Predigt zum 19. So. nach „Trinitatis“ - 14.10.2007 Textlesung: Jh. 5, 1 - 16 Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf hebräisch Bethesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank. Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber an dem Tag Sabbat. Da sprachen die Juden zu dem, der gesund geworden war: Es ist heute Sabbat; du darfst dein Bett nicht tragen. Er antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! Da fragten sie ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin? Der aber gesund geworden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war entwichen, da so viel Volk an dem Ort war. Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre. Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte. Liebe Gemeinde! Mir ist heute eine Sache mehr am Rande dieser Geschichte geradezu ins Auge gesprungen, die will ich an zwei Gedanken festmachen. Damit deutlich wird, was ich meine, trage ich zunächst einmal sozusagen ein Stück dieser Geschichte nach - und das aus meiner Phantasie und mit meinen eigenen Worten. Ich erzähle genau an dieser Stelle weiter: „Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.“ Wie bewegt war dieser Mann, aufgewühlt von unbändiger Freude! Aber auch Zweifel waren da: Ob das wohl so blieb mit ihm? Ob seine Heilung wirklich für immer vorhielt? Eben noch hatte er auf seinem Bett gelegen und jetzt konnte er es tragen und laufen konnte er auch. Was ging ihm da nicht alles durch den Kopf: 38 Jahre seines Lebens lahm. Immer an derselben Stelle liegen müssen. Die Beine nicht benutzen können. Immer derselbe Blick auf den Teich - für ihn unerreichbar. Wie viele Male hatte er wohl andere ins Wasser steigen sehen, wenn der Engel es bewegte. Wie oft hatte er ihr lautes Rufen gehört: Ich bin geheilt, ich bin gesund geworden! Und immer wieder wollte er sich ja mit ihnen freuen. Aber das war nicht leicht und mit den Jahren war es ihm immer schwerer gefallen. Nein, er hatte wohl nichts mehr vom Leben zu erwarten. Und jetzt dieser Tag! Dieser Jesus! Als hätte er gerade ihn gesucht und zu ihm kommen wollen. Und was für eine Frage: Willst du gesund werden? Alles, alles hätte er dafür getan! Aber er glaubte ja längst nicht mehr daran. Er hatte keine Hoffnung mehr, für sich nicht! Darum hatte er auch nicht geantwortet: Ja, ich will gesund werden. Er konnte nur bei sich bleiben, bei seinem Zustand, der unaufhebbaren Lähmung seiner Beine: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt ... Was anderes konnte ihn denn heilen? Wer anderes? Aber Jesus sprach nur ein Wort und er spürte, wie die Kraft in die Beine floss. Er konnte, er musste geradezu aufstehen. Und die Beine trugen ihn. Er war nicht mehr lahm. Er konnte gehen. Er war geheilt. Welche gewaltige, überschäumende Freude! Er musste in den Tempel, Gott zu danken, denn er wusste, wer diese wunderbare Heilung bewirkt hatte! Und da sind wir zurück in der Geschichte, wie sie uns vom Evangelisten Johannes überliefert ist. So lesen wir dort: „Da sprachen die Juden zu dem, der gesund geworden war: Es ist heute Sabbat; du darfst dein Bett nicht tragen.“ Hier ist nun mein erster Gedanke, der mir beim Lesen der Geschichte kam. Ich glaube, sie empfin- den das jetzt auch: Dieses ungeheure, nicht mehr zu überbietende Desinteresse der Juden an diesem Menschen und ob er krank liegt oder gesund ist. Denn ganz sicher, liebe Gemeinde, hat unser Mann keinen Augenblick darüber nachgedacht, dass an diesem Tag nun gerade Sabbat war und er sein Bett nicht hätte tragen dürfen! Aber - und das ist die Sache, die mir ins Auge gesprungen ist - wer kann ihm das denn verdenken? Ja, wer kommt überhaupt darauf, diesen Mann - nach 38 Jahren ohne Hoffnung und ohne Erwartung, je gesund zu werden - auf sein Bett und den Bruch der Sab- batvorschriften anzusprechen!? Wie kalt, wie unfassbar hart und unmenschlich können Menschen sein! Wer, wenn er sich nur in diesen, von seiner Krankheit befreiten Menschen, hineinversetzt hätte - wäre darauf gekommen, sich um die Heiligung des Sabbats zu sorgen, statt sich vielmehr mit diesem Geheilten zu freuen? Wir verlassen hier kurz die biblische Geschichte vom Teich Bethesda und dem von seiner Lähmung genesenen Mann. Wir tun das auch, um nicht allzu lang über die frommen Juden nachzudenken und am Ende noch beim Kopfschütteln über sie stehen zu bleiben. Denn es ist auch unsere Geschichte! Und es ist auch unsere Art, über die wir uns hier entsetzen. Oft nämlich ist unser Umgang mit dem Leid oder der Freude eines Mitmenschen alles andere als angemessen: Ich denke da an unser so leicht hingeworfenes: „Kopf hoch, das wird schon wieder!