Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis - 19.6.2016 Textlesung: Röm. 14, 10 - 13 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deine Schwester? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): „So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.“ So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite. Liebe Gemeinde! Wenn sie diese Verse hören, wird es Ihnen ähnlich gehen wie mir auch: Wir überlegen, wer da wohl gemeint ist? Wir fragen uns: Wer richtet in unserer Umgebung seinen Bruder? Wer bereitet seiner Schwester Anstoß und Ärgernis? Wer sind die Menschen, die sich fürchten müssen, wenn sie von Gott einmal zur Rechenschaft gezogen werden? Ich will einmal sagen, an wen ich da zuerst gedacht habe: Mir kamen die Väter und Mütter in unserer Gemeinde in den Sinn, die mit ihren Kindern in der Familie so überhaupt kein religiöses Leben mehr haben. Eltern, die mit den Kindern nicht mehr beten. Eltern, die - obwohl sie sich Christen nennen - ihren Kleinen niemals von Jesus und seinem himmlischen Vater erzählen. Eltern, die ihren Kindern keinen lebendigen, vor- gelebten Glauben und keine Erfahrung des Gottvertrauens mehr weitergeben. Eltern, die ihre Kinder wohl zur Taufe gebracht haben, die ihnen aber ansonsten für ihr Leben keinen weiteren Halt vermitteln als das Vertrauen darauf, was man selbst kann und fertigbringt. - Aber wie weit soll das reichen? Ich musste denken, wie viel diese Eltern bei ihren Kindern versäumen! Sie statten sie für ihr Leben zwar mit Nahrung, Kleidung und äußerlichem Kram aus, aber sie enthalten ihnen vor, wovon Menschen wirklich leben. Und mir wurde angst bei dem Gedanken, wie diese Eltern das wohl einmal rechtfertigen wollen vor Gottes Richterstuhl? Und an die vielen jungen Leute musste ich denken, die in unseren Gemeinden schon konfirmiert wurden, die zu schwach waren, beim Glauben zu bleiben oder dem Verhältnis zur Gemeinde, das in der Konfirmandenzeit gewachsen ist. Junge Leute, die scheinbar nicht viel mehr aus dieser Zeit mitgenommen haben, als ein gut gefülltes Konto bei Bank oder Sparkasse. Jugendliche, die ihr Ja zu Jesus Christus und seiner Gemeinde wohl nur so dahingesagt haben. Junge Menschen, die umfallen, kaum dass einer sich abfällig über die Sache der Kirche äußert, und das geschieht ja überall und immer wieder. Jugendliche, die bald mit all ihren Gedanken nur noch um Sachen kreisen, wie Mofa, Smartphone und Klamotten zum Vorzeigen. - Aber auch hier gibt's doch eine Rechenschaft! Sie haben etwas versprochen! Keiner und keine ist dazu gezwungen worden. Was werden sie antworten, wenn sie einmal gefragt werden: Wer ist der Herr deines Lebens gewesen? Und woran hat man das gesehen bei dir? Und schließlich dachte ich an die vielen Menschen in den mittleren und auch schon älteren Jahren, die sich einfach nicht zu Herzen nehmen wollen, dass ihr Leben in dieser Welt einmal ein Ende haben wird. Menschen, die nur in ihrer Arbeit aufgehen oder dem Vergnügen, die nach der einen Reise schon wieder die nächste planen, deren Zeit irgendwie so gar keine Mitte hat und keinen Halt, keinen Hintergrund und keine Tiefe... Menschen, die anscheinend verdrängen und vergessen wollen, dass diese Welt nicht nur ein Arbeitsplatz oder ein Freizeitpark ist, dass es vielmehr auch um etwas geht, dass wir einen Auftrag haben, dass einer sieht, was wir tun und lassen und auch Rechenschaft abgelegt werden muss und Gott Antwort von uns fordert, was wir denn aus den 70 oder 80 Jahren unserer Zeit gemacht haben. Ja, daran musste ich zuerst denken. Und - wie gesagt - Ihnen, liebe Gemeinde, wird es ähnlich gegangen sein. - Dann aber ging mir etwas auf: „Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden“, heißt es. Wir werden alle...alle...! Das spricht ja gar nicht nur, ja, vielleicht nicht einmal in erster Linie über die anderen. Da sind ja auch wir gemeint. Denn wir „richten“ doch. Wir sprechen und denken doch „verächtlich“. Aber auch wir werden vor Gottes Richterstuhl treten müssen. Und da ist mir noch etwas aufgegangen: „So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.“ Hat diese Rechenschaft nicht ganz klar mit dem zu tun, was ich an den anderen kritisiere und bemängele, worüber ich mich entrüste und den moralischen Zeigefinger hebe? Es heißt hier: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deine Schwester? Richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.