Predigt zum 19. Sonntag nach Trinitatis - 22.10.2006 Textlesung: Jak. 5, 13 - 16 Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, daß sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden. Bekennt also ein- ander eure Sünden und betet füreinander, daß ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist. Liebe Gemeinde! Könnten sie sich wirklich vorstellen, dass sie einen Menschen in ihrer Nähe so ansprechen: „Würd- est du einmal über mir und für mich beten?“ Oder wie ist es damit: „Hättest du einen Augenblick Zeit, ich möchte dir gern meine Sünden bekennen?“ Vom „Salben mit Öl“ wollen wir ganz schwei- gen. Da wüssten wir weder wie es geht, noch wozu es gut sein soll. - Sind das also keine Worte an uns? Andererseits: Wünschen würden wir uns das schon: Wenn wir krank sind oder in großem Leid oder in Trauer ... Dass dann andere an uns denken und für uns beten. Und die Schuld quält uns auch manchmal sehr. Unser Gewissen drückt und beschwert uns. Wenn wir das, was wir getan haben, nicht wieder gut machen können, möchten wir schon darüber reden und um Verzeihung bitten. Und selbst die Salbung ist uns doch nicht gar so fremd: Wie viele Krankheiten der Haut oder Schmerzen der Gelenke und Muskeln bekämpfen wir durch Einreiben mit Öl und Salbe! Wenn es da auch im religiösen Bereich eine Handlung gäbe, die uns ähnlich wie die Taufe (mit ihrem Wasser) ganz deutlich und zeichenhaft vermittelt, dass etwas Gutes, Hilfreiches an uns geschieht ... Wir würden sie gewiss zulassen - und sie würde uns helfen. Und trotzdem: Wir haben da Hemmungen. Unsere Beziehung zum Glauben ist nicht mehr so ... di- rekt und unbeschwert. Die „Religionsausübung“ wie unser Grundgesetz das ja wirklich nennt, ist ganz anders als zur Zeit des Jakobus vor bald 2000 Jahren. Es geht weniger nach dem Herzen, dem „Bauch“, wie wir das heute ausdrücken, sondern nach dem Kopf. Auch als Christen haben wir dem Glaubensleben eine ganz bestimmte Ordnung gegeben. Es gibt enge Grenzen des „Anstands“ und der Scham. Vieles, was für die ersten Christen ganz selbstverständlich war, können wir nicht mehr nachvollziehen. - Liegt also gar nichts in den Worten des Jakobus, das wir uns zu Herzen nehmen könnten und was uns hilft? Ich glaube, das erste, was er uns empfiehlt, macht uns keine Schwierigkeiten: „Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen.“ Und doch ist für manche und manchen auch das vielleicht eine (neue) Entdeckung: Wir haben ja wirklich bei Gott, unserem Vater, das Vorrecht, ihn bitten zu dürfen! Und ihn zu bitten ist sicher nicht mit Scham verbunden oder peinlich. Wenn ich krank bin, darf ich Gott vortragen, dass ich gesund werden möchte. Wenn ich Angst habe, soll ich bei ihm um Hilfe rufen. Selbst meine geheimsten Wünsche darf ich ihm sagen. Und meine Sorgen und überhaupt alles, was mich beschäftigt. Und das tun viele von uns ja auch - hin und wieder. Aber das darf ruhig zur täglichen Übung werden. Ja, noch mehr: Unser ganzer Tag kann und soll ein ständiges Beten sein. Und wenn Gott will, dann wird ein Zwiegespräch daraus, bei dem wir auch Antwort bekommen, manchmal die erbetene Hilfe, manchmal eine Erklärung, eine Deutung, warum das so gekommen ist, wie wir es jetzt erleben. Auf jeden Fall aber geschieht im Gebet etwas, was unsere Beziehung zu Gott und zu unserem Glauben festigt und uns darum gut tut. Mit dem „Psalmensingen“ ist es schon ein wenig schwieriger. Das war die Art und Weise, wie Is- rael und die junge Christenheit ihre Freude ausgedrückt hat. Wir würden stattdessen vielleicht „Worte des Dankes“ einsetzen. Aber warum eigentlich nicht auch das Singen eines schönen Liedes aus dem Gesangbuch? Es geht jedenfalls darum, dass wir nicht immer nur bitten, sondern auch un- serer Dankbarkeit Ausdruck verleihen, wenn wir „guten Mutes sind“, wenn wir uns so recht am Le- ben freuen können oder wenn etwas geschieht, was ganz unerwartet, wunderbar und dankenswert ist. Ich glaube ja, dass wir alle, wie wir hier sitzen, viel zu wenig danken - wenn wir den Dank noch empfinden, so zeigen wir ihn doch meist nicht und sprechen auch nicht davon. Und ich meine nicht nur die Dankbarkeit gegenüber Gott, die gewiss am wichtigsten ist, ich meine auch unseren Dank anderen Menschen gegenüber. Hier wie da bleiben wir viel schuldig - jeden Tag! Aber hören wir jetzt noch einmal auf diese Worte: „Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, daß sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.