Predigt zum 16. So. nach "Trinitatis" - 11.9.2005 Textlesung: Klgl. 3,22-26.31.32 Die Güte des HERRN ist's, daß wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen. Denn der HERR ver- stößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. Liebe Gemeinde! Beim ersten Hören mögen uns diese Worte ja noch gefallen ... Barmherzigkeit - Treue - Hoffen - der Herr ist freundlich - Hilfe - große Güte ... Aber wenn wir sie zum zweiten Mal lesen und wenn wir sie dann gar meditieren und über sie nachdenken - bleibt wenig von ihrem Glanz und ihrer Schönheit übrig und wir spüren, wie sich der Zweifel in unser Herz frisst: Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende ... Warum ist schon vor Jahren dieses Unglück über mich gekommen, das mich seitdem bedrückt und dessen Schatten ich wohl nie mehr loswerde? - Was ist barmherzig daran, dass ich keinen Menschen habe, der mein Leben mit mir teilt? - Warum muss ich so krank sein? Gottes Treue ist groß. Wie oft schon habe ich mich allein gefühlt, absolut allein. - Wann zuletzt war es, dass ich Gottes Nähe so ganz deutlich gespürt habe? - Führt mich Gott? Ist er wirklich da und zeigt mir den Weg, den ich gehen soll? Ich will auf Gott hoffen. Was bleibt mir anderes übrig? Aber hilft er auch - so dass ich es fühlen kann? Hat meine Hoffnung nicht oft genug schon getrogen; ist nicht immer wieder gerade das eingetreten, wovor ich mich am meisten gefürchtet habe? Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen. Ja, natürlich, es hat bei mir an Geduld gefehlt! Wenn ich nicht immer so gedrängelt hätte in meinen Gebeten, dann hätte Gott mir geholfen. Aber stimmt denn das? Woher soll ich's wissen? Ist nicht vielleicht richtig, was das Sprichwort sagt: "Hoffen und Harren macht manchen zum Narren!" - Warum nur ist der Glaube an Gott so schwierig!? - - - Liebe Gemeinde, in vielen von uns sieht es so aus. Heute habe ich es einmal ausgesprochen und wir haben es gehört. Gewiss, es gibt auch die anderen: Die leben sozusagen Tür an Tür mit Gott. Wenn sie rufen, dann hört er. Wenn sie ihn brauchen, hilft er. Allezeit kommt er in ihr Gebet. Und wir wollen ihnen das glauben und uns mit ihnen daran freuen - auch wenn unsere Erfahrungen anders sind. Mir kamen über den Worten aus den Klageliedern, die wir heute bedenken, Verse von Rainer Maria Rilke in den Sinn, die öffnen unseren Blick und vielleicht unser Herz zu einer ganz anderen Sicht auf unsere Beziehung zu Gott, auf den Glauben ... Hören wir, wie für den Dichter unser Verhältnis zu Gott aussieht: Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht, dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht. Aber die Worte, eh jeder beginnt, diese wolkigen Worte, sind: Von deinen Sinnen hinausgesandt, geh bis an deiner Sehnsucht Rand; gieb mir Gewand. Hinter den Dingen wachse als Brand, daß ihre Schatten, ausgespannt, immer mich ganz be- decken. Laß dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken. Man muß nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste. Laß dich von mir nicht trennen. Nah ist das Land, das sie das Leben nennen. Du wirst es erkennen an seinem Ernste. Gieb mir die Hand. (Rainer Maria Rilke, aus: "Das Buch vom Mönchischen Leben") Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht ... Ich weiß schon, das ist eine ungeheure Behauptung! Was ist denn dann mit unserem Gebet? Ist es ein Selbstgespräch? Und die Worte in der Bibel - sind sie gar nicht Gottes Ansprache, sein Ruf an uns? Und nicht zuletzt die Predigt - dürfen wir von den Kanzeln und auch hier und jetzt nur Menschenwort erwarten? Und trotzdem, es bleibt doch dabei: Manchmal, bei vielen von uns sehr oft, denken wir eben doch so: Gott schweigt. Gott gibt keine Weisung. Unsere Beziehung zu ihm ist einseitig. Unser Gebet steigt empor zu ihm ... aber es kommt nichts zurück. Vielleicht "trösten" wir uns dann mit solchen Gedanken: Wir sind ja auch nicht so, wie Gott uns haben will. Darum redet er nicht mit uns. Uns fehlt die Frömmigkeit, mit der andere glänzen. Da- rum können wir Gottes Stimme nicht hören. Wir nehmen uns einfach zu wenig Zeit für Gott. Also dürfen wir auch nicht damit rechnen, dass er sich Zeit für uns nimmt. - Aber das tröstet ja nicht wirklich. Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht, dann geht er schweigend mit ihm aus den Nacht ... Wenn es nun doch so wäre? Lassen wir es einen Augenblick stehen. Immerhin, so geht es weiter: Aber die Worte, eh jeder beginnt, diese wolkigen Worte, sind ... Wäre das nicht auch eine wunder- bare Sache: Dass Gott mit uns ganz persönlich spricht, bevor wir "aus der Nacht" ins Leben hinübertreten? Dass er uns am Anfang sozusagen mit allen Worten, aller Weisung, allem Trost ausstattet, die wir je brauchen werden? Eine "Eiserne Ration" sozusagen. Ein Vorrat an Kraft, Hilfe, Ansporn und an allem anderen, was in Worten nur liegen kann. - Was könnten das für Worte sein? Vielleicht solche: Laß dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken. Man muß nur gehn. Laß dich von mir nicht trennen. Nah ist das Land, das sie das Leben nennen. Du wirst es erken- nen an seinem Ernste. Gieb mir die Hand. Und wenn wir nach einem solchen Beginn wirklich im Laufe unseres Lebens nie wieder mit Gott redeten, wäre das nicht doch sehr viel: Man muss nur gehn. Du musst nur immer weiter deine Schritte durch die Lebensspanne machen, die dir von Gott zugemessen ist, unbeirrt, tapfer im Leid und fröhlich in guter Zeit. Lass dich nicht von Gott tren- nen! Halte, was auch immer kommt, an ihm fest. Du gehst auf das Land zu, in dem das wahre Le- ben beginnt! Du hast die Verheißung der Ewigkeit! Und du wirst immer wissen, wo das Land des Lebens liegt, denn es ist ernst, diesen Weg zu machen. Man spürt, dass es Gewicht hat, Sinn und nicht gleichgültig ist. Und noch eins - vielleicht das wichtigste!: Gott ist mit uns unterwegs. Wir fangen mit diesem Versprechen in dieser Welt schon an: Wenn wir uns nicht von Gott trennen, dann wird er immer in unserer Nähe sein, so nah, dass wir ihm die Hand geben können. Er wird sie niemals loslassen. Es mag sein, dass wir immer noch diesem Gedanken nachhängen, Gott müsste doch auch auf dem Weg durch dieses Leben ansprechbar sein und antworten, er müsste doch im Gebet, im Gottesdienst und unserer persönlichen Andacht mit uns reden ... Ganz ausdrücklich noch einmal: Das ist wohl auch bei vielen Menschen so. Und wir wollen das nicht bezweifeln. Aber es gibt eben auch die an- deren, die solche Erfahrungen nicht gemacht haben. Denen über dem Schweigen Gottes in ihrem Leben der Glaube an Gottes Treue, die doch alle Morgen neu sein soll, abhanden gekommen ist, deren Geduld am Ende und deren Hoffnung lange begraben ist. Für diese Menschen kann das viel Mut schenken, wenn sie es wieder einmal hören und daran erinnert werden, dass Gott mit jedem Menschen spricht, wenn er ihn schafft - und dass er also auch ihnen ganz persönlich sein Wort mit auf den Weg gegeben hat. Das Wort, das für ein ganzes Leben genügt! Ich weiß nicht, ob ihnen dieser deutliche Bezug von Rilkes Versen zur Taufe aufgefallen ist? Aber ist das nicht am Anfang unseres Lebens, als wir getauft worden sind, ganz ähnlich gewesen, wie es der Dichter beschreibt: Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht, dann geht er schweigend mit ihm aus den Nacht ... Auch bei der Taufe spricht Gott mit uns persönlich. Er schenkt uns seinen Segen, das Versprechen, dass er uns nie verlassen will, und die Verheißung des Ewigen Lebens - denn wie wir in Jesu Tod getauft sind, so sollen wir auch mit ihm auferstehen. Und schließlich ist auch das genau so: Wir wissen später nichts mehr von dem, was Gott uns in der Taufe verspricht. Wir waren ja noch ganz klein damals. Aber wir können es uns sagen lassen: Du bist getauft! Du bist ein von Gott gesegneter Mensch. Deine Zukunft liegt in der Ewigkeit. Du sollst leben! Liebe Gemeinde, lassen wir uns heute das sagen: Gott hat auch mit dir gesprochen, als du aus seiner Hand hervorgegangen bist. Dir ist seine Ewigkeit geschenkt. Du hast ihn immer an deiner Seite. Darum zweifle nie daran, was auch kommt. Die Zeit hier ist oft ernst und manchmal will uns die Kraft und die Hoffnung verlassen. Unser Glaube flackert immer wieder einmal wie ein ver- löschendes Licht. Aber es gibt das Land des Lebens und wir gehen darauf zu. Wir wollen beharrlich weitergehen, uns nicht von Gottes Hand abbringen lassen, sondern sie festhalten. Und wie wir uns durch die Erzählungen unserer Eltern und Paten an unsere Taufe erinnern lassen können, so wollen wir uns durch jede Predigt, jedes Bibelwort, das wir lesen oder hören erinnern lassen: Gott hat dir den Weg und das Ziel gesagt. Er hält dich bei der Hand. Lass ihn nicht los! Und in all unseren Gebeten wollen wir uns immer wieder ins Gedächtnis rufen lassen, was uns Gott, als er uns schuf, an Trost, Weisung, Hoffnung und Verheißung mitgegeben hat. Dann wird Gott auch in unserem Gebet immer wieder neu mit uns sprechen. Ich wünsche uns, dass uns so auch in Zeiten, in denen uns Gottes Treue und Barmherzigkeit zur Frage werden, immer neue Hoffnung, neuer Mut und fester Glaube zuwachsen. Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht, dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht. Aber die Worte, eh jeder beginnt, diese wolkigen Worte, sind: Von deinen Sinnen hinausgesandt, geh bis an deiner Sehnsucht Rand; gieb mir Gewand. Hinter den Dingen wachse als Brand, daß ihre Schatten, ausgespannt, immer mich ganz be- decken. Laß dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken. Man muß nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste. Laß dich von mir nicht trennen. Nah ist das Land, das sie das Leben nennen. Du wirst es erkennen an seinem Ernste. Gieb mir die Hand.