Predigt zum Altjahrsabend - 31.12.2015 (zu Röm. 8, 31b - 39) Liebe Gemeinde, Sie werden ähnlich fühlen und denken, fürchten und erwarten, hoffen und ersehnen wie ich. Und ich glaube auch, dass Sie heute hierhergekommen sind, weil Sie nicht die besten Erwartungen an das neue Jahr haben und weil das mit der Hoffnung an der Schwelle zum kommenden Jahr schwierig ist. Da tut es einfach gut, hier in Gottes Kirche zusammenzukommen, zu beten, zu singen, die Nähe Gottes und die Gemeinschaft mit anderen zu empfinden, die ja ähnlich fühlen und fürchten wie wir selbst. Was sind das für Ängste, die uns beunruhigen, die uns das Herz verkrampfen und schwer machen und uns den Schlaf rauben? Nun, so viele Menschen heute Abend hier sind, so viele Ängste werden es auch sein. Vielleicht noch mehr! Einige Ängste aber teilen die meisten von uns. Einige haben wir gar alle gemeinsam. Wir können nicht über alle unsere Ängste sprechen, aber wir wollen ein paar davon nennen und betrachten und dann etwas dagegen tun. Wir wählen dabei solche Ängste, die wir wohl alle haben: Da ist die Angst, nicht mehr genug leisten zu können, unnütz zu sein, keinen Wert mehr zu haben. Bei den ganz Jungen fängt es damit an, dass sie keine Lehrstelle finden und wenn, dann in einem Beruf, den sie keinesfalls angestrebt haben. Bei denen in den mittleren Jahren ist die Angst groß, den Arbeitsplatz zu verlieren - und diese Furcht ist ja inzwischen in vielen Betrieben (auch in unserer Region) nur zu begründet. Für die Älteren mag die Angst so heißen: Das Leben nicht mehr allein bewältigen zu können. Auf die Kinder, die Enkel, die Verwandten, die Nachbarn oder die Gemeindeschwester angewiesen zu sein. Bald gar nichts mehr im Haushalt helfen zu können. Der Pflege bedürftig zu werden und den Mitmenschen nur noch eine Last zu sein. Und wie eine dunkle Schwester steht die andere Angst daneben: Die vor der Einsamkeit. Wenn niemand mehr nach uns fragt, weil wir ja nichts mehr bringen können. Wenn niemand mehr mit uns spricht, weil, was wir meinen und denken, nicht mehr zählt. Wenn niemand mehr unsere Nähe sucht, weil wir nur Arbeit und Mühe bedeuten. Und da ist die Angst vor dem wirtschaftlichen Niedergang in unserem Land, die Angst vor dem Abbau unseres sozialen Systems, der ja schon seit langem im Gang ist, die Angst vor dem Verlust des gewohnten Lebensstandards, vor persönlicher Armut und finanzieller Not. Bei den Jüngeren mag das heißen, das Haus, das man gebaut hat, nicht abbezahlen zu können, weil das Weihnachtsgeld fehlt, viel weniger geworden ist, weil das Gehalt, der Lohn nicht so steigt, wie erwartet. Bei den Älteren wird das oft heißen: Werden wir mit der Rente auskommen oder droht uns die Altersarmut, von der ja immer öfter die Rede ist. Und das ist ja wirklich keine unnötige Befürchtung: Viele Menschen spüren das schon sehr deutlich, dass sie nicht mehr so leben können wie früher, dass der Wagen länger halten muss, bevor ein neuer Gebrauchter gekauft wird, dass sie mit weniger Geld wirtschaften und sich mehr krummlegen müssen und die Geschenke etwa zu Weihnachten schon deutlich kleiner ausgefallen sind. Da ist die Angst vor dem Schwund der Werte, besonders der religiösen: Was gilt eigentlich noch ein gegebenes Wort unter den Menschen. Wieviel Verlass ist auf ein Versprechen: des Ehegatten einst vor dem Altar, des Politikers vor der Wahl, des Chefs vor der Kündigungswelle... Auseinandersetzungen werden zunehmend mit Gewalt geführt. Die Schwachen werden an die Wand gedrückt. Das Geld re- giert - in der Wirtschaft sowieso, aber auch in der Politik. Die Reichen werden immer reicher, die Ar- men immer ärmer. Es ist kein Glaube mehr unter den Menschen. Der Kirchenaustritt ist auch in unseren Gemeinden gesellschaftsfähig geworden. Man hat alles Verständnis der Welt für einen Betuchten, der die Kirche verlässt: „Wenn der doch auch so viel Kirchensteuer bezahlen muss.“ Dass für die kleine Arbeiterin die 20,- Euro im Monat vielleicht viel mehr bedeuten, viel schmerzhafter sind, als für den Großverdiener die paar hundert Euro, das sehen viele nicht. Die Kinder in der Grundschule wissen nicht mehr, wer Jesus ist. Konfirmierte sehen wir in der Kirche nie mehr. Ja, die Kirche selbst arbeitet kräftig an ihrem Niedergang: Pfarrstellen mit drei und mehr Gemeinden für PfarrerInnen, Gemeinden werden aufgelöst oder zusammengelegt, was das Engagement der Ehrenamtlichen lähmt. Die Kirche ist überwiegend mit sich selbst beschäftigt, die Stimmen zu den Problemen der Zeit sind selten zu hören und wenn, dann sind sie sehr leise. Wir wollen da hinein auf das Wort des Apostels Paulus hören, das uns zum Predigttext vorgeschlagen ist. Das passt wirklich. Und es kann helfen und trösten, uns weiterbringen und trotz aller Ängste Hoff- nung und Zuversicht schenken: Textlesung: Röm. 8, 31 - 39 Was wollen wir nun hierzu sagen? Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt. Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? wie geschrieben steht (Psalm 44,23): „Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.“ Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. Diese Worte könnten helfen und Hoffnung schenken, habe ich eben gesagt. Aber zunächst müssen wir sie einmal recht verstehen. Und „recht“ heißt hier vielleicht: Anders als sonst immer. Denn wie „sonst“, das heißt ja, wenn wir an unsere Ängste denken: Es soll nicht eintreten, was wir befürchten. Wir bitten darum, dass es nicht so kommt, wie wir erwarten müssen. Wir flehen Gott an, dass er uns erspart, wo- vor wir uns ängstigen. Davon aber ist hier nicht die Rede. Das Wort des Paulus setzt viel früher an: Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Und: Ich bin gewiss, dass nichts uns scheiden kann von der Lie- be Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. Wie anders ist doch dieses Wort, als wir uns die Hil- fe und den Trost vorstellen. Alles wird nun darauf ankommen, dass wir begreifen: Es mag alles eintref- fen, was wir befürchten. Ja, es mag noch schlimmer werden, als wir es in unseren schlimmsten Träu- men sehen. Gott schützt uns nicht vor diesen Ereignissen - er schützt uns in ihnen. Gott macht nicht, dass die dunkle Zukunft sich in Wohlgefallen auflöst - er geht mit hinein. Gott bewahrt nicht davor, dass wir in schwere Zeiten kommen - er geht mit hindurch. Denn: Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Und: Es gibt nichts und niemand, der uns aus Gottes Liebe reißen kann. Darin gründen unser Trost, unsere Hilfe, unsere Hoffnung und unsere Zuversicht! Und wenn wir auch schon den Start ins Berufsleben verpassen, wenn wir die Stelle verlieren und nichts mehr finden können, wenn wir im Alter wenig und schließlich überhaupt nichts mehr arbeiten können, dann ist das schrecklich und sehr schmerzhaft für uns... Aber für Gott sind und bleiben wir die gelieb- ten Menschen, für die er seinen Sohn dahingegeben hat ans Kreuz und in den Tod. Unendlich wertvoll sind wir ihm. Nicht eine, nicht einen von uns will er verlieren. Und das hat nichts zu tun mit dem, was wir leisten, was wir können, ja, nicht einmal mit dem, was wir aus Gottes Gaben gemacht und ob wir sie überhaupt genutzt haben. Und wenn wir beladen mit den schwersten Sünden und den größten Ver- fehlungen zu ihm kämen, er stünde doch schon da mit ausgebreiteten Armen. Und wenn er uns ein lan- ges verkehrtes Leben nicht interessiert hätte, aber wenn wir nun noch in letzter Minute vor ihn treten würden, so gäbe er uns doch den vollen Lohn. Fragen wir nicht, warum er das tut, das muss zuletzt ein Rätsel bleiben, aber er tut es! Er will uns bei sich haben und gewinnen für das Geschenk, das er uns geben will, das Geschenk des Lebens in dieser und der ewigen Welt. - Uns ist in Ewigkeit geholfen. Es gibt nichts und niemand, der uns aus Gottes Liebe reißen kann. Da mag die wirtschaftliche Talfahrt in unserem Land kommen. Da mögen wir wirklich unsere liebe Not haben, von dem leben zu können, was wir an Verdienst oder Rente kriegen. Da mag uns die Zukunft einen Strich durch all unser Bauen und Planen machen. Gott ist bei uns. Und die Menschen, die er angerührt hat, die sind auch in unserer Nä- he! Keiner wird tiefer fallen als in Gottes Hände. Und keiner wird mehr aufgeladen bekommen, als er tragen kann. Und verhungern wird auch niemand. Und so schlecht, wie es viele Millionen Menschen immer schon haben und immer haben werden, so schlecht wird es uns niemals gehen. Und - wer weiß - vielleicht wird uns geringerer Wohlstand auch wieder auf die Spur dessen bringen, was wir hinter all den Sachen zum Kaufen und zum Vorzeigen gar nicht mehr gesehen haben: All die geschundenen, die vergessenen und gering geachteten Werte: Die Liebe zwischen uns Menschen, die Treue des Partners, des Vaters, der Mutter, der Schwester, die Verlässlichkeit des Freundes oder des Nachbarn... Das wäre dann wirklich auch ein Gewinn, der für uns in dem liegen würde, was wir zuerst als Verlust verstanden haben! - Nein, die Hoffnung wollen wir nicht verlieren! Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Und mögen die Werte schwinden, mögen viele auch mutwillig zerstören, was in der Gemeinschaft und der Familie immer galt: Dass wir zusammenhalten, dass wir den Neid und die Gedanken der Konkurrenz unter uns nicht zulassen, dass wir gemeinsam für ein Ziel arbeiten, gemeinsam trauern, uns miteinander freuen und feiern... Mögen manche auch mit Füßen treten, was hier in unserem Ort (unserer Straße) früher selbstverständliche Übung war: Dass man einander grüßt, dass man aufeinander achtet und für den Nachbarn mitdenkt und sein Wohl mit im Auge hat. Es bleibt doch Gottes Wille, den Nächsten zu lie- ben, freundlich zu ihm sein, mit ihm zu teilen, nach ihm zu sehen, ihm zu helfen. Und es bleibt jedem und jeder persönlich auch unbenommen, danach zu leben: Was hat das denn mit den anderen Menschen zu tun, bei denen Kälte und Ablehnung zu spüren ist, ob ich den Leuten Wärme schenke? Gut, das fiele uns leichter, wenn wir mehr Vorbilder hätten, mehr MitstreiterInnen... Aber wir können doch nun nicht sagen: Sind andere unfreundlich und denken nur an sich, dann wollen wir das auch so halten! Gott hat uns einen anderen Geist gegeben! Und er ist uns gegenüber gütig, auch wo wir das oft nicht sind und schon gar nicht verdient haben. Und sprechen wir über die Religion, über Jesus Christus und den Glauben, auch wenn sehr viele Mütter und Väter nicht mehr mit ihren Kindern darüber sprechen! Und sprechen wir auch über den Austritt aus der Kirche: Wir könnten all dem Geschwätz, das da an Theken und Stammtischen und vielleicht auch in unserer Familie zu hören ist, einmal unsere Meinung entgegenhalten. Vielleicht diese: „Ich finde es erbärmlich, die Kirche zu verlassen - nur wegen dem Geld. Wenn die Kirche nicht wäre, dann gäbe es so viele Einrichtungen nicht, die allen dienen und die auch denen helfen, die nicht in der Kirche sind: Kindergärten, Diakoniestationen, Behinderteneinrichtungen, Krankenhäuser... Wenn die Kirche erst aus Geldmangel all ihre Dienste nicht mehr erfüllen kann, dann werden wir uns umschauen! Und ohne die Verkündigung und die Seelsorge wäre es in unserer Gesellschaft auch noch sehr viel kälter!“ Und reden wir auch über die Kirche selbst - sie ist ja kein Heiligtum, vielmehr Menschenwerk und es geht - weiß Gott - sehr menschlich in ihr zu! Darum sagen wir: Wenn die Oberen in der Kirche auch viele Fehler machen, vielleicht an der falschen Stelle mit dem Sparen anfangen, so vergessen wir doch nie: Wir alle sind die Kirche! Wir können in unserer Gemeinde die notwendige Diskussion entfachen und wachhalten, wir können Fragen an unsere Vertreter in den kirchlichen Gremien richten, wir können an die Pröpste und Bischöfe schreiben... - Bei alledem aber wollen wir uns trösten und stärken lassen von dem Gedanken: Nichts kann uns schei- den von der Liebe Gottes! Und wenn uns diese Gedanken nahegehen, wenn sie uns wirklich stützen und helfen, uns eine Hoffnung ins Herz und eine Zuversicht in die Seele senken, dann wollen wir noch das sehen und bedenken - es ist wahrhaftig nicht das Kleinste: Wir sind nicht allein! Wir sind eine Ge- meinde und - so gebrochen und an vielen Stellen zerstört sie auch sein mag - wir sind eine Gemein- schaft. Und die kann auch wieder wachsen. Wunden können heilen. Risse sich schließen. Wir müssen daran arbeiten, mit pflegender Hand und wohlmeinenden Worten. Es ist unendlich viel, das zu wissen, wovon wir heute Abend ausgegangen sind: Dass wir hier ähnlich fühlen und denken, fürchten und er- warten, hoffen und sehnen. Und dass es gut tut, hier in Gottes Kirche zusammenzukommen, zu beten, zu singen, die Nähe Gottes und die Gemeinschaft mit anderen zu empfinden, die ähnlich fühlen und fürchten wie wir selbst. Wir wollen heute von hier weggehen gestärkt an Herz und Seele. Wir wollen die Hoffnung mitnehmen, dass Gott keinesfalls seine Menschen im Stich lässt. Wir gehen getröstet nach Hause und haben Gottes Stärke und Hilfe in unserer Begleitung. Wir brechen auf in ein neues Jahr mit der Zuversicht, dass wir gehalten sind und geführt, was immer geschieht, was immer auch die anderen tun und lassen, die da oben und die neben uns. Wir haben Hoffnung. Wir können etwas tun, etwas bewirken mit unserer klei- nen Kraft. Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? - Ich bin gewiss, dass nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. AMEN