Predigt am 4. So. nach Trinitatis - 13.7.2003 Textlesung: Lk. 6, 36 - 42 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr meßt, wird man euch wieder messen. Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, daß du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst! Liebe Gemeinde! Ich hatte mir eigentlich vorgenommen wieder einmal ein "schöne", eine erfreuliche Ansprache vor ihre Ohren zu bringen. Und dann diese Geschichte für diesen Sonntag: "Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden nicht beide in die Grube fallen? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und dann den Splitter aus deines Bruders Auge!" Müßte eine Predigt zu diesen Worten nicht wieder deutlich und mahnend sprechen? Sehen sie, so weit war ich mit meinen Gedanken für diese Predigt. Da fiel es mir auf einmal auf: Wenn das nun gar nicht zuerst an die Gemeinde gerichtet ist, der du predigst. Wenn du nun selbst gemeint bist: "Sei barmherzig! Richte nicht! Verdamme nicht! Sieh den Balken in deinem eigenen Auge und dann kümmere dich um den Splitter im Auge deiner Predigthörer." Ich muß zugeben: Mich hat das ganz schön aus der sonst doch zügigen Vorbereitung des Sonntags gebracht. Ich mußte an den oft gehörten Vorwurf mancher Gemeindeglieder denken: Der soll doch zuerst einmal vor seiner eigenen Tür kehren! Bei dem ist doch auch nicht alles so, wie es sein soll - auch noch bei einem Kirchenmann! Und die häufig gestellte Frage fiel mir ein: Woher nehmen die Prediger eigentlich das Recht, uns zu sagen, wie wir leben sollen? Und nicht zuletzt kamen mir die vielen Predigten der letzten Zeit in den Sinn mit ihrem ernsten Anspruch, mit ihren Warnungen und ihrem vielleicht manchmal ein wenig erhobenen Zeigefinger. Mache ich mich vielleicht selbst dieses hier gerügten Verhaltens schuldig, daß ich "als Blinder" andere führen will und richte und verdamme, wo ich mich selbst an die Nase fassen müßte? Ich könnte jetzt einen schönen Haken schlagen. Ich könnte mich aus diesem Vorwurf herausreden. Aber ich will ihn stehenlassen, soweit es der Vorwurf der Bibel ist. Ja, das mag sein, daß ich selbst auch so bin, auch hie und da anderen vorhalte, was ich selbst nicht zu erfüllen bereit bin. Ja, aus- drücklich ja, soweit es Gottes Wort ist, das mich so in Frage stellt. Aber: Das andere muß ich zurückweisen, wenn die Leute sagen, der Prediger habe kein Recht, ihnen irgendetwas vorzuhalten. Und zurückweisen muß ich auch diesen Gedanken: Einer, der anderen predigt, solle erst vor seiner eigenen Tür kehren, dann könnte er die anderen auf den Dreck vor ihrer Haustür hinweisen. Nein, so ist es nicht! So darf das nicht sein! Wenn es so wäre, wenn jeder Fleck auf der Weste eines Men- schen ihm verbieten würde, andere nach ihrem Tun und Lassen zu fragen, dann dürfte sich in dieser Welt keiner mehr getrauen, einem Mitmenschen zu sagen, was er für richtig hält. Immer nämlich hieße es zurecht: Der oder die hat doch auch Dreck am Stecken; denn es ist kein Mensch auf Gottes Erde, der ganz in Ordnung wäre, frei von Sünde und Schuld, ohne Makel und Fehler. Denken sie nur, ihr Sohn oder Ihre Tochter erwiderte ihnen auf die kleinste Zurechtweisung: Was willst denn du? Meinst du, du machst nie etwas falsch? Und stellen sie sich vor, ihre Kinder griffen dann auch noch Jahre zurück auf irgendwelche Jugendsünden: Weißt du nicht mehr, was damals war; hast du vergessen, wie unmöglich du dich da verhalten hast? Nein, so darf es nicht sein, das darf nicht ein- reißen zwischen den Menschen - und besonders uns Christinnen und Christen: Daß keiner mehr rügen oder auch nur einen Fehler feststellen darf, bloß weil er auch nicht frei davon ist. Ich bin überzeugt, dann könnte es keine Entwicklung der Menschheit mehr geben, allenfalls eine zurück, in die moralische Steinzeit oder ins Chaos. Nun bin ich gewiß nicht so etwas wie der "Vater" der Ge- meinde. Trotzdem ist das ähnlich in unserem Verhältnis, wie es zwischen ihnen und ihren Kindern ist, wenn sich das auch seltsam anhört. Aber ich muß hier oben auch mahnen dürfen, warnen dür- fen, auch einmal zurechtweisen dürfen, wenn es dem Wort Gottes entspricht. Wenn mich keiner mehr anhören wollte, nur weil ich auch ein Sünder bin, dann hätte Gott in dieser Welt wohl über- haupt keine würdigen Boten. Und wenn sie mich mit Recht ablehnten, nur weil ich auch nicht frei von Schuld bin, dann müßten wir Gott selbst vorwerfen, daß er sich der