Predigt zum 1. Sonntag nach Trinitatis - 23.6.2019 Textlesung: Mt. 9, 35 - 38. 10,1 - 7 Und Jesus ging ringsum in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen. Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende. Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen. Die Namen aber der zwölf Apostel sind diese: zuerst Simon, genannt Petrus, und Andreas, sein Bruder; Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und Johannes, sein Bruder; Philippus und Bartholomäus; Thomas und Matthäus, der Zöllner; Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Thaddäus; Simon Kananäus und Judas Iskariot, der ihn verriet. Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht in keine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Liebe Gemeinde! „Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben.“ Was hat sich eigentlich geändert seit damals? Gehen wir einmal in Gedanken durch die Straßen unseres Dorfes (unserer Stadt): Dort geht ein alter Mensch, der schon seit Jahren keinen Lebenssinn mehr sieht. Er fühlt sich übrig und hat keine Aufgabe. Und keiner, der ihn einmal anspricht: „Du hast doch Zeit, könntest du nicht hin und wieder mit meinen Kindern zum Spielplatz?“ - „Dir ist der Tag doch oft arg lang, komm' doch immer einmal zu mir, dass wir einen Kaffee miteinander trinken und uns unterhalten.“ Und da sind Jugendliche an ihren Treffpunkten in unserem Ort (unserer Stadt). Sie ärgern uns, wenn wir ehrlich sind! Uns stört es, wenn sie da in Horden herumlungern, laut werden und uns anschauen, als wären wir aus einer anderen Welt. Wer von uns aber hält die Verbindung zu den jungen Leuten in seiner Familie? Wer hat Kontakt zu Jugendlichen - wenigstens in seiner Nachbarschaft? Wer bricht nicht mit ihnen, wenn sie in „das schwierige Alter“ kommen und beginnen, uns Erwachsenen unangenehme Fragen zu stellen? Wo sind denn Eltern, die ihren Heranwachsenden erlauben, ihre Freunde mit nach Hause zu bringen? Ja, wem ist es im Grunde nicht lieber, wenn sie halt dort an der Brücke, an der Bushaltestelle, auf dem Schulhof... herumhängen? Und da sind die Menschen in den mittleren Jahren, die keine Zeit für das Leben haben. Von Montag bis Freitag hetzen sie an die Arbeit, abends sind sie müde und können nur noch fernsehen. Am Samstag muss die Wohnung, das Haus in Ordnung gebracht werden. Der Garten verlangt unseren Einsatz. Am Sonntag wird ausgeschlafen oder das erledigt, was in der Woche liegen geblieben ist, beides im Grund Beschäftigungen, die mich nicht zu mir selbst kommen lassen. Denn darum geht es: Nur nicht zur Ruhe kommen! Nur nicht die Stille ertragen müssen! Nur kein „Leerlauf“! Dann nämlich werden die inneren Fragen laut. Dann meldet sich in uns eine Stimme, die sagt: „Wo ist der Sinn?“ Dann wird das vielfache Echo in unserer leeren Seele vernehmlich. Dann wird die Stille schmerzhaft. Und da sind auch wir selbst: Alt oder noch jünger. Frau oder Mann, erwachsen oder ein Jugendlicher. Auch wir einsam, in innerer Not verstrickt, getrieben vom Sehnen nach vollem Leben, auf der Suche nach Glück und guter Beziehung, eingespannt in einen seelenlosen Betrieb, betäubt durch Konsum und Ersatz... Auch wir: „...verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben.“ Von Jesus damals heißt es: „Als er das Volk sah, jammerte es ihn.“ So wie es war, sollte es nicht sein! Sie liefen ja am wahren Leben vorbei. Sie waren gequält und belastet, ermüdet und stumpf. Sie würden den Sinn und das Ziel verfehlen. Einer musste sie zurechtbringen. Auch wir jammern unsern Gott! Ich bin sicher, er möchte uns herausführen aus unserem Leid, aus Angst und Resignation. Er ruft uns zurück von den falschen Wegen, auf denen wir uns verlaufen haben. Er möchte uns Freude schenken, gelungene Beziehungen zu unseren Mitmenschen, erfüllte Zeit... Gott leidet mit an dem, wie wir sind! Wie kann er uns helfen? Was hat Jesus damals getan, um die verlorenen Schafe zum Leben zurückzuführen? Das ist so erstaunlich und wunderbar: Er fordert die Jünger auf, um Arbeiter für die Ernte zu bitten. „Bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter sende.“ Dann aber sendet er sie selbst! „Geht hin zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel!“ Können also durch die Kraft dieses Herrn die „verschmachteten und zerstreuten Schafe“ selbst Hirten werden? - Wie das möglich ist? Durch den festen Glauben an diesen Herrn: Er hat mich gesandt; er wird mir auch beistehen. Durch den Versuch vielleicht: Ich will sehen, was dran ist; wenn es sein Auftrag ist, wird er mich nicht im Stich lassen. Oder durch seine Führung: Er kann sich auch unserer Hände und Worte bedienen - sogar dort, wo wir das gar nicht glauben können. Seine Kraft ist in den Schwachen mächtig! Liebe Gemeinde, wenn das heute sein Auftrag an uns wäre: Geht ihr hin und werdet den verlorenen Schafen eine Hirte!? Wenn er nun auch uns heute zuriefe: Bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende! Und wenn er dann uns als diese Arbeiter haben wollte? Uns, so arm und elend, so schwach und unzulänglich wir uns auch fühlen? Es jammert Gott, was er an den Menschen unserer Tage sehen muss! Es jammern ihn all die Fragen nach Sinn, all die Sehnsucht, all das Leid... Uns will er zu Arbeitern haben! Uns sendet er als Hirten für die verlorenen Schafe unserer Zeit! Geht ihr hin zu den Alten! Hört ihre Geschichte an. Spürt ihnen ab, wie einsam sie sind und was sie sich wünschen. Gebt ihnen einen Raum - nicht in der Gesellschaft allein - sondern in eurem Leben! Schenkt ihnen Zeit, nicht nur wenn ihr etwas für sie tut - lasst sie auch für euch da sein, so gut sie das können. Geht hin zu den jungen Menschen! Nehmt ihre Probleme wahr und sucht das Gespräch mit ihnen. Erkennt, dass sie Sorgen haben und Zukunftsangst. Begreift, dass ihre Sorgen berechtigt sind, denn vieles ist in unserer Welt, der Natur und unserer Gesellschaft aus den Fugen geraten. Ihr werdet auch verstehen, warum sie oft die Hoffnung aufgegeben haben, warum sie den Erwachsenen, den Eltern, Erziehern und Lehrern nicht mehr vertrauen können, warum sie opponieren und kritisieren, warum sie Anstoß erregen wollen und uns oft ablehnend gegenüberstehen. Geht hin zu ihnen - und lasst sie - wo sie das wollen - auch zu euch kommen. Geht hin zu den Menschen in den mittleren Jahren! Lasst sie nicht in ihrer Stumpfheit, die nicht herauskommt aus dem ewigen Trott. Nein, das Leben, das sie haben, gefällt ihnen nicht! Sie reden zwar so, aber es ist nicht wahr! Sie möchten heraus...in die Freude, in die erfüllte Zeit, in das Wissen: „Dafür bin ich auf der Welt!“ Setzt ein Zeichen: „Du, ich lade euch für nächsten Sonntag ein; wir wollen ein bisschen hinausfahren, spazieren gehen, einmal gut essen...kommt doch einfach mit!“ - „Darf ich sie demnächst einmal besuchen? Sie sind neu in unserer Straße und ich habe gesehen, sie sind viel allein.“ Und geht auch eurem eigenen Leben einmal auf den Grund: Wie heißt die Sehnsucht, die mich umtreibt? Wo ist der Mangel, den ich mit Betriebsamkeit und Hetze auszufüllen versuche? Warum kann ich die Stille und die Gedanken, die dann kommen, so schlecht ertragen? Ja, geht auch mit euch selbst einmal behutsam und aufmerksam um! Lasst die Fragen laut werden, die Befürchtungen nach oben und die Nöte ans Licht kommen! Anders kann uns nicht geholfen werden! - Uns will Gott zu Arbeitern in seiner Ernte haben! Wir sind als Hirten gesandt - zu den verschmachtenden, zerstreuten Schafen. Damals heißt es am Schluss: „Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen.“ Gott wird auch uns Macht geben zu helfen und zu heilen, zu verbinden und zu trösten, zu Neuem anzustoßen und zurechtzubringen. Unser Auftrag mag allerdings auch manchmal sein: Fragen zu stellen, die niemand hören will, aufzuschrecken, wo sich einer im sinnlosen Leben eingerichtet hat, einen Stein ins Rollen zu bringen, der lange still und scheinbar unverrückbar dagelegen hat. Gott jammern die Menschen unserer Tage, unsere Mitmenschen und wir auch! Sie sind wie verirrte, verschmachtende Schafe. Uns will er zu Hirten haben, die hingehen zu ihnen, sie aufsuchen in ihrem Leid und ihrer Verlorenheit. Wir werden in seinem Auftrag vor sie treten und mit seiner Macht! Wir werden helfen und heilen: Die alten und die jungen Menschen, die Gehetzten und Verzweifelten, die Menschen, die sich noch sehnen und die Müdgewordenen... und uns selbst auch - durch Gottes Kraft. AMEN