“ Gewiss sind wir da zunächst gehemmt: Wer wird denn z.B. den Kirchenvorstand der Ge- meinde mit so etwas behelligen!? Aber warum wollen wir nicht einmal die Pfarrerin oder den Pfar- rer ansprechen? Ob er mal einen Besuch bei uns macht? Das genau ist doch Seelsorge: Menschen aufsuchen und ihnen Trost geben, die frohe Botschaft der Bibel auch den Kranken und Leidenden sagen und sie in ihre Lage hinein übersetzen, für sie beten und sie (vielleicht nicht mit Öl salben, aber) segnen und ihnen dabei die Hand auflegen ... Eines weiß ich genau: Viele PfarrerInnen würden sich freuen, wenn aus der Gemeinde einmal eine so klare und direkte Bitte käme: „Bitte besuchen Sie mich doch einmal, ich bin sehr krank und brauche Zuspruch und Trost!“ Meist müssen die SeelsorgerInnen der Gemeinde das ja gezielt ab- fragen, wer wo krank liegt und einen Besuch erwartet. Oder sie sind auf den Zufall angewiesen, dass sie irgendwo etwas aufschnappen, dass der oder die im Krankenhaus ist oder zu Hause schwer darniederliegt. Denn auch die Angehörigen von Kranken haben heute oft große Probleme damit, der Pfarrerin oder dem Pfarrer von der Not eines ihrer Lieben zu sprechen. Es gibt Gemeinden, die haben irgendwo an der Kirche oder dem Gemeindehaus einen Kummerkas- ten angebracht. Das ist auch eine Möglichkeit, den Pfarrer, die Pfarrerin auf Menschen aufmerksam zu machen, die gern einmal besucht werden möchten. Aber es kann noch weiter gehen mit dem Beten für die Kranken oder sonstwie Leidenden: Wenn der Pfarrer erst davon weiß, wer seine Hilfe braucht, wenn er erst Gelegenheit hatte, einen Besuch zu machen und sich dem Menschen persönlich zuzuwenden, dann kann und darf er das Anliegen dieses Menschen doch auch in die gottesdienstliche Fürbitte aufnehmen, ohne die seelsorgerliche Verschwiegenheit zu verletzen. Gewiss wird er keinen Namen nennen oder sonstige Hinweise ge- ben, wer im Gebetsanliegen gemeint ist. So aber kann die ganze Gemeinde das Gebet für einen aus ihren Reihen vor Gott bringen und so mittragen. So entsteht auch immer mehr eine Gemeinschaft unter uns, die den Namen Gemeinde Jesu Christi verdient. Und dem, für den wir beten, gilt die Verheißung: „Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn au- frichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.“ Aber wir wollen uns auch nicht um dieses sicher noch viel heiklere Thema herumdrücken: „Bek- ennt also einander eure Sünden ...“ Auch hier ist der Seelsorger, die Seelsorgerin der Gemeinde sicher zunächst die beste Adresse. Ihr Zuspruch der Vergebung hat gewiss auch mehr Gewicht und wir können größeres Vertrauen darauf setzen, als wenn andere Menschen unserer Umgebung uns allzu billig trösten wollen: „Kopf hoch, das wird schon wieder!“ Oder: „Mach dir doch darüber keinen Kopf! Ich hätte das schon lang vergessen!“ Aber trotzdem will ich auch dazu einladen, anderen Menschen, die uns nahe stehen, von dem zu reden, was unsere Seele quält und unser Gewissen belastet. Nicht jede und jeder ist da geeignet. Aber wer sich ehrlich um ein christliches Leben bemüht, der weiß auch immer, dass keiner ohne Sünde und Schuld ist. Solche Menschen werden auch mit der Schuld anderer Menschen behutsam und angemessen umgehen können. Vor allem scheint mir eins wichtig: Dass wir selbst mit gutem Beispiel voran gehen! Wenn andere an uns erfahren haben, dass man uns alles erzählen kann, dass es auch bei uns bleibt und wir nicht leichtfertig darüber vor Dritten sprechen, dann wird da eine Beziehung entstehen und wachsen, die es auch uns selbst erlaubt, unsere Fehler einzugestehen und unsere „Sünden zu bekennen“. Liebe Gemeinde, die Formen wie wir unseren christlichen Glauben im Alltag leben, mögen sich gewandelt haben, seit Jakobus die Worte geschrieben hat, die wir heute bedenken. Die Christen selbst aber - mit ihren Wünschen nach der Fürbitte und der Seelsorge anderer - haben sich nicht verändert. Darum lassen wir uns Mut machen dazu, heute die unserem Glauben angemessenen Formen zu entdecken und zu nutzen: Wie wir für einander bitten, einander Schuld vergeben und so die Hilfe Gottes erlangen können. Vergessen wir es nicht: Die Verheißung am Ende der Jakobus- worte steht fest und gilt damals wie heute: „Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.“