Predigt zum 10. Sonntag nach Trinitatis - 20.8.2006 Textlesung: Röm. 9, 1 - 5.31 - 10,4 Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen Geist, daß ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlaß in meinem Herzen habe. Ich selber wün- schte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter ge- hören, und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen. Israel aber hat nach dem Gesetz der Gerechtigkeit getrachtet und hat es doch nicht erreicht. Warum das? Weil es die Gerechtigkeit nicht aus dem Glauben sucht, sondern als komme sie aus den Werken. Sie haben sich gestoßen an dem Stein des Anstoßes, wie geschrieben steht (Jesaja 8,14; 28,16): »Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Fels des Är- gernisses; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.« Liebe Brüder, meines Her- zens Wunsch ist, und ich flehe auch zu Gott für sie, daß sie gerettet werden. Denn ich bezeuge ih- nen, daß sie Eifer für Gott haben, aber ohne Einsicht. Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und suchen ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan. Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht. Liebe Gemeinde! Das ist so eine Sache mit diesem 10. Sonntag nach Trinitatis, den unsere Kirche uns als den "Israel- sonntag" verordnet hat. Ich bin heute einmal ganz offen und spreche es aus: Mir wäre es lieber, es gäbe die thematische Festlegung dieses Sonntags nicht! Immer wieder in der Vergangenheit war ich befangen bei der Auslegung der Bibeltexte, die uns für diesen Tag empfohlen sind. Immer wieder auch gab es Probleme mit den Predigthörern (oder -lesern). Manchmal habe ich den Israelsonntag einfach unterschlagen, dann hat man mir nach dem Gottesdienst gesagt: In ihrer Predigt war heute aber kein Wort von Israel die Rede. Oder - wenn ich wirklich über das Verhältnis von uns Christen zu den Juden gesprochen habe - hieß es: Das war ja eine ziemlich harte Ansprache, die ging ja nur gegen die Juden. Inzwischen glaube ich: Man kann das an diesem Sonntag - so oder so - nur falsch machen. Darum sagte ich: Besser wäre es, wir schafften den Israelsonntag ganz ab. Bemerkenswert scheint mir noch, dass dieser Sonntag auch besonders hoch mit Gefühlen besetzt ist: An keinem anderen Tag habe ich je so viele Bemerkungen, Fragen und kritische Äußerungen von Hörern (oder Lesern) meiner Predigten gehört. Und - auch hier bin ich offen und deutlich - das muss einfach mit dem - für uns Deutsche vielleicht besonders - sensiblen Thema zu tun haben. Sie kennen das sicher z.B. aus ihrer Familie oder anderen Beziehungen, in denen sie stehen: Bestimmte Begriffe müssen nur genannt werden, dann laufen bei denen, die sie hören, immer wieder die selben Gedanken und Einordnungen ab und es treten in dem, was gesagt wird, die selben Empfindlich- keiten zutage. Vor diesem Hintergrund finde ich es immer wieder schwierig, die Texte zu diesem Sonntag unbe- fangen und theologisch sauber zu predigen. Und besonders heute muss es geradezu Probleme ge- ben, denn die Worte des Paulus haben es wahrhaftig in sich: "Israel aber hat nach dem Gesetz der Gerechtigkeit getrachtet und hat es doch nicht erreicht. Warum das? Weil es die Gerechtigkeit nicht aus dem Glauben sucht, sondern als komme sie aus den Werken." Aber ich will mich heute einmal nicht davor drücken, das zu sagen, was ich nach bestem Wissen und Gewissen dazu sagen muss: An der Frage der Gerechtigkeit scheiden sich die Geister eines „Paulus“ und eines „Saulus“, genau so wie sich die Geister der Christen und der Juden unserer Tage daran scheiden müssen. Hier betreten wir nämlich ein Gebiet unseres Glaubens, auf dem es nur noch ein Ja oder ein Nein geben kann. Als Juden werden die Menschen darauf beharren, dass Gottes uns zugemessene Gerechtigkeit aus den Werken - vornehmlich denen des Gesetzes - kommt. Als Christen werden wir sagen: Unsere Gerechtigkeit trägt den Namen Jesu Christi - alle Werke, alle guten Taten kommen erst aus dem Glauben an diesen Herrn, der uns mit seinem Opfer am Kreuz vor Gott gerecht gemacht hat. Es gibt auf diesem Feld keine Kompromisse, kein "Ja, aber ...", keine Einschränkung, weder auf der einen noch der anderen Seite: Kein Jude wird seinen Be- griff von Gerechtigkeit mit Christus zusammenbringen. Kein Christ kann einen Zusammenhang zwischen seinen Werken und seiner Gerechtigkeit herstellen - jedenfalls nicht in dieser Reihen- folge. Über dieses Glaubensterrain führen ein für allemal zwei getrennte Wege, die sich nirgends berühren und wohl erst in Gottes Ewigkeit einander annähern werden. Aber Paulus ist noch nicht fertig: "Sie (die Juden) haben sich gestoßen an dem Stein des Anstoßes, wie geschrieben steht (Jesaja 8,14; 28,16): ‘Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Fels des Ärgernisses; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.’" Hier ist ganz eindeutig von unserem Herrn Jesus Christus die Rede, an den wir glauben, dessen Namen wir tragen und auf dessen Zukunft wir Christen hoffen. Und der „Stein des Anstoßes“ für jede jüdische Seele - damals und heute - ist wiederum die Frage, woher kommt unsere Gerechtigkeit, oder besser die Antwort, die Paulus gibt: Unsere Gerechtigkeit wird uns durch Jesu Leiden und Sterben zuteil, indem wir daran glauben. Und wir Christen empfangen sie eben nicht durch die Werke oder aus irgendwelchen eigenen Verdiensten, die wir uns erwerben könnten. Schließlich - und damit soll es dann auch genug sein mit dem Vergleichen - schreibt Paulus noch dies: „Liebe Brüder, meines Herzens Wunsch ist, und ich flehe auch zu Gott für sie, daß sie (die Juden) gerettet werden. Denn ich bezeuge ihnen, daß sie Eifer für Gott haben, aber ohne Einsicht. Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und suchen ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan.“ Das ist ja nun auch eine ziem- lich klare Befürchtung: Die Juden könnten wegen ihrer mangelnden Einsicht nicht gerettet werden! „Eifer für Gott“ ist halt nicht genug. Dagegen haben wir Christen - so sieht es Paulus - die Gerechtigkeit erkannt, die vor Gott gilt und das ist die, für die er seinen Sohn in die Welt, in Leiden und Sterben gesandt hat. Ganz treffend ist noch dieser Satz: Sie, die Juden, sind „der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan“. Wer seine „eigene Gerechtigkeit aufrichten“ will, die auf seinen Werken beruht, der macht sich zum Herrn der Gerechtigkeit und lässt Gott nicht mehr Gott sein. Liebe Gemeinde, ich finde, dass wir mit den Worten des Paulus in den Ohren schon einmal so den- ken und reden dürfen. Bei allem guten Willen zum gegenseitigen Verständnis, zur Aussöhnung zwischen Juden und Christen und zur Toleranz zwischen den Religionen - es ist einfach nicht gut, wenn eine Seite ihre Identität aufgibt. Wenn das auch noch auf dem alles entscheidenden „Feld der Gerechtigkeit“ geschieht, dann gäben wir Christen die Mitte unseres Glaubens preis und ver- leugneten unseren Herrn und verachteten, was er ein für allemal für uns getan hat. Toleranz darf niemals so weit gehen, dass sie ihre eigenen Positionen verlässt, um für die andere Seite gesprächsfähig oder gar -würdig zu werden. Aussöhnung hat immer ihren Bezugspunkt, näm- lich das, was besonders Deutsche den Juden im Holocaust angetan haben. Hier ist ein Verbrechen ungeheuren Ausmaßes geschehen, das niemals vergessen oder verdrängt werden darf. Aber dieses Verbrechen war nicht religiös motiviert, auch wenn die Nazi-Propaganda nicht davor zurück- geschreckt hat, religiöse Anspielungen für ihre Zwecke einzusetzen. Aussöhnung wird darum nicht dadurch befördert, dass heute Christen im Dialog mit den Juden Jesus Christus vorsichtig ausk- lammern und neben SEINER Gerechtigkeit auch eine vor Gott gültige Gerechtigkeit aus den Werken des Gesetzes zugestehen. Verständnis schließlich ist etwas anderes als Selbstaufgabe. Ver- ständnis versucht mit offenem Verstand und einem in Liebe geöffneten Herzen zu begreifen, wie und warum der andere Mensch so glaubt, so hofft, so verehrt und anbetet, wie er das tut. Dabei werden wir alles einbeziehen, was wir vom Glauben des anderen, von seinem Ursprung und seiner Geschichte wissen. Verständnis aber hat seine Grenze dort, wo eigene Grundpositionen berührt, das tragende Fundament der eigenen Religion verlassen oder um der Annäherung willen, bestimmte wesentliche Standpunkte des eigenen Glaubens im Gespräch beharrlich ausgeklammert werden. Warum sollten wir nicht voll Dankbarkeit (wie es auch Paulus tut!) davon reden können, dass wir den Juden die Kunde vom Schöpfergott verdanken, dem einzigen Gott im Himmel und auf Erden. Warum sollten wir aber nicht auch aussprechen, dass dieser Gott für uns der Vater unseres Herrn Jesus Christus ist, der uns am Kreuz eine andere Gerechtigkeit als die aus Werk und Gesetz verdi- ent hat. Warum schließlich sollten wir nicht auch das sagen: Dass nämlich die Gerechtigkeit, der Juden aller Zeiten bis heute nacheifern, nicht die selbe ist, die Paulus meint und die allein uns retten und erlösen kann. Ganz wichtig ist bei alledem noch dies: Unser Denken, Reden und Handeln spiegelt beileibe nicht immer die Gerechtigkeit wider, von der Paulus spricht! (Genauso wenig zeigen alle Juden immer nur ein Leben nach der Gerechtigkeit der Werke!) Das bedeutet aber nicht, dass wir nun nicht mehr von unserer Gerechtigkeit durch Jesus Christus reden dürften. Wir halten es mit ihr, so lange wir in dieser Welt sind, so, wie wir es im Philipperbrief des Paulus lesen: „Nicht, dass ich's schon er- griffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.“ (Phil. 3,12) Liebe Gemeinde, wenn uns schon ein „Israelsonntag“ verordnet ist, dann sollten wir auch die Unterschiede, wie sie im jüdischen und im christlichen Glauben bestehen, ansprechen können. Und das ohne befürchten zu müssen, als intolerant oder gar antisemitisch eingestellt zu gelten. Wir dürfen nicht preisgeben, was Paulus am Ende der Verse sagt, die uns heute zu bedenken und zu besprechen verordnet sind: „Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht.“