Predigt am 16. So. nach Trinitatis - 5.10.2003 Textlesung: Jh. 11,1(2) 3.17-27 (41-45) Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta. Maria aber war es, die den Herrn mit Salböl gesalbt und seine Füße mit ihrem Haar getrocknet hatte. Deren Bruder Lazarus war krank. Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du liebhast, liegt krank. Als Jesus kam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa eine halbe Stunde entfernt. Und viele Juden waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders. Als Marta nun hörte, daß Jesus kommt, geht sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. Da sprach Marta zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. Marta spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird - bei der Auferstehung am Jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Aufer- stehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, daß du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. Da hoben sie den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast. Ich weiß, daß du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umher- steht, sage ich's, damit sie glauben, daß du mich gesandt hast. Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Ge- sicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und laßt ihn ge- hen! Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn. Liebe Gemeinde! Das ist eine gewaltige Geschichte! Die kann ich nicht so leichthin erzählen und dann hinterher sagen: Ja, so war Jesus, der konnte das. Selbst Tote hat er damals lebendig gemacht...was für ein Mann, dieser Jesus! Nein, das wäre zu wenig. Da würden gewiß die meisten von uns unzufrieden nach Hause gehen. Ist es nicht so: Wir wollen hier etwas für uns hören, ein Wort, das uns meint, einen Gedanken, der uns anspricht. - Mir fiel dabei ein, was ich einmal in einem Buch über Predig- tlehre gelesen habe. Ich habe das heute in die Worte eines Predigthörers aus unserer Zeit gekleidet: Du sprichst von Jesus, was er einst getan und wie er heilte und die Toten auferstehen ließ. Ob's wahr ist, weiß ich nicht, denn alles, was er damals tat, liegt weit. So mach' die Bibel zu und zeig' mir wie der Christus, den du meinst, in diesen Tagen lebt! - Und eben das zu tun, Jesus Christus heute zu verkündigen, sein Werk an uns heute zu erspüren und zu predigen, das ist zuerst die Auf- gabe aller, die predigen - und darum auch meine. Liebe Gemeinde, und ist das nicht wirklich so: Wollen wir nicht auch zuerst wissen, wie Christus heute lebt, wie er heute heilt und heute Menschen lebendig macht? Ich gehe soweit zu sagen: Ich glaube den Menschen nicht, die sich angeblich damit zufrieden geben, die Geschichten von damals zu hören und Jesus, den Wundertäter Jesus von damals, zu bestaunen. Wenn ich selbst an einer schweren Krankheit leide, dann werde ich doch fragen: Jesus, was tust du heute für mich. Jesus, was vermagst du an mir? Und wenn ich heute in seelischen Nöten bin, dann ist es nicht genug, wenn mir einer erzählt, Jesus habe damals Menschen froh und glücklich gemacht. Dann will ich wissen: Jesus, was hilft mir aus meiner Depression? Wie komme ich heraus aus meiner ewigen Schwermut? Wie kriege ich wieder Kraft, daß ich mein Leben anpacke? Und wenn ich den Tod beklage, wenn ein Mensch gestorben ist oder wenn ich selbst den Abschied vor Augen habe, dann genügt es nicht, wenn mir einer sagt: Jesus hat damals Menschen selbst noch aus dem Tod geholt. Dann will ich gewiß sein, daß er mir im Sterben beisteht, meine Lieben auch im Tod noch hält und mich selbst durch das Todesdunkel ins ewige Leben führt. - Und da eben sind wir bei der heutigen Geschichte. Und jetzt wird's ernst, liebe Gemeinde, und ich fürchte für manche unter uns sehr hart: Sicher sind wir uns einig darin, daß z.B. krank sein, nicht nur heißt, eine Grippe oder eine Le- berschwäche, eine Diabetes oder Wasser in den Beinen zu haben. Und nicht nur die seelischen Lei- den, die uns zum Psychiater oder Nervenarzt führen, nennen wir eine „Krankheit". Überhaupt ist krank sein nicht nur etwas, für das uns der Arzt eine Bescheinigung zur Vorlage bei unserem Ar- beitgeber oder für die Schule ausstellen könnte. Krankheit ist auch, wenn einer mit seiner Scheidung oder einem anderen schlimmen Schicksal nicht zurecht kommt. Krankheit ist auch, wo einer seine Schuld nicht loswird, weil er nichts von Vergebung weiß oder nicht an sie glauben kann. Und Krankheit ist schließlich selbst so etwas wie die schreckliche Angst, die uns angesichts von Spinnen, Schlangen oder in einem engen Fahrstuhl überfällt. - Jesus hat bei vielen Menschen, gerade solche Krankheiten aufgedeckt und geheilt. Und bis heute hilft er gerade da, wo kein Arzt, keine Gemeindeschwester und keine Psychiatrie helfen kann. Aber übertragen wir das jetzt: Auch der Tod ist nicht nur der Zustand, in dem das Herz des Men- schen stehenbleibt und die Atmung aussetzt. Und Sterben spielt sich durchaus nicht nur am Ende der Zeit eines Menschen ab, wenn er von dieser Welt muß und in die Grube fährt. Uns begegnet täglich das Sterben von Menschen - auch wenn sie rote Wangen haben. Und wir alle kennen viele Tote, die durchaus noch atmen, essen, wohnen, schlafen, laufen... Wie gesagt, das sind ernste, harte Gedanken. Daß ich sie aber nicht erfunden habe, mag uns Jesu Wort bestätigen, das wir gewiß alle kennen. Zu einem Jünger sagt er einmal: „Laß die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!" Da hat er auch nicht Leichname auf der Bahre oder Verstorbene in den Gräbern gemeint! - Es gibt also den Tod mitten im Leben. Es gibt das Sterben innerhalb der 70 oder 80 Jahre, die uns hier beschieden sind. Und es gibt die Trauer um Menschen, die eigentlich tot sind, auch wenn sie noch unter uns wohnen und ein Namensschild an ihrer Tür und eine Karteikarte auf der Gemeindeverwaltung und im Pfarramt haben. Aber ich kann nur über sie und diesen Tod reden, weil ich weiß, daß Jesus auch sie lebendig machen kann, wahrhaft lebendig, meine ich. Und ich weiß das eben gerade durch diese Geschichte von der Auferweckung des Lazarus, denn in ihr kommt wunderbar zum Ausdruck, wie Jesus ins Leben zurückführt - damals wie heute. Und nicht zuletzt habe ich das auch schon so oft erfahren, Gott sei Dank!, daß Menschen ins Leben zurückke- hren, von dem sie sich selbst zurückgezogen haben oder aus dem sie von anderen ausgeschlossen wurden. - Aber schauen wir zuerst, wie das ist, in diesem Leben tot zu sein im Sinne Jesu: Mir fallen da Menschen ein, die irgendwann aus der Gemeinschaft des Ortes verschwunden sind, in der sie früher ihren Platz hatten: Einer geht vielleicht aus dem Verein und wird nie mehr in der Öf- fentlichkeit gesehen. Keiner weiß so recht warum. Oder eine gute Kirchgängerin taucht von einem Sonntag auf den anderen ab und taucht von da an nie mehr auf. Oder eine oder einer verläßt den Frauenabend oder den Bibelkreis von einer Woche auf die andere und niemand hat eine Ahnung, wie das kam. - Natürlich denke ich hier auch an jene, die zu uns ziehen und ihren Platz in der Dorfgemeinschaft erst gar nicht suchen und darum auch nicht finden. Sie „leben" zwar unter uns, aber es bestehen keine Beziehungen, keine Gemeinschaft mit ihnen. Irgendwann geschieht dann etwas mit ihnen, das macht uns bewußt: Die haben ja wirklich schon zwei, drei oder vielleicht auch 10 Jahre in unserer Straße gewohnt. Ich will es klar aussprechen: Ich glaube fest, Leben, das Jesus meint und so nennt, ist immer ein Leben in der Gemeinschaft! Denn wir brauchen einander. Einer hat den anderen nötig. Keiner kann allein leben. Das zeigt uns nicht allein, daß wir von außen mit Wasser und Strom versorgt werden müssen! Leben und Freude kommen erst mit dem Menschen, der mit mir spricht, mir sagt, daß ich wichtig bin und daß er mich braucht. Aber mir fallen auch solche Menschen ein, die sich ihrer Aufgaben an den Mitmenschen nicht an- nehmen, die sie doch ihren Gaben nach haben und erfüllen könnten. Gewiß, gezwungen wird nie- mand. Aber erwarten wir nicht von dem, der gut singen kann, daß er seine Stimme im Gesangver- ein oder im Singkreis einbringt? Oder von der arbeitslosen Lehrerin, daß sie dem Nachbarskind einmal bei den Schulaufgaben hilft, wenn das Sitzenbleiben droht? Oder auch von dem rüstigen Rentner, daß er seine Kenntnisse zur Verfügung stellt, wenn die junge Familie von nebenan beim Mauern der Garage nicht zurechtkommt. Das nennt Jesus „Leben" und man weiß es doch auch, daß erst das richtiges Leben ist, wenn man es deutlich spürt: Ich bin nötig und ich würde fehlen, wenn ich nicht da wäre und dies oder das nicht einbringe - für andere. Ja, über solche Menschen und solchen Tod erzählt uns die Geschichte von Lazarus! Und natürlich davon, wie sie ins Leben zurückfinden. Hören wir doch: Der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Je- sus spricht zu ihnen: Löst die Binden und laßt ihn gehen! Kann es deutlicher sein, wie das Leben aussieht und wie Menschen lebendig werden: Die Füße müssen loskommen, daß einer zu seinem Mitmenschen gehen und mit ihm sprechen kann. Die Hände müssen frei werden, daß eine tätig werden kann für andere und ihre Aufgaben an der Gemeinschaft erfüllt. Und die Augen müssen geöffnet werden, daß wir die Not des Nachbarn sehen und erkennen und wo er uns braucht. Und das geschieht wirklich in unseren Tagen - ich habe es schon oft erlebt. Menschen entdecken durch Jesus - vielleicht nach einer Predigt, einer Beerdigung, einer Freizeit oder der Teilnahme an einem Kreis - ihr Herz für andere. Sie beginnen ein neues Leben, in dem Gott und die Mitmenschen wichtig werden und sagen dann oft selbst: Früher bin ich wie tot gewesen. Oder: Ich habe dann und dann erst richtig zu leben begonnen. Dieses Leben zuerst will Jesus schenken. Das ewige Leben wird er uns am Ende unserer Zeit hinzufügen. - Wie er das macht? Auch das lesen wir in dieser Geschichte: Jesus sprach zu ihnen: Löst die Binden und laßt ihn gehen! So spricht er auch zu uns, heute. Darum machen wir uns auf zu den Menschen, laden wir sie ein zu Jesus und seiner Gemeinde, sprechen wir ihnen von den Aufgaben und der Freude an der Gemeinschaft und lassen wir nicht locker dabei! Immerhin: Es geht um das Leben!