Predigt zum Sonntag "Okuli" - 19.3.2006 Liebe Gemeinde! „In Ihrer Kirche sehen Sie mich trotzdem nicht“, sagte der junge Mann zu seiner Pfarrerin. Das war vor einiger Zeit am Ende eines langen Gesprächs über Glaubens- und Lebensfragen. Die Bemer- kung ist der Pfarrerin lange nachgegangen. Immer wieder hat sie sich seitdem gefragt: Was wollte der junge Mann damit ausdrücken? Erst einmal sicher das: Ich gehe auch künftig nicht in die Kir- che, nur weil Sie (Frau Pfarrerin) das gewiss von mir erwarten und wollen. - Gut, das war ja we- nigstens eine ehrliche Aussage, wenn sie auch - am Ende eines stundenlangen intensiven Gesprächs gebraucht - ein wenig das Taktgefühl vermissen lässt. Aber der Glaube des jungen Mannes war noch sehr jung, da verzeiht man solche - leicht verletzende - Direktheit. Etwas anderes aber hat die Seelsorgerin bis heute beschäftigt: „In Ihrer Kirche sehen Sie mich trotzdem nicht!“ Zwischen den Zeilen konnte man da doch lesen: Ich glaube, liebe Frau Pfarrerin, das lange Gespräch mit mir, das Opfer an Zeit, Ihre Mühe, mich zu überzeugen und mir zu helfen, hatte nur einen Zweck: Nämlich den, mich für Ihren Gottesdienst zu gewinnen. Noch schärfer for- muliert: „Ihr Leute von der Kirche wollt doch immer bloß das eine, Schäfchen für Eure fromme Sa- che zu fangen. Aber, ätsch, mich kriegen Sie nicht!“ Aber kommen wir zu uns und unserer Gemeinde. Ich kann mich an viele ähnliche Äußerungen er- innern, die auf die selbe Haltung bei manchen Gemeindegliedern hindeuten. Oft gibt auch das Ver- halten der Menschen Hinweise in dieser Richtung: Etwa die Beharrlichkeit, mit der einer dem Got- tesdienst oder dem Gemeindeleben überhaupt fernbleibt - dabei hält er sie - seinen Worten nach - doch für wichtig und gut und er lobt „seine Kirche“ doch auch lautstark vor den Leuten. Steht da im Hintergrund nicht die Angst, von der Kirche „kassiert“ zu werden und eben die Ansicht: „Das ma- chen die von der Kirche doch nur, um mich der „Herde“ einzuverleiben und den eigenen missiona- rischen Drang zu befriedigen.“ Nicht, dass die Menschen gleich meinen, der Pfarrer z.B. würde mehr Geld bekommen, wenn er mehr Schäfchen um sich schart. Aber um „Ansehen“ und „Erfolg“ vor sich selbst und vielleicht den Kolleginnen und Kollegen wird es ihm schon zu tun sein! Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich muss zugeben: Ja, ich freue mich auch persönlich sehr, wenn am Sonntag die Reihen hier unter der Kanzel gut besetzt sind. Es macht mir Freude, wenn nach und nach auch mehr Gottesdienstbesucher kommen, und besonders würde es mich dann freu- en, wenn das kein Strohfeuer bliebe, sondern sich der Kirchgang bei uns wirklich nachhaltig bes- sert. Und natürlich ist mir das wichtig, wenn etwa im Seniorenkreis oder bei unserem Bibelge- sprächsabend neue, beständige Teilnehmer auftauchen. Und - ja! - ich sehe das durchaus auch als einen Erfolg der Predigt- (und Gemeinde-)arbeit an, die ich hier tun darf und bei der mir - Gott sei Dank! - auch viele Gemeindeglieder zur Seite stehen. Aber - und das dürfen sie mir jetzt auch glau- ben! - die Menschen, für die unsere Arbeit geschieht, sind mir und gewiss den meisten Kirchenleu- ten viel, viel wichtiger als die eigene Person, als der Erfolg und das Ansehen für uns selbst und auch als die Freude, die wir aus unserem Einsatz in der Gemeinde ziehen. Ich glaube nun einmal, dass keiner ohne lebendige Gemeinschaft leben kann - wie sie heute für alle Menschen allein noch die christliche Gemeinde bieten kann. Aber es gibt noch andere Gedanken, andere Gründe, warum wir den Menschen nachgehen und manchmal vielleicht sogar auf die Nerven gehen, um sie für die Sache Jesu Christi zu gewinnen. Und davon spricht der Predigttext, der uns für diesen Sonntag verordnet ist. Ich lese aus dem 1. Pet- rusbrief im 1. Kapitel: Textlesung: 1. Petr. 1, 18 - 21 (Auszug) Denn ihr wißt, daß ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seid von eurem nichtigen Wandel nach der Väter Weise, sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und un- befleckten Lammes. Er ist zwar zuvor ausersehen, ehe der Welt Grund gelegt wurde, aber offenbart am Ende der Zeiten um euretwillen, die ihr durch ihn glaubt an Gott, der ihn auferweckt hat von den Toten und ihm die Herrlichkeit gegeben, damit ihr Glauben und Hoffnung zu Gott habt. Liebe Gemeinde, wir sind erlöst durch Jesus Christus. Wir sind durch sein Blut erkauft, freigemacht von allem „nichtigen Wandel“, von einem sinnlosen und darum auch freudlosen Leben nur für uns selbst, unseren Spaß, unser Hab und Gut, unseren Selbstruhm und unsere Ichsucht. Nur die Botschaft von Jesus Christus und unsere persönliche Antwort darauf kann das Leben wirk- lich erfüllt und froh machen. Nur der Glaube an ihn, die Hoffnung auf ihn und die Zuversicht durch ihn, dass wir auferstehen und ewig leben werden, können uns in dieser Zeit Ziel und Richtung ge- ben. Und nur ein Leben mit Christus und in seinem Dienst an den Menschen kann uns, wenn’s ans Sterben geht, dazu helfen, dass wir einmal sagen können: „Es hat sich gelohnt; es war nicht um- sonst und - es war schön.