Predigt am Vorl. Sonntag d. Kj. - 17.11.2002 Textlesung: 2. Kor. 5, 1 - 10 Denn wir wissen: wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, daß wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden. Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht ent- kleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Le- ben. Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat. So sind wir denn allezeit getrost und wissen: solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. Wir sind aber getrost und haben vielmehr Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn. Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, daß wir ihm wohlgefallen. Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse. Liebe Gemeinde! Diese Worte des Paulus sprechen gleich einige Themen an. Würden 10 Prediger dazu hier auf der Kanzel etwas sagen, dann würden gewiß 10 völlig unterschiedliche Predigten herauskommen. So habe ich mich auch gefragt: Was für ein Thema soll ich wählen? Außerdem gibt es ja auch bei ihnen, den Hörern, ganz unterschiedliche Erwartungen an eine Predigt und immer auch sehr unterschiedli- che persönliche Interessen: Der eine sucht Hilfe, eine andere eher Besinnung, wieder ein anderer wünscht sich ein bißchen Freude und aufbauende Gedanken. Nun ist heute auch noch der Volkstrauertag. Da kommt noch etwas hinzu: Viele von ihnen, beson- ders die Frauen, die im letzten großen Krieg Witwen geworden sind oder einen Sohn verloren ha- ben, wollen heute ein tröstliches Wort hören. Und die Männer, die selbst im Krieg waren und mit Gottes Hilfe nach Hause zurückkehren durften, möchten vielleicht, daß hier auch Worte des Dankes für Bewahrung und Führung laut werden. Dann gibt es noch die Jüngeren unter uns, die möchten vielleicht von alledem, was mit "Volkstrauertag" zu tun hat, überhaupt nichts hören. (Das kann man auch an der Tatsache ablesen, daß die Jugend in jedem Jahr bei der Feier nach dem Gottesdienst am Ehrenmal rar ist, ja meistens völlig fehlt.) Und schließlich ist da die "Kirche", unsere Landeskirche, die erwartet heute auch etwas von uns PfarrerInnen und Verkündigern: Wir sollen nicht die Rede zum Volkstrauertag - wie sie nachher ein Vertreter der bürgerlichen Gemeinde halten wird - vor- wegnehmen, vielmehr sollen wir über das Thema "Frieden" sprechen. Zuguterletzt stellt noch das zu Ende gehende Kirchenjahr gewisse Ansprüche: Der Gedanke an Tod und Ewigkeit muß wohl auch - gerade bei diesem Predigttext heute - zur Sprache kommen. Liebe Gemeinde, wie löst man all diese Schwierigkeiten? Zunächst möchte ich das in Erinnerung rufen: Volkstrauertag ist kein Fest, kein Gedenktag der Kir- che. Sie haben das vorhin schon bei der Begrüßung gespürt. Ich habe nicht gesagt: Herzlich will- kommen zum Gottesdienst am Volkstrauertag, sondern "...am vorletzten Sonntag des Kirchenjahrs". Den anderen Erwartungen an diesem Tag, besonders denen nach Trost und Dank will ich mich aber nicht entziehen. Dazu möchte ich heute - wie ja meistens - den Predigttext zu ihnen sprechen lassen - und das vor allen anderen Dingen! Auf den ersten Blick sind das ja recht fremde und rätselhafte Gedanken, die Paulus uns da vorträgt: "Irdische Zeltwohnung", "Haus in den Himmeln", "mit einer himmlischen Behausung überkleidet werden", "fern vom Herrn auf der Wanderung", "wir haben aber Lust, den Leib zu verlassen"... Wovon spricht der Apostel eigentlich? Wer von uns lebt denn im Zelt? Wer von uns ist nicht viel- mehr sehr seßhaft, mit einem Haus aus Stein, mit gehobenem Lebensstandard und allem, was dazu gehört? Und wer - sind wir ehrlich! - hat wirklich "Lust" aus diesen Leben in ein anderes zu gehen, denn das ist mit "den Leib verlassen" gemeint. - Sehen sie, jetzt kommt zu all den Problemen dieses Sonntags noch ein weiteres: Der Predigttext scheint mit uns und unserem Leben wenig zu tun zu ha- ben! Er spricht zu einer anderen Zeit, zu anderen Menschen, aber nicht mit uns. - - - Liebe Gemeinde, wenn wir das jetzt vielleicht einmal im übertragenen Sinn verstehen: "Irdische Zeltwohnung" - Ich nehme mir jeden Morgen wieder neu vor: Ich möchte mein Herz an nichts hän- gen, was zu dieser Welt gehört. Ich möchte frei bleiben von allem, was mich verlocken und binden will: Mein Eigentum, das Haus, das ich bewohnen darf, aller Kram und alle Güter... Ich will, daß mich das alles nicht zurückhalten würde, wenn ich heute sterben, heimgehen sollte, müßte... Wie gesagt, ich nehme mir das vor, ich bemühe mich darum. Aber ist nicht vielleicht eine solche Hal- tung der Welt und den Sachen gegenüber gemeint mit "Zeltwohnung"? Ein Zelt kann ich ja jederzeit abbrechen: Ich ziehe ein paar Pflöcke heraus und falte die Leinwand zusammen und bin bereit... - Von daher erklärt sich nun auch das "Haus in den Himmeln": Da erst werde ich meine feste Bleibe kriegen! Dort erst muß ich keinen Gedanken mehr