Predigt am 19. So. nach Trinitatis - 26.10.2003 Textlesung: Mk. 2, 1 - 12 Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, daß er im Hause war. Und es versammelten sich viele, so daß sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, daß sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ih- nen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher? Damit ihr aber wißt, daß der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden - sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so daß sie sich alle ent- setzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen. Liebe Gemeinde! Manchmal sind es ganz unbedeutende Sätze, die einem bei einer Geschichte zuerst auffallen. Ich bin beim Lesen des Predigttextes zunächst darüber gestolpert: Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Was mir dabei zu denken gegeben hat, möchte ich ihnen weitersagen. Dieser Lahme, der selbst nicht laufen konnte, hatte offenbar Freunde. Sie brachten ihn dorthin, wo er allein nicht hätte hinge- langen können. Mit "fremden Beinen" sozusagen kommt er in das Haus, in dem Jesus ist. Kennen sie nicht auch ganz in ihrer Nähe einen, den die eigenen Beine nicht oder nicht mehr tra- gen? Möchte der nicht vielleicht auch einmal wieder in das "Haus, in dem Jesus ist"? Ich will nicht in Rätseln sprechen, ich meine die Kirche und ich rede vom Sonntag. Denn für heute und alle Tage ist uns verheißen: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen." (Mt. 18,20) Sie meinen jetzt vielleicht, die Menschen, die selbst nicht mehr zur Kirche gehen können, könnten sie doch einmal fragen: "Bringst du mich hin...?" Aber - sie wissen doch, wie das ist: "Ich will kei- ne Umstände machen...das ist doch nicht nötig...jetzt hast du mit mir so viel Mühe!" Wenn wir sie einmal ansprechen würden: Willst du nicht mal wieder zur Kirche? Ich bringe dich gern, es macht mir nichts aus! Ja, und so habe ich diesen Satz in unsere Zeit übersetzt: "Und sie brachten viele Menschen, die nicht allein laufen konnten in das Haus, in dem Jesus war - von vieren getragen - von vier Rädern vielleicht, liebe Autofahrer!" Aber schauen wir uns die Geschichte selbst an: Der Lahme und seine Begleiter werden lange Ge- sichter gemacht haben, als Jesus sagte: "Dir sind deine Sünden vergeben." Alles hatten sie von ihm erwartet - nur das nicht! Was mag wohl in dem Gelähmten vorgegangen sein? Er hört: Deine Schuld ist vergeben, du bist mit Gott im Reinen, deine Sache mit ihm ist in Ordnung... Aber: Er kann sich immer noch nicht rühren, das tote Gefühl in Armen und Beinen bleibt, und er wollte doch so gern wieder laufen und springen können. Jetzt muß er sich auch noch die Schriftgelehrten anhö- ren, die Jesus die Macht, Sünden zu vergeben, bestreiten wollen: Was redet dieser so? Er lästert. Wer kann Sünden vergeben außer Gott allein? Sein Problem ist das nun wirklich nicht! Das überläßt er gern den Gelehrten. Er will geheilt werden. Er will endlich laufen können. Und er traut Jesus ja auch zu, daß er etwas vermag. - Und endlich löst Jesus die Spannung, beendet das bange Warten des Lahmen: Steh auf, hebe dein Bett auf und geh... Die Vergebung, die Jesus diesem Menschen zugesprochen hat, war also doch kein leeres Wort: Jesus kann nicht nur heilen, er kann auch von Sünden lösen. So ist es die Lektion, die die Schriftgelehrten lernen sollten: Das Wichtigste für den Menschen ist die Vergebung der Sünden, sein ungetrübtes Verhältnis zu Gott - wie unbedeutend ist dagegen körperliche Gesundheit, Glück, Erfolg... Liebe Gemeinde, wenn das nun auch die Lektion für uns wäre? So ganz sind wir da doch wohl nicht einverstanden: Da quält einen seit vielen Jahren ein furchtbares Leiden. Und er hört: Dir sind deine Sünden vergeben... Wer denkt da nicht: Ich will's ja glauben aber lieber wäre mir doch, daß ich mich wieder richtig bewegen kann, daß endlich die Schmerzen aufhören, daß ich einmal wieder frei atmen darf... Da ist einer behindert von Kindheit an. Er hört: Dir sind deine Sünden vergeben. Wer drüber nach- denkt, der spürt, wie leicht rührt das schon an Geschmacklosigkeit. Da liegt eine, zerfressen von Krebs im letzten Stadium. Sie hört: Dir sind deine Sünden vergeben. Wir verstehen den Blick, den uns die Sterbende zuwirft - sie muß nicht ein Wort sagen: Geh mir weg mit deinem "Trost", ich brauche ihn nicht...ich brauche Morphium. Wir können uns noch viele Beispiele einfallen lassen, die gegen diese Reihenfolge sprechen: Als käme erst die Vergebung der Sünden - und dann die Heilung des Leibes. Und unsere Zweifel