“ Alles andere, unser Besitz, was wir an Positionen erreicht und welche Karriere wir gemacht haben, wie viel Macht wir hatten und wie groß der Einfluss bei den Menschen war, wird dann ein Dreck sein und wird uns nur belasten, dass uns der Abschied schwer fällt. Und noch manches mehr ist Teil dieses Glaubens - und wir predigen davon jeden Sonntag und bei vielen anderen Gelegenheiten. Wenn man in diesem Glauben steht und aus ihm heraus zu leben versucht, und wenn man für sich selbst damit jeden Tag wieder gute Erfahrungen macht, dann möchte man einfach auch andere Menschen davon überzeugen und dafür gewinnen - und das kennen sie doch auch! Aber das tun wir doch nicht in erster Linie, um uns dann die Schulter klopfen zu können, um Be- kehrungen an unsere Fahnen zu heften oder unseren missionarischen Eifer zu befriedigen. Dabei geht’s uns doch um die Mitmenschen. Sie sollen Sinn und Fülle in ihr Leben bekommen. Sie sollen den Weg finden. Um ihr Heil ist es uns doch zu tun! Und nicht um unseres! Es ist die Sorge um die Menschen, die uns treibt. Und oft sind diese Menschen unsere Lieben, die uns ganz nahe stehen, unsere Ehegatten, Kinder oder Eltern. Und - sollten die uns nicht Sorgen machen? Und sollte uns deren religiöses Desinteresse nicht nahe gehen? Und sollte uns ihre Verachtung des christlichen Glaubens nicht wehtun? Ich muss das heute sagen, und da spreche ich noch einmal ganz persönlich: Mir tut das weh, wenn eine jahraus, jahrein, Sonntag für Sonntag das Kochen vorschiebt, um zu begründen, warum sie nie zum Gottesdienst geht. Und ich werde das nie begreifen können, warum einer den Gottesdienst am Nachmittag, von ihm selbst beim Pfarrer erbeten, auch nach dem zehnten Mal nie besucht hat. Und es tut mir Leid, wenn alte Leute nicht zum Seniorenkreis ihrer Gemeinde gehen, vielleicht nur weil sie den Anruf bei einer der Mitarbeiterinnen scheuen: „Könnte mich wohl einer abholen!“ Denn wie gern würden sie das tun! Und es macht mich traurig, wenn bei anderen Gemeindekreisen Teil- nehmer von einer Woche auf die andere fernbleiben und man nie erfährt, warum. Und ich könnte das Fernsehen manchmal sonst wohin wünschen, wenn es uns mit seinem Angebot die Gemein- schaft der Frauenabende zerstört. Aber bei alledem geht es doch nicht zuerst um mich! Ich wünsch- te vielmehr der Hausfrau, die sonntags stets kochen muss, dass sie einmal alles schon am Samstag- abend vorbereitet und dann vielleicht eine Viertelstunde später zu Tisch ruft. Und ich wünschte dem Mann, der um Einrichtung von Nachmittagsgottesdiensten bat, dass er, wenn einer angeboten wird, auch einmal kommt. Und ich wünschte dem alten Menschen, dass er uns um Abholung zum Seniorennachmittag bittet, weil das doch überhaupt kein Problem ist. Denen die einen Kreis der Gemeinde verlassen, wünschte ich den Mut, dass sie aussprechen können, was sie vielleicht stört - nur dann kann man ja etwas ändern. Und den Frauen wünschte ich, dass sie erkennen, wie sehr Un- regelmäßigkeit die Sache der Gemeinschaft beeinträchtigt. Dabei müssen sie uns Leuten von der Kirche glauben: Wir haben diese Wünsche nicht um unseret- willen. Wir möchten die Menschen nicht bewegen, um uns dann selbst die Schulter klopfen zu können, nein, wir wollen, dass sie sich von Jesus Christus bewegen lassen und dass sie Erfahrungen mit der Gemeinschaft und dem Glauben machen, die uns selbst wichtiger sind als alles andere. „In Ihrer Kirche sehen Sie mich trotzdem nicht!“ So hat der junge Mann neulich zu seiner Pfarrerin gesagt. Ich denke mir, dass diese Pfarrerin ihm und allen, die seine Haltung teilen, gern sagen wür- de: Wir wollen nicht uns selbst dienen, sondern der Sache des Herrn Jesus Christus! Und wir müs- sen ihn verkündigen und von ihm erzählen! Wie sollten wir denn schweigen können von dem, der uns "nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem teuren Blut erkauft hat", der uns erlöst hat vom "nichtigen Wandel" und uns den Sinn unseres Lebens und die Hoffnung auf eine ewige Zukunft schenkt?