daran haben, daß ich einmal davon muß, denn dort bin ich am Ziel. Dort ist mein ewiges Zuhause, dauerhaft wie ein Haus mit solidem Fundament und Steinmauern. Deutlich ist dabei: Wenn ich hier schon im festen Haus lebe, wenn ich hier schon festhänge, ja an Kram und Sachen klebe, die mich umgeben, wenn ich mich von der Welt und ihrem Glanz blenden lasse - dann werde ich gewiß wenig Sehnsucht nach dem Haus im Himmel haben, dann werde ich vielmehr möglichst für immer auf dieser Erde und mit meinem irdischen Besitz leben wollen. Wo soll denn da auch die "Lust" herkommen, "den Leib zu verlassen und daheim zu sein beim Herrn"??? Und das scheint mir auch in der Tat die größte Versuchung unserer Tage, daß wir einfach genug, ja zu viel haben an den Gütern dieser Welt, daß sie uns zufrieden und zu satt machen und wir die Sehn- sucht nach der zukünftigen Heimat verlieren. - Und da kommen mir jetzt doch Gedanken, wie sie gut zum Volkstrauertag passen, den die bürgerliche Gemeinde heute begeht: Versetzen wir uns im Geiste doch einmal in die letzten Kriegs- und die ersten Nachkriegsjahre. (Auch bei mir ist diese Zeit durch Erzählungen meiner Eltern und Großeltern noch lebendig.) Ein Leben in den Trümmern eines zerbombten Hauses z.B. war dem in einem Zelt wohl gar nicht so unähnlich. Aber die Bedingungen (hier auf dem Land) waren gewiß (überall) anders, darum möchte ich "im Zelt wohnen" jetzt auch im übertragenen Sinn verstehen. Und ich möchte sie fragen: Wovon lebten sie damals? Von dem, was sie an Geld und Gut hatten? Von dem, was sie in ihre Töpfe ste- cken konnten? Von dem, was sie kleidete und von anderen äußerlichen Dingen? Hatte das in diesen Jahren wirklich Bedeutung? Wenn nur das Notwendigste zum Leben da war - wer hätte dann nach mehr gefragt? Wer hätte damals einen Gedanken an etwas verschwendet, was heute der einzige Le- bensinhalt zahlreicher Zeitgenossen zu sein scheint? Die andere Seite: Wie wichtig war damals aber die einfache Tat der Liebe. Wie entscheidend war es für viele Menschen, die vielleicht bei uns nach Flucht und Vertreibung eine neue Heimat gefunden haben, ob sie damals einer bei sich aufgenommen oder ihnen zu einer Wohnung verholfen hat. Wie viele Mitbürger wissen heute noch sehr genau, wem sie die Möglichkeit zum Neubeginn verdanken, wer damals ein Herz hatte - und wer keins. Und wie wichtig war in dieser Zeit ein Brief: Ein paar Zeilen des Sohnes, des Mannes von der Front oder aus der Gefangenschaft... Welche Bedeutung hatten solche wenigen Worte: Ich bin am Leben! Vielleicht darf ich schon bald nach Hause. Wir werden uns wiedersehen! Was konnte davon abhängen für die Menschen, die Frauen, die Mütter, die Geschwister zu Hause. Ein Brief, ein beschriebenes Stück Papier - Tod oder Leben konnte es hei- ßen. Denken wir auch einen Moment an die Lage draußen, unter den Soldaten in fremdem Land, in das man ihnen zu ziehen befohlen hatte: Was für unbedeutende Dinge - nach heutiger Sicht! - konn- ten da Leben und Überleben ausmachen: Das Stück Brot, das man teilte, das gute Wort, das einen zum Durchhalten stärkte, menschliches Handeln derer oder denen gegenüber, die man offiziell als Feinde bezeichnete... Damals wußten wir noch, wovon der Mensch lebt. Damals konnten wir noch Sehnsucht empfinden, aus diesem Leib zu gehen und beim Herrn zu sein. Damals lebten wir in Not- unterkünften und Behausungen, die wir so leicht aufgegeben hätten wie Zelte. Damals hingen wir auch geistig noch nicht an dem, was wir besaßen und was wir hatten. Diese Zeit ist vorbei - Gott sei Dank. Wir können nicht zurück, und keiner will das. Aber: Die Be- sinnung auf diese Zeit kann uns helfen, die Werte des Lebens wiederzufinden, von denen wir zuletzt wirklich leben und abhängen: Zu diesen Werten gehört die Liebe, die selbstlos und ohne eigene Inte- ressen schenken und teilen kann. Das Vertrauen zu unseren Mitmenschen zählt dazu, ein Vertrauen, daß sich in jeder Situation auf den andern verlassen kann. Die Freude gehört dazu, eine Freude an der Gemeinschaft mit denen, die denselben Weg haben und dasselbe Ziel. In den Jahren um 45 galten vielen Menschen diese Werte noch etwas. Heute hat Lebensstandard und oft sinnloser Luxus viel davon verdrängt. Und noch einiges mehr machte die Werte aus, die uns damals wichtig waren und als Menschen überleben ließen. Vielleicht denken wir heute einmal intensiver als sonst darüber nach und vielleicht helfen uns diese Gedanken am Volkstrauertag, daß wir uns und unser Leben einmal prüfen und vielleicht neu ausrichten. Denn eines ist sicher, und das sagt der Predigttext ganz deut- lich: Wir müssen alle einmal vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden... Lassen wir uns nicht täuschen: Bei ihm werden andere Werte gelten als die, die wir uns gekauft und erworben haben. Er wird nach Liebe und Vertrauen fragen, nach Güte und Mitmenschlichkeit...