Predigt am 19. So. n. Trinitatis - 6.10.2002 Textlesung: 2. Mos. 34, 4 - 10 Und Mose hieb zwei steinerne Tafeln zurecht, wie die ersten waren, und stand am Morgen früh auf und stieg auf den Berg Sinai, wie ihm der HERR geboten hatte, und nahm die zwei steinernen Tafeln in seine Hand. Da kam der HERR hernieder in einer Wolke, und Mose trat daselbst zu ihm und rief den Namen des HERRN an. Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: HERR, HERR, Gott, barmher- zig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied! Und Mose neigte sich eilends zur Erde und betete an und sprach: Hab ich, HERR, Gnade vor dei- nen Augen gefunden, so gehe der Herr in unserer Mitte, denn es ist ein halsstarriges Volk; und vergib uns unsere Missetat und Sünde und lass uns dein Erbbesitz sein. Und der HERR sprach: Siehe, ich will einen Bund schließen: Vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, wie sie nicht geschehen sind in allen Landen und unter allen Völkern, und das ganze Volk, in dessen Mitte du bist, soll des HERRN Werk sehen; denn wunderbar wird sein, was ich an dir tun werde. Liebe Gemeinde! Einige von ihnen erwarten - und mit Recht -, dass jetzt über den eben gehörten Text gesprochen wird. Sie haben diese Verse vielleicht heute morgen in ihrem Losungsbüchlein angegeben gefunden und zu Hause vielleicht schon einmal angeschaut. Sicher hoffen auch einige hier auf eine tröstliche Predigt, auf Worte, die aufbauen, die helfen und uns den Weg weisen. Eine dritte Gruppe von ihnen hat keine ausdrücklichen Erwartungen: Sie wollen jetzt einfach die Ansprache hören, wie sie in jedem Gottesdienst üblich ist. Ich selbst, liebe Gemeinde, habe allerdings auch eigene Vorstellungen, was die Predigt leisten soll. Immer ist das so. Aber heute ganz besonders. Darum erlaube ich mir, heute eine Frage einmal ganz in den Mittelpunkt zu stellen, die mich zur Zeit sehr beschäftigt. Ich tue das, selbst wenn dabei der Predigttext für heute und ihre sonstigen Erwartungen gewiss zu kurz kommen werden. Ich kann al- lerdings ganz sicher sein, dass die meisten von ihnen über das Thema meiner heutigen Ansprache auch schon nachgedacht haben - und das mit meist traurigen, wehmütigen Gedanken. - Aber genug der Vorrede. Es gibt immer wieder - und manchmal in richtigen „Wellen“ - Austritte aus unserer Evangelischen Kirche und damit ja immer auch aus einer christlichen Ortsgemeinde (wie der unseren). Das heißt: Die Austrittserklärungen ehemaliger Gemeindeglieder werden den zuständigen Kirchenvorständen oder den PfarrerInnen vom Amtsgericht zugesandt. In den Städten, etwa in Frankfurt, ist das leider ein ganz alltäglicher und sehr häufiger Vorgang. In manchen Gemeinden gibt es sogenannte „Mil- lionenviertel“, dort sind es oft Hunderte von Menschen, die meist sehr reich sind, die wirklich alle der Kirche nicht mehr angehören. Warum? Nun, das ist auch klar: Man möchte Steuern sparen. Wer viel Einkommen hat, zahlt ja auch viel Kirchensteuer. Das ist für uns sicher fragwürdig und auch sehr traurig, aber irgendwie noch zu begreifen. Es gibt aber auch Austrittserklärungen von Menschen, die eigentlich starke religiöse Interessen ha- ben und über solche Austritte möchte ich heute mit ihnen nachdenken. Denn in solchen Fällen sieht alles doch anders aus. Wenn solche Austritte gemeldet werden, beginnen sie sich nämlich - als Kir- chenvorsteher oder als Frau