“, wenn viel- leicht der Nachbar nach bald 60 Jahren Ehe seine Frau verloren hat, die zuletzt so lange krank und behindert war. Einem Mann ist die Welt zusammengebrochen. Er sieht kein Licht mehr und hat für sein eigenes Leben jeden Antrieb und allen Sinn verloren. Und dann: „Kopf hoch!“ Er kann und mag den Kopf nicht mehr heben! „Das wird schon wieder!“ Nichts, gar nichts wird je wieder so sein, wie es war. Alles ist dunkel und ohne Hoffnung. - Hier wäre ein wenig echtes Mitgefühl am Platz. Und das müsste dem abzulesen sein, was wir reden und tun. Wir müssten wohl eine Strecke mit diesem Menschen gehen und ihm auch mit unserer Begleitung zeigen, dass er doch nicht ganz so allein ist, wie er sich fühlt. Ein „Kopf hoch!“ jedenfalls ist zu wenig! Und ich denke an das große Glück, das einem Menschen in unserer Nähe widerfährt. Vielleicht hat er nach langen entbehrungsreichen Jahren das Staatsexamen erfolgreich abgelegt und sogar eine Anstellung bekommen. Oder er hat die Liebe seines Lebens gefunden und hat doch schon gar nicht mehr damit gerechnet. Vielleicht auch ist eine über lange Jahre gestörte Beziehung wieder in Ord- nung gekommen und das Grämen darum und vielleicht auch das Gefühl eigener Schuld sind wie schwere Lasten von seiner Seele gefallen. Wenn er dann dieses Glück uns anvertraut, nur zu ent- gegnen: „Schön für dich!“ oder gar „das wurde aber auch Zeit!“ ist sicher nicht das, was er von uns hören wollte. Er hätte vielmehr auf etwas Teilnahme gehofft, ein wenig Mitfreude, denn er hat uns sicher davon erzählt, weil er sein Glück nicht für sich allein behalten will. Gewiss können viele von uns jetzt sagen: Aber so ein „Kopf hoch“ oder solch ein kaltes „Das wurde aber auch Zeit!“ ist mir noch nie über die Lippen gekommen. Und ich glaube ihnen das auch. Aber es geht nicht um die genaue Formulierung solcher Sätze. Es geht um einen Mangel an echter Teilnahme. Es geht um das Hineinfühlen in den anderen Menschen und um die Nähe, die ich zu ihm habe und gewinne, es geht darum, dass er an uns spüren kann, dass wir als Menschen und zumal als Christen zusammengehören - weil wir den selben Herrn und Bruder haben und den einen Vater im Himmel. Mit einem Wort: Geschwisterlich sollen wir uns erweisen, denn Geschwister freuen sich miteinander und sie teilen auch die schweren Stunden. Geschwister stützen eins das an- dere und werden einander zur Hoffnung, wenn alles finster aussieht. Geschwistern ist das Glück der Schwester oder des Bruders wie eigenes Glück. Und hier kommt noch der zweite Gedanke, der mir in den Sinn kam, als ich die heutige Geschichte gelesen habe - er hat ganz eng mit dem ersten zu tun und besonders mit diesem Vers: „Als Jesus den Gelähmten liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?“ Wie viele Menschen werden in den 38 Jahren schon an diesem Lahmen vorbei gegangen sein, ohne sich nach ihm zu erkundigen? Wie oft wird der Kranke wohl in dieser Zeit erfahren haben, dass niemand sich um ihn schert und dass sein Leid niemanden kümmert. Jesus aber fragt nach ihm. Er wendet sich ihm zu und interessiert sich für sein Geschick. Ich glaube fest, schon hierdurch geschah an dem Gelähmten ein Stück Heilung. Liebe Gemeinde, es ist sicher klar, was uns dieser Gedanke sagen möchte. Ich will es jetzt auch im Bild von uns Christen als „Geschwister einer Familie“ ausdrücken: Mitgefühl, Mitfreude und Mi- tragen fangen schon viel früher an als dann, wenn uns ein Mitmensch von seinem Glück oder sei- nem Leid erzählt. Geschwister fragen nacheinander noch bevor der andere etwas sagen muss. Geschwister interessieren sich für das Schicksal der anderen. Schwestern und Brüder erkundigen sich mit ehrlicher Teilnahme wie es den anderen geht. Ich bin ganz gewiss: Was wir hier an Mitleid und Mitfreude austeilen, kommt auch zu uns zurück. Und ich bin sicher, dass wir so ein wenig Heil und Heilung an die Mitmenschen weitergeben und empfangen können. AMEN