schei- nen berechtigt, wenn wir an Menschen denken, die wirklich ein schreckliches körperliches Leiden quält. Aber - und das klingt hart jetzt - ist das unser Problem? Die Geschichte von der Heilung des Gelähmten fragt jeden von uns, dich und mich, was ist dir wichtiger?: Vergebung der Sünden, die gute Beziehung zu Gott, ein Leben in seiner Nähe - oder gesund sein, körperlich unversehrt, glück- lich, erfolgreich, immer obenauf... Wie gut, nicht wahr, daß wir jetzt nicht antworten müssen! Aber wir dürfen es ruhig einmal aus- sprechen: Jesus bietet mit der Vergebung der Sünden etwas an, was uns nicht halb so nötig er- scheint und nicht gar so wichtig verglichen mit Glück, Gesundheit und Erfolg... Ich möchte ihnen das Erlebnis eines jungen Pfarrers erzählen: Das ist während seiner Ausbildung gewesen. Er war in Bethel zu Gast, sah sich dort an, wie mit be- hinderten Menschen gearbeitet wird. Um die Mittagszeit kam er in eine Gruppe Schwerstbehinder- ter. 30 Menschen saßen um einen Tisch. Einer sprach ein Gebet, ausgerechnet dieses: Zwei Dinge, Herr, sind Not, die gib nach deiner Huld: Gib uns das täglich Brot, vergib uns unsre Schuld." Ei- gentlich war das ja nichts besonderes. Fast hätte der junge Pfarrer vergessen, wo er war. Das 'Amen' machte es ihm wieder schlagartig bewußt: Es wurde nämlich gestammelt, gelallt, mühevoll hervor- gepreßt. Er war in Bethel... Die Menschen, die hier aßen, waren spastisch gelähmt, mongoloid, schwachsinnig. Manche hatten überhaupt keine Sprache, um zu beten. Manche bewegten nur den Kopf wie ein Pendel - hin und her - und das oft seit 20 oder 30 Jahren. Die meisten brachten ihre Hände gar nicht zusammen, um sie zu falten. Nur ein paar konnten den Löffel führen, von dem sie aßen. Er war in Bethel. Und es war der Pfleger gewesen, der die Worte sprach: Zwei Dinge Herr sind Not... - Und dem jungen Pfarrer kam das auf einmal vor, wie Hohn - bei solchen Menschen! Wurden sie hier nicht mißbraucht: Zwei Dinge sind Not: Brot und Vergebung??? Nicht etwas ande- res? Warum schrien es diese Menschen nicht heraus, wieder und wieder: Zwei Dinge, Herr: Brot und Gesundheit...die gib nach deiner Huld... Und war nicht auch das Hohn: "Huld" - ihr Körper ge- horchte ihrem Willen nicht. "Huld" - ihr Geist war umnachtet. "Huld" - keine Aussicht auf Heilung. Und sie konnten sich nicht einmal wehren, nicht einmal gegen die Worte dessen, der da an ihrer Stelle sprach. Er wollte weggehen, der junge Pfarrer, wollte den Ort verlassen, wo Menschen um Vergebung baten, die doch so offensichtlich etwas anderes brauchten... Er blieb. Später hat er er- zählt, daß er dankbar war, geblieben zu sein. Nach und nach nämlich merkte er: Wie fröhlich ging es unter diesen Menschen zu. Ja, er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, es war etwas von ausgelassener Heiterkeit in diesem Raum. Er spürte eine Freude unter diesen Menschen, die er nicht begreifen konnte. Warum nur konnte der Spastiker, der da gefüttert werden mußte, lachen? Woher rührte das fröhliche Gesicht des mongoloiden Mädchens, das da so schwerfällig mit dem Löffel umging? Da wurde Spaß gemacht; sie scherzten miteinander auf ihre Weise. Er hatte es nicht er- wartet an diesem Ort und fast sträubte er sich, es beim Namen zu nennen: Aber, diese Menschen wirkten glücklich... Und er begann zu glauben, daß es ihnen von Herzen ging, wenn sie baten: "Gib uns das täglich Brot, vergib uns unsre Schuld." Es klang ja wahrhaftig seltsam - aber sie brauchten wirklich nicht mehr. Trotz ihrer Behinderung: Sie wußten, was das ist - Vergebung. Sie lebten in einer Atmosphäre der gegenseitigen Annahme, der Liebe... Wenn sie sich gezankt hatten und einer bat: Hab mich wieder lieb, und sie konnten wieder miteinander lächeln, dann spürten beide, wie gut das tat, wenn wieder alles in Ordnung war... Erfuhren sie da nicht Vergebung? Warum sollten sie nicht auch begreifen können, wie das ist, wenn Gott einem Menschen gut ist, ihm vergibt, ihn an- nimmt, ihn liebt... Aber zurück zu uns, liebe Gemeinde, begreifen wir das auch? Könnten wir das nachsprechen aus ehrlichem Herzen: Zwei Dinge, Herr, sind Not, die gib nach deiner Huld, gib uns das täglich Brot, vergib uns unsre Schuld? Wenn wir es könnten, dann hätten wir die Geschichte vom Gelähmten verstanden, dem Jesus zuerst seine Sünden vergibt und den er erst danach heilt... Vielleicht kommen wir heute ein wenig ins Nachdenken darüber, was wichtiger ist: Gesund sein, unbeeinträchtigt von Leiden und Behinderung - oder mit Gott im Reinen, in seiner Nähe, unter seiner Vergebung!?