Predigt am 23. So. n. Trin. - 3.11.2002 Textlesung: 1. Mos. 18, 20 - 21. 22 - 33 Und der HERR sprach: Es ist ein großes Geschrei über Sodom und Gomorra, daß ihre Sünden sehr schwer sind. Darum will ich hinabfahren und sehen, ob sie alles getan haben nach dem Ge- schrei, das vor mich gekommen ist, oder ob's nicht so sei, damit ich's wisse. Und die Männer wandten ihr Angesicht und gingen nach Sodom. Aber Abraham blieb stehen vor dem HERRN und trat zu ihm und sprach: Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbrin- gen? Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein; wolltest du die umbringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darin wären? Das sei ferne von dir, daß du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, so daß der Gerechte wäre gleich wie der Gottlo- se! Das sei ferne von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten? Der HERR sprach: Finde ich fünfzig Gerechte zu Sodom in der Stadt, so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben. Abraham antwortete und sprach: Ach siehe, ich habe mich unterwun- den, zu reden mit dem Herrn, wiewohl ich Erde und Asche bin. Es könnten vielleicht fünf weniger als fünfzig Gerechte darin sein; wolltest du denn die ganze Stadt verderben um der fünf willen? Er sprach: Finde ich darin fünfundvierzig, so will ich sie nicht ver- derben. Und er fuhr fort mit ihm zu reden und sprach: Man könnte vielleicht vierzig darin finden. Er aber sprach: Ich will ihnen nichts tun um der vierzig willen. Abraham sprach: Zürne nicht, Herr, daß ich noch mehr rede. Man könnte vielleicht dreißig darin finden. Er aber sprach: Finde ich dreißig darin, so will ich ihnen nichts tun. Und er sprach: Ach siehe, ich habe mich unterwun- den, mit dem Herrn zu reden. Man könnte vielleicht zwanzig darin finden. Er antwortete: Ich will sie nicht verderben um der zwanzig willen. Und er sprach: Ach, zürne nicht, Herr, daß ich nur noch einmal rede. Man könnte vielleicht zehn darin finden. Er aber sprach: Ich will sie nicht verderben um der zehn willen. Und der HERR ging weg, nachdem er aufgehört hatte, mit Abraham zu reden; und Abraham kehrte wieder um an seinen Ort. Liebe Gemeinde! Das ist schon ein ziemlich starkes Stück, das sich Abraham hier leistet: Er belehrt Gott über das, was in seinen Augen "Gerechtigkeit" wäre. Ja, schlimmer noch: Er wirft Gott vor, er wäre ungerecht, oder doch nahe daran, es zu werden: Das sei ferne von dir, daß du das tust und tötest den Gerech- ten mit dem Gottlosen, so daß der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose! Das sei ferne von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten? Aber sehen wir auch das: Gott läßt es sich gefal- len! Er weist Abraham nicht zurecht. Allenfalls am Ende der Geschichte haben wir das Gefühl, es wäre Gott nun wirklich genug, mit diesem unverschämten Menschen zu verhandeln: Und der HERR ging weg, nachdem er aufgehört hatte, mit Abraham zu reden... Aber was nehmen wir nun mit von diesem Streitgespräch Abrahams mit seinem Gott? Liegt hier ir- gendeine Lehre darin, die wir ziehen können? Wozu ermutigt uns das Verhalten des Abraham? Was daran kann uns ein Hinweis sein, ein Anstoß - besonders wenn wir auf den Ausgang der Geschichte schauen, und da meine ich nicht, daß Gott aufhört mit Abraham zu sprechen und weggeht, sondern daß er am Ende doch Feuer vom Himmel regnen läßt und Sodom zerstört. Erfolg hat Abraham also nicht gehabt - mit seiner Unverschämtheit. Er konnte Gott nicht umstim- men. Vielleicht aber war es ja auch so, daß wirklich weniger als zehn Gerechte in Sodom wohnten? - Noch einmal: Was lernen wir aus dieser Geschichte? Für mich ist die Mitte dieser Verhandlung zwischen Gott und Abraham einmal der Mut, dann aber auch die "Barmherzigkeit", nämlich die echte Anteilnahme eines Menschen am Schicksal anderer! Warum ist Abraham nicht still, warum überwindet er die innere Angst, die er doch gewiß gehabt hat, den großen Gott so hart anzugehen? Und könnten wir nicht wirklich fragen, was Abraham das ei- gentlich angeht, daß Gott diese abgrundtief verderbte Stadt zerstören will? Vielleicht wollte er seine Verwandten, Lot und seine Familie, die zu Sodom wohnten, retten? Dann aber hätte er es doch sa- gen können: Herr, verschone meine Leute! Oder er hätte sie warnen können: Verlaßt die Stadt, denn Gottes Gericht wird über sie kommen. Aber nein, er läßt sich auf einen Streit mit Gott ein. Und da- bei ist er wahrhaftig nicht zimperlich. Und es geht doch nicht einmal um ihn selbst. Liebe Gemeinde, mal ganz ehrlich: Könnten wir uns das vorstellen, daß wir uns so verhalten? - Das ist jetzt zu weit hergeholt, meinen sie, das mit "Sodom" und "dem Feuer vom Himmel"? Und wer kann sich auch nur denken, Gott kündigte ihm vorher an, was er zu tun beabsichtigt, welches Straf- gericht er über eine Stadt oder einen Menschen plant? Ja, das ist wirklich nicht einfach, solche Gedanken zu denken. - Darum beschränken wir uns darauf, uns zu fragen, wie sehr wir bereit wären, für andere zu bitten, für sie einzutreten und