ihm am Ende keine Verdammung droht, nun anderen Menschen das Verdammungsurteil spricht? Es ist schon so - und es ist gut so! - dass ein rechter Christ, seinen Mitmenschen vergeben und ihnen immer wieder einen neuen Anfang schenken soll, genau wie Gott das uns gegenüber hält. Wohlgemerkt: Wir vergeben unserem Mitmenschen nicht, um auch bei Gott Vergebung zu erlangen. Gottes Vergebung ist immer das Erste. Weil Gott uns vergibt, können wir nun auch unserem Nächsten vergeben. Und unser Mitmensch wird daran erfahren, wie gütig Gott uns und ihm gegenüber ist. „Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.“ Aufs erste Hören scheint uns diese Anweisung noch weniger evangelisch als die vorigen! „Gebt, so wird euch gegeben.“ Und wenn wir nicht geben, droht uns dann Strafe? Wird dann aufgehoben, dass unser Herr für uns ans Kreuz ging? Steht er dann nicht mehr zu uns und lässt uns fallen? Nein, ich glaube, es ist hier wie bei den gerade eben besprochenen Hinweisen: Es passt einfach nicht zu einem Christen, einer Christin und einem Leben, wie es für sie selbstverständlich sein soll- te, wenn sie ihren Nächsten mit einem anderen Maß messen, als mit dem, das Gott ihnen gegenüber anlegt. Besonders schlimm wäre das doch, wenn Gott uns wirklich ein „volles, gedrücktes, gerüt- teltes und überfließendes Maß“ seiner Gaben zuteilt! Hier werden einige von uns sicher denken: Aber so ist es ja auch gar nicht! So gut geht es mir wirklich nicht! Ich bin weder sehr reich noch be- sonders mit anderen Gaben beschenkt! Liebe Gemeinde, vielleicht kann uns hier ein Blick auf das Schicksal der Flüchtlinge und Migran- ten, von denen wir doch fast täglich hören und lesen, dazu bewegen, unser Denken einmal zu über- prüfen. Aber auch in unserer Umgebung, in der Nachbarschaft, dort wo wir arbeiten und auch in unserer Kirchengemeinde gibt es viele Menschen, die gern mit uns tauschen würden, was unser Hab und Gut, unsere Gesundheit oder unsere Begabungen angeht. Es ist schon so: Das Maß, mit dem Gottes Barmherzigkeit uns die Gaben unseres Lebens zugemessen hat, war nicht klein und ge- ring. Wenn wir zufrieden sein können, dann ist das bei allem Unglück und Elend anderer Menschen auf dieser Erde sicher schon eine große Gnade. Warum aber wird hier nicht davon gesprochen, dass Gott unserem Tun, unserer Vergebung und un- serem Geben zuvorkommt, sondern immer wieder gefordert, dass wir nicht richten, dass wir verge- ben und geben? Wäre das nicht ein Ansporn für unsere Güte, unsere Barmherzigkeit, unsere Bereit- schaft zu geben und zu vergeben, wenn wir mehr von Gottes Tun für uns, von seiner zuvorkom- menden Liebe und Güte, von Jesu Taten für uns, die uns von Sünde und Schuld erlöst haben, hören könnten? Würden wir dann nicht gern aus lauter Dankbarkeit alle Liebe, alle Güte und Barmher- zigkeit an unsere Mitmenschen weitergeben? Meiner Erfahrung nach, ist es bei uns Christen - und noch den Besten! - leider anders: Wir verges- sen das immer wieder so leicht, wie beschenkt, begnadet und wie erlöst wir sind! Kaum haben wir in einer schönen Stunde unseres Lebens gedacht, wie glücklich wir doch sein können und wie sehr uns das doch auch verpflichtet, anderen, die kein solches Glück erleben, etwas davon weiterzuge- ben, kaum haben wir uns vorgenommen, das nun auch wirklich zu tun - da ärgern wir uns über eine Nichtigkeit, da lenkt uns irgendetwas ab und wir haben es ... vergessen. Liebe Gemeinde, da bin ich Jesus dankbar, dass er mich auch zu Güte und Barmherzigkeit, zum Geben und Vergeben mahnt, wohl wissend, wie groß Gottes Güte ist, wohl wissend, dass er für mich ans Kreuz gehen und all meine Schuld auf sich nehmen wird. Dass er mich mahnt, kann viel- leicht meiner Erinnerung helfen, dass ich nicht vergesse, für das mir so reichlich zugemessene Glück dankbar zu sein und es mit anderen zu teilen. Aber wir wollen als Letztes noch dieses Wort Jesu bedenken: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge?“ Irgendwie passt das doch sehr gut in die Reihe der ande- ren Worte, über die wir eben schon nachgedacht haben! Ist es nicht so, dass uns neben dem Verges- sen der Güte und Gnade und der Gaben Gottes, auch dieser Gedanke dazu helfen soll, die guten Ta- ten, die wir anderen tun wollten, zu vermeiden. Dazu nämlich dient es, wenn wir den Splitter im Auge des Nächsten suchen und beklagen. Dazu dient es, wenn wir seine Fehler aufbauschen und unsere dagegen verkleinern, so dass sie gar nicht ins Gewicht fallen, wie wir meinen. Fangen wir an, ehrlich und genau hinzuschauen: Was unser Mitmensch tut, ist nicht schlimmer als das, was wir tun. Seine Fehler sind nicht größer als unsere. Wenn wir das sehen lernen, dann wird es uns auch leichter fallen, mit ihm so gütig, so barmherzig, so freigebig zu sein, wie Gott es mit uns ist. Vielleicht können wir von heute das mitnehmen: - Nicht die Barmherzigkeit unseres Mitmenschen, sondern die Barmherzigkeit Gottes, die wir er- fahren haben, soll bestimmen, wie wir mit unserem Mitmenschen umgehen! - Wir dürfen uns darauf berufen, dass uns durch Christus vergeben ist - darum wollen wir auch unseren Nächsten verge- ben, sie nicht verurteilen und nicht verdammen. - Wenn wir nur genau hinsehen, wenn wir uns nur mit anderen vergleichen, dann werden wir erkennen, wie reich das Maß der Liebe ist, mit dem uns Gott beschenkt hat. - Wenn wir uns selbst ehrlich betrachten und prüfen, sind wir nicht besser als die, deren Fehler und Schuld wir so gern anprangern. AMEN