Predigt zur Jahreslosung 2003 - 1.1.2003 Textlesung - Jahreslosung 2003: Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an. 1. Sam. 16,7 Liebe Gemeinde! Eine "Jahreslosung", das sagt ja schon ihr Name, soll über den Tag hinaus wirksam sein und uns lange begleiten. Darum habe ich für heute morgen einen Gedanken gesucht, eine Geschichte, die so interessant ist, so gut zu merken, daß es mit ihrer Hilfe vielleicht wirklich gelingt, daß uns das Lo- sungswort für das Jahr 2003 nicht so schnell wieder aus dem Sinn gerät. Und ich habe eine Geschichte gefunden, oder besser: Ich habe viele Geschichten gefunden, genau so viele, wie heute Menschen hier versammelt sind. Aber ich muß das jetzt gar nicht lange erklären, wie ich das meine, ich erzähle einfach ein paar dieser Geschichten: Da ist ein ganz junger Mann: Er sucht eine Lehrstelle. Schon einige Monate hat er sich bemüht und immer wieder bemüht. Bestimmt 50 Bewerbungen hat er geschrieben. Immer kamen nur Absagen, wenn überhaupt etwas zurückkam. Er weiß auch, warum: Sein Abgangszeugnis von der Haup- tschule war nicht besonders. Zwar keine fünf dabei, aber einige vieren. Und das noch in so wichti- gen Fächern wie Deutsch und Mathe. Dabei hat er - nur ein paar Monate vor dem Abschluß in der Schule - ein Praktikum in einer Autowerkstatt gemacht. Der Chef der Werkstatt war sehr zufrieden mit ihm gewesen und hatte ihn gar nicht nach seinen schulischen Leistungen gefragt. Gern hätte er ihn später auch eingestellt, aber es war leider keine Lehrstelle frei. So mußte der junge Mann sich immer und immer wieder bei anderen Ausbildungsbetrieben mit einem Zeugnis bewerben, das - wie er findet - wenig über seine Eignung für den Beruf aussagt, den er so gerne erlernen würde. Da ist eine Frau von Mitte dreißig. Sie möchte - nach einer Beziehung, die nach über 12 Jahren in die Brüche ging - so gern noch einen Mann finden, mit dem sie eine Familie gründen, glücklich werden und vielleicht noch ein, zwei Kinder haben kann. Sie bringt es aber einfach nicht fertig, jetzt die Disco-Besuche früherer Jahre wieder aufzunehmen. Da käme sie sich dumm vor und läch- erlich. Auch weiß sie nicht, ob sie ausgerechnet in einer Discothek den rechten und auch im Alter zu ihr passenden Mann finden würde. Besonders aber ist ihr zuwider, sich dort auch in schriller Aufmachung, mit der Betonung des Äußeren darzustellen. Also hat die Frau jetzt eine Kontaktan- zeige aufgegeben. Dabei ist ihr schnell deutlich geworden, daß sie darüber besser nicht in der Öf- fentlichkeit, an ihrer Arbeitsstelle, im Freundeskreis, ja, nicht einmal in ihrer Familie sprechen sollte. Sogar ihre Mutter hat den Kopf geschüttelt und gesagt: "Hast du das nötig, Annoncen aufzugeben?" Aber was anderes soll sie machen, wenn sie einen Mann finden will, der nicht nur nach Aussehen und äußerem Eindruck fragt? Dann gibt es da noch einen alten Mann, der schwer an der Last seiner Vergangenheit trägt. Das heißt, ihn selbst belastet die Schuld, die er vor vielen Jahren einmal auf sich geladen hat, nicht mehr so sehr. Er weiß um das Kreuz Jesu, den er seinen Herrn nennt, er weiß, daß auch sein Schuldschein an diesem Kreuz hängt... Was ihm aber schwer aufliegt und ihn immer wieder zu Boden drückt ist das Verhalten seiner Mitmenschen, der Nachbarn und "Freunde" und selbst seiner Verwandten und der Angehörigen seiner Familie. Für viele von ihnen ist das nicht vergessen - und vergeben schon gar nicht! Bei jeder Gelegenheit halten sie ihm das vor: Vergiß nicht, damals... Er weiß schon, daß solche Bemerkungen dann nur von dem ablenken sollen