mit allem, was uns zu Gebote steht, böses Schicksal von ihnen abzuwenden. Und suchen wir uns dazu ganz konkre- te Beispiele - und solche aus unseren Tagen: Ein Mann aus unserer Umgebung ist erkrankt, eine sehr schlimme Sache. Es heißt, er hätte nicht mehr allzu lang zu leben. Der Mann aber ist noch jung, er hat eine Frau und drei Kinder und ist der alleinige Ernährer seiner Familie. Wir sind sehr bestürzt, als wir es hören. Er ist doch ein so netter Mensch, denken wir...wirklich schlimm...warum gerade er? - Werden wir nun noch eine zeitlang be- troffen sein und das auch dem einen oder anderen sagen, dann aber nach und nach wieder verdrän- gen und vergessen, wie schwer das Geschick diesen Mann geschlagen hat? Oder werden wir mehr fertigbringen? - Ja, was denn, fragen sie? - Ich könnte mir vorstellen, daß wir Tag für Tag unsere Hände für diesen Menschen falten, daß wir wieder und wieder vor Gott bringen, wie traurig und hart wir das finden, was er diesem Mann auferlegt, daß wir Gott um Heilung anflehen, ihm die Kinder und die Frau in unseren Gebeten vor Augen stellen und die Verheißung, seine Menschen zu segnen, zu beschützen und zu bewahren. Das wäre mehr als bloß davon zu hören, mehr als Neugier oder im günstigeren Fall: Interesse. Das wäre ehrliches, herzliches Erbarmen über einen Menschen. Das wäre ein Aufwand, der uns Geduld und Ausdauer kostet. Eine andere Geschichte - sie spielt nur zwischen uns Menschen, aber sie paßt auch hier hin: Uns ist zu Ohren gekommen, daß unser Nachbar, unsere Kollegin oder sonst ein Bekannter im Ort oder im Betrieb ausgetragen wird. Und wir wissen sogar, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hat, und wir können mit Sicherheit sagen, daß es jeder Grundlage entbehrt. - Aber werden wir das sagen? Es gibt ja immer einiges, was dagegen spricht, sich in solche Dinge einzumischen: "Alle, die der üblen Nach- rede aufgesessen sind, kann ich ja ohnehin nicht erreichen!" - "Wenn ich etwas sage, sieht das ja viel- leicht so aus, als wäre ich der Verursacher des üblen Geredes und wollte mich jetzt nur reinwa- schen." - "Am Ende wird mir noch angehängt, ich wollte den, von dem die Gerüchte gehen, doch nur in Schutz nehmen, um mich bei ihm einzuschmeicheln." Ja, und dann schweigen wir doch lieber mit der festen, leider aber nur stillen Hoffnung, die Sache würde sich irgendwann ja von selbst aufklären. - Den Mund aufzumachen, scheuen wir meist. Wenn es zum Schwur kommt, ziehen wir uns lieber in die Menge der bloßen Zuschauer zurück. Denn Far- be bekennen kostet Mut. Mit dem, der Unrecht leidet, solidarisch zu sein, braucht Einsatz von Kraft und Nerven. Und es stimmt ja: Leicht geraten wir selbst in die Schußlinie. Schnell bleibt auch bei uns etwas vom bösen Gerücht hängen. Und noch ein drittes Beispiel will ich ansprechen, es ist ganz alltäglich, scheinbar ganz unbedeutend und allgemein, beileibe nichts besonderes. Es sind die vielen kleinen Gelegenheiten über Tag, die wir haben, vom Leben und Schicksal unserer Nächsten nur zu hören oder mit unserem Herzen daran teilzunehmen: Wenn den Leuten schräg über die Straße ein Unfall passiert ist, wenn das Kind aus der Klasse unseres Enkels abends nicht nach Hause gehen will, wenn die Frau, die uns oft beim Ein- kaufen begegnet, immer wieder verweinte Augen hat, wenn wir spüren, daß der alte Mann im Nach- barhaus unendlich einsam ist und jemanden zum Reden braucht... Immer können wir sagen, was geht das mich an. Immer gibt es tausend gute Gründe, daß wir uns heraushalten. Niemand kann uns einen Vorwurf machen, wenn wir uns entziehen. Die anderen machen es schließlich genau so! Liebe Gemeinde, immer gibt es aber auch die Möglichkeit, daß wir uns an Abraham orientieren: Daß wir Mut fassen, für andere in die Presche springen, uns auf Wortwechsel, ja, vielleicht Streit einlas- sen, daß wir barmherzig mit denen sind, die sich selbst nicht verteidigen oder helfen können, oder einfach nur solidarisch sind mit denen, die sonst allein dastehen. Und immer gibt es dabei die Chan- ce, daß wir wirklich etwas für andere erreichen, daß eine bewahrt wird, glücklicher oder fröhlicher und daß einer aus seiner Isolation herauskommt und wieder an die Menschen glauben kann! Und wenn wir uns nicht überwinden können, uns ins Schicksal oder das Leid unserer Mitmenschen einzumischen, dann finden wir aber ganz sicher die Kraft, Gott in unserem Gebet für sie zu bitten und nicht abzulassen, bis er uns hört und antwortet. Aber selbst wenn seine Antwort am Ende aus- fällt, wie bei Abraham, wenn wir also nicht erreichen, was wir erbitten, kommt hier doch viel vom guten Geist der Liebe, der Gemeinschaft und der Solidarität unter die Menschen. Wenn ich noch einmal an die Fürbitte des Abraham für Sodom denke, dann scheint mir ganz gewiß, daß es Gott imponiert hat, wie dieser kleine Mensch ihn angegangen und über sich hinausgewachsen ist! Darum bin ich auch ganz sicher, daß Gott sich über uns heute freut, wenn wir all unseren Mut zusammennehmen und uns für die Menschen einsetzen und nicht locker lassen.