oder Mann der Kirche - selbst zu fragen und zu prüfen: Warum sind diese Menschen ausgetreten und wer hat dazu Anlass gegeben, ja, möglicherweise gar ich selbst? Und wenn ich heute einmal sie, liebe Gemeinde, darauf anspreche, dann geschieht das durchaus mit Absicht und Bedacht. Unsere evangelische Gemeinde von ............, das bin ja nicht ich oder ihr Kir- chenvorstand, sondern das sind in erster Linie sie, die Angehörigen dieser Gemeinde! Also sind Austrittserklärungen aus der Gemeinde immer auch an sie gerichtet! Ganz deutlich gesprochen: Mit ihnen möchten dann also Christen aus ............. nicht mehr derselben christlichen Gemeinschaft an- gehören. Vielmehr wird in solchen Fällen auch die Gemeinsamkeit mit ihnen aufgekündigt! Ich denke, jetzt verstehen sie meine wichtigste Absicht, die ich heute mit dieser Predigt verfolge: Dass sie, liebe Gemeinde, jeden Austritt auch einmal als eine Anfrage an sich begreifen. Dass sie sich jetzt genau wie ich zu Herzen nehmen, was da immer wieder geschieht: Da scheiden Menschen aus unserer Gemeinde aus, die uns, jedem hier, damit etwas sagen wollen. - Nur was? Ich gehe einmal davon aus, sie haben bis heute morgen keine Ahnung davon gehabt, dass ich sie heute hier mit Gedanken über Kirchenaustritte konfrontiere. Genau so ist das bei fast jedem Austritt selbst: Menschen verlassen unsere Gemeinde, kündigen uns die Gemeinschaft auf, sagen sich von unserer Gemeinde los und wir wissen überhaupt nicht, warum und vorher haben wir meist auch keine Ahnung davon, dass jemand daran denkt, uns den Rücken zu kehren und nichts mehr mit uns zu tun haben will. Ich vermute sicher auch richtig, wenn ich denke, dass beim Austritt eines Gemeindeglieds doch oft zuerst überlegt wird, ob nicht der Pfarrer oder jemand vom Kirchenvorstand es mit dem Ausgetre- tenen verdorben hat. Aber - glauben sie mir bitte - meist ist es wirklich so, dass auch die Leitung der Gemeinde vorher keine Ahnung davon hat, was Menschen da geplant haben und vorhatten. Aber selbst wo das vielleicht wirklich mit der Person oder der Predigt des Pfarrers (der Pfarrerin) zu tun hat, auch dann, liebe Gemeinde, wären sie damit angesprochen und befragt!: Ihr Pfarrer (ihre Pfarrerin) lässt sich nämlich ganz gewiss auf das Gespräch über Glaubensdinge ein und sie lassen sich durchaus auch kritisch ansprechen und man kann ihnen auch sagen: Dieses oder jenes in ihrer Predigt, sehe ich anders. Nur: Wenn ihr Pfarrer (ihre Pfarrerin) solche Kritik nicht hört, wenn er (sie) also nur Bestätigung seiner (ihrer) Verkündigungsarbeit erfährt, und wenn es durch ihr Schweigen so ist, dann muss man schließlich annehmen, dass sie, liebes Gemeindeglied, hinter dem stehen, was gepredigt wird. Und wenn das so ist, dann sind sie sogar dann mit betroffen, wenn einer sich an der Predigt ärgert, wie sie etwa hier in dieser Gemeinde gehalten wird. Überhaupt ist ja alles, was in unseren Gemeinden geschieht oder nicht geschieht unser aller Sache - und nicht nur auf dem Papier der Kirchengemeindeordnung! Sie wählen alle den Kirchenvorstand (bald ist es übrigens wieder einmal soweit!). Der Kirchenvorstand wählt den Pfarrer, die Pfarrerin. Über die Kirchenvorsteher oder auch persönlich im Gespräch mit Kirchenvorstand und PfarrerIn haben sie jederzeit die Möglichkeit, die Arbeit, die Verkündigung und vieles mehr in der Gemeinde mitzubestimmen und zu gestalten. Sie wissen sicher, dass in unseren evangelischen Gemeinden alles „von unten“ ausgeht: Es darf z.B. einfach nicht sein, dass etwa ein Pfarrer, der seine Träume predigt, der ganz und gar nicht evange- liumsgemäß lebt und lehrt, das gesamte Gemeindeleben bestimmt und prägt. Sie sind die Gemein- de! Pfarrer kommen und gehen. Sie bleiben und müssen in dieser christlichen Gemeinde leben, ar- beiten und glauben. Was mich an der Tatsache, dass immer wieder Menschen auch unsere Gemeinde verlassen, beson- ders traurig macht, ist jetzt schon mehrfach angeklungen: Meist sind wir auf Mutmaßungen ange- wiesen. Wir können nur vermuten, was wohl hinter dem Austrittswunsch der Christen stehen mag, die unsere Gemeinschaft verlassen. Oft wird uns nicht offenbart, was der Grund ist. Das Gespräch mit uns wird nicht gesucht. Man sagt uns nichts, vorher nicht, hinterher nicht. Und das könnte doch wirklich helfen, wenn wir es nur einmal hörten: Dieses oder jenes stört mich an der Kirche, an die- ser Gemeinde von ........... Nein, meist wird dieser Schritt still, ohne Vorankündigung getan. Uns wird keine Gelegenheit gegeben, die Standpunkte zu erläutern oder zu verteidigen, die wir vertreten und die Ausgetretene vielleicht ablehnen. Wir werden vielmehr ungefragt ins Unrecht gesetzt. Man verneint damit jegliche Hoffnung, dass Ausprache und Gespräch unter Christen vielleicht klären können. Damit wird dem Willen zur Versöhnung und zum Frieden unter christlichen Brüdern und Schwestern abgeschworen. Es wird ein Urteil gefällt, bevor die Beklagten Gelegenheit hatten, sich zu äußern. Und - noch einmal: Die Beklagten sind wir alle. Das Urteil heißt: Wir treten aus dieser Gemeinde aus. - Ja, das tut weh - sicher nicht nur mir! Liebe Gemeinde, nicht als ein bloßes biblisches Schwänzchen, will ich jetzt doch noch einmal ein Stück aus dem Predigttext für heute vorlesen: "Da hieb Mose zwei steinerne Tafeln zurecht, wie die ersten gewesen waren." Diesen Satz hatte ich heute schon die ganze Zeit im Hintergrund dieser Predigt gehört und bedacht: Die ersten Tafeln des Gesetzes hatte Mose zerschlagen, weil das Volk von seinen Gott abgefallen war. Tafeln aus Stein waren zerbrochen. Aber er darf neue machen! Gott heißt ihn, die Tafeln wiederherzustellen! Gott macht neu, was endgültig zerschlagen scheint. Es gibt offenbar nichts, was ein für alle Mal zerstört sein muss, kaputt oder verdorben ... Mir gibt das Hoffnung, wenn ich an die einstige Beziehung so vieler Gemeindeglieder zu ihrer Gemeinde denke, die unsere christliche Gemeinschaft in der Vergangenheit durch Austritt verlassen haben. Vielleicht kann die Predigt heute dabei helfen, dass wir jeden Austritt auch als eine Anfrage an uns verstehen und wo immer es möglich ist, das Gespräch mit denen suchen, die unserer Gemeinde nicht mehr angehören wollten. Oft sind das ja unsere Nachbarn, unsere Angehörigen, vielleicht un- sere Kinder oder Eltern? Ich glaube, ihnen wie mir ist die Gemeinde Jesu Christi wichtig. Ihnen wie mir liegt daran, dass die Menschen bei uns auch zu dieser Gemeinde gehören. Ihnen wie mir bedeutet auch die geistliche Gemeinschaft zu denen etwas, die aus irgendeinem Grund aus der Kirche ausgetreten sind. Zeigen wir den Menschen, dass es uns interessiert, ob sie zu unserer Gemeinde gehören oder nicht. Suchen wir das Gespräch mit ihnen. Helfen wir dabei, aufzuheben, was uns trennt. AMEN