Menschen bedienen wollte, um seine Sache auszurichten und voranzutreiben. Denn so gesehen gibt es keinen Menschen, der berechtigt wäre, Gottes gute Botschaft zu verkündigen. Nun aber zurück zu Jesus und dem, was er uns - ihnen genau wie mir auch - heute sagt: Seid barm- herzig. Richtet nicht. Verdammt nicht. Zeigt nicht auf den Splitter im Auge eures Nächsten, bevor ihr den Balken bei euch beseitigt habt. Vor diesem Wort sind wir alle gleich...schuldig. Da steht keiner von uns besser da als der andere: Wir sind allzumal Sünder vor Gott. Keiner kann sich vor dem anderen oder gar vor Gott rühmen. Und trotzdem: Ich muß das aussprechen dürfen, ohne ent- gegengehalten zu bekommen: Was willst denn du? Hast du denn das Recht, uns zu predigen. Ja, ich habe es! Von Gott habe ich es und von ihnen auch! Ihr Auftrag war das vor .... Jahren. Darauf bin ich bei ihnen (ordiniert/in mein Amt eingeführt) worden: "Das Wort Gottes lauter und rein verkündigen, ohne persönliche Rücksichten und Bindungen." Und ich benutze heute einmal die Ge- legenheit, denen unter ihnen zu danken, die mir dieses Recht jeden Sonntag wieder oder wenigstens von Zeit zu Zeit zugestehen. Sie geben mir immer wieder das Gefühl, daß es wichtig ist, diese Auf- gabe in der Gemeinde zu erfüllen. Von ihnen und ihrem aufmerksamen Hören rührt viel von der Freude her, die mir der Predigtdienst macht und immer wieder neu schenkt. Und wenn es dann hie und da gar gelingt, einen Menschen zu rufen, zu Gott zu führen und in seine Gemeinde - das ist das größte und das wesentlichste, was man erleben kann. Da werden einem all die Fragen und Vor- würfe nach dem Recht zu mahnen und der Tatsache der eigenen Unzulänglichkeit doch ziemlich unwichtig. Wenn einer, der blind war, doch ganz offensichtlich davor bewahrt wurde, "in die Grube zu fallen", was soll dann der Hinweis, daß der Führer des Blinden auch blind war oder doch minde- stens einäugig? Wenn es gelungen ist, eines Menschen Splitter aus dem Auge zu ziehen, ist es dann noch interessant, daß der, der ihn mit herausgezogen hat, auch einen Splitter im Auge hat (oder sogar einen Balken)? Wenn nur den Menschen geholfen wird! Wenn sie nur zurechtkommen! Das ist alles. Das ist alles! Aber mir fällt da noch etwas wichtiges ein: Auch sie dürfen selbstverständlich - vom Wort der Heiligen Schrift her! - sagen, wo sie bei mir einen Splitter oder Balken sehen, wo ich einäugig oder gar blind bin, wo ich richte oder verdamme. Dieses Recht haben sie genau wie ich, denn wir stehen vor Gott und seinem Wort alle gleich da. Und wir sind alle unter sein Urteil getan: Ihr seid Sünder! Nur fangen wir nicht an oder hören wir auf damit, uns gegenseitig abzusprechen, daß wir einander mahnen und zurechtweisen dürfen. Wir dürfen es und wir sollen es. Vielleicht machen wir es uns dabei neu und immer mehr auch zur Gewohnheit, daß wir uns alles so sagen, wie wir's auch selbst gesagt haben möchten. Vielleicht nennen wir hie und da auch einmal das Gute, das dem Ernsten oder Schlechten, das wir ansprechen wollen, gegenübersteht. So halten wir unserem Mitmenschen die gute Botschaft Gottes und auch die Kritik hin wie einen Mantel; so wird er auch hinein- schlüpfen können. Liebe Gemeinde, vielleicht ist diese Predigt heute ja nun doch noch ein wenig schön und erfreulich geworden!? Wenn wir durch Gottes Wort zurecht kommen und unser Leben zum Guten ändern, dann ist das doch allemal etwas sehr, sehr Schönes! Darum wünsche ich uns heute, daß wir mit dem Wort Gottes einander mahnen und warnen, zurechtweisen und hoffentlich auch einmal zurechtbringen. Ich wünschte uns, daß wir einander damit aber auch trösten und aufhelfen, froh machen und zum Glauben führen. Ich wünsche uns, daß wir einander das Recht lassen, Gottes Sache zu vertreten, auch wenn wir alle unwürdige Vertreter dieser Sache sind! Ich wünsche uns, daß wir's immer wieder und immer mehr so sagen können, daß wir die Liebe spüren, die dahinter ist und die ja letztlich das beste für den anderen im Sinn hat. Ich wünsche uns, daß wir so zusammen und füreinander barmherzig werden, wie Gott barmherzig mit uns ist, daß wir nicht richten, nicht verdammen und wir einer für den anderen ein guter Führer wer- den können und wir einander die Splitter und vielleicht auch einmal den Balken aus dem Auge zie- hen. So werden wir gemeinsam - als Bruder oder Schwester des anderen - dieses Leben bestehen und niemand von uns wird verlorengehen.