“ Das sind ja wirklich unsere Schwestern und Brüder, über die wir sprechen, vielleicht voll Verachtung denken und urteilen! Und wir können uns nicht herausreden, das hat mit uns zu tun, wenn die anderen so oder so sind. Sie leben in unserer Nähe, sind unsere Kinder, Eltern, Verwandte, Kameraden und oft genug buchstäblich unsere Schwestern, unser Brüder... Und da geht es jetzt auf einmal um uns und unsere Rechenschaft. Da stehen wir vor dem Richterstuhl Gottes - und nicht einst, nein heute, jetzt: Die Menschen, die wir richten, sind Sohn derselben Mutter; unsere Ehegatten, unsere Väter, unsere Kinder oder - als wenn das nichts wäre - unsere Freunde und Kameraden... Diese Menschen leben mit uns in der christlichen Gemeinde, und es ist ganz gleich, wie ernst oder wichtig sie selbst diese Beziehung nehmen. Sie sind uns zu Lebensgefährten gemacht, uns anvertraut, auch und gerade als Menschen, die Gott für sich haben will, gewinnen und zum Heil führen will. Durch uns, durch dich und mich finden sie zu einem Leben, das vor Gott bestehen kann oder sie gehen in die Irre. Durch uns, durch dich und mich erfüllt sich ihr Leben - oder führt in die Verzweiflung. Durch uns, durch dich und mich sollen sie von ihrer Rettung erfahren - oder sie werden unser Opfer - Opfer unserer Gleichgültigkeit. - Sagen wir heute einmal nicht, wie wir sonst meist sagen: „Was soll ich da machen, was kann man denn tun?“ So nämlich beginnt meist unser Verdrängen und Vergessen. Wir sollten wirklich einmal erschrecken: Das ist doch wahr, dass unser Bruder oder unsere Schwester lebt, als ob es keinen Gott gäbe. - Lässt mich das kalt? Es ist doch wirklich wahr, dass ich selbst oder meine Freundin mit den Kindern das Beten nicht geübt und ihnen auch sehr wenig oder gar nichts von Jesus erzählt haben - es mögen wohl auch unsere Enkelkinder sein! - Ist mir das gleichgültig? Und es ist doch auch wirklich wahr, und das geht ja vielen heute so, dass sie nicht wissen, ob und was der Ehemann oder die Ehefrau eigentlich glaubt, wie er oder sie zu Gott steht und was sie nach dem Tod erwarten - weil wir darüber nicht mehr sprechen. - Aber darf das in einer Ehe oder Partnerschaft so sein? Sie denken bei alledem vielleicht: „Das ist doch jedermanns Privatsache, wie er's mit dem Glauben hält. In so persönliche Angelegenheiten mischt man sich doch nicht ein!“ Ich möchte gern zurückfragen: „Lieben Sie ihr Kind? Lieben Sie ihren Ehegatten? Lieben Sie den jungen Menschen, dem Sie das Leben geschenkt und den sie erzogen haben? Lieben sie ihren Bruder, die Schwester, den Freund, die Kameradin...?“ Ich nehme an, Sie müssen zu diesen Fragen ja sagen. Dann denken wir hier jetzt weiter: Wenn Sie an Gott glauben, wenn Sie gewiss sind, dass dieses Leben nicht alles ist, wenn Sie auf eine herrliche Zukunft hoffen, die auf uns wartet und wenn Sie wissen, dass davor auch Rechenschaft abgelegt werden muss - sollen alle, die Sie liebhaben, denn nicht auch dorthin gelangen? Können wir wirklich als gläubige, christliche Menschen leben, ohne dass wir - wenigstens versuchen! - unsere Kinder, Ehegefährten, eben alle, die wir gern haben und die unsere Freunde sind, auf denselben Weg zu bringen und in dieselbe herrliche Zukunft mitzunehmen? - Nein, wir können es nicht! Und wenn wir es können, dann haben wir diese Menschen nicht wirklich lieb. „Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.“ Ich bitte Sie heute, liebe Gemeinde, legen Sie doch - um Gottes und Ihrer Lieben willen - die Scheu ab, mit den Menschen in Ihrer Nähe, zumal mit Ihrem Ehegefährten, über den Glauben zu sprechen. Lehren Sie die Kinder das Beten. Wo Sie Großeltern sind, helfen Sie mit, dass Ihre Enkel das Beten lernen, erzählen Sie ihnen, was für Sie an Gott und dem Glauben wichtig ist, wo Gott Ihnen geholfen hat und warum Sie wissen, dass er da ist und unser Vater ist. Wenn sie Jugendliche in ihrer Umgebung haben, sagen Sie ihnen doch wieder einmal den Weg zur Kirche - und fallen Sie ihnen ruhig immer wieder damit auf die Nerven - es steht so viel auf dem Spiel. Gehen Sie nicht achtlos an den Glaubensfragen und -nöten ihrer Allernächsten vorbei, denn sie haben Fragen - doch sie sind oft unausgesprochen oder sehr leise oder auch hinter Spott und vorgeblicher Überzeugung versteckt. Und lassen Sie sich dabei nicht von Ablehnung entmutigen. Manche Menschen sind hart und bitter geworden, weil Gott sie - wie sie meinen - einmal sehr enttäuscht hat. Vielleicht fehlt diesen Leuten einer wie Sie, dem sie einmal ihre Geschichte erzählen können, der sie ohne moralischen Zeigefinger anhört und dann seine eigene Erfahrung mit Gott dagegensetzt. „Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.“ Wir sind mitverantwortlich für die, über die wir urteilen, besonders wenn sie in unserer Nähe leben! Auch für das, was wir für sie getan oder unterlassen haben, müssen wir einmal Rechenschaft ablegen. Wir wollen diese Verantwortung schon heute wahrnehmen. Wenn dazu jeder bei denen anfinge, mit denen er unter einem Dach lebt oder Tür an Tür und die er doch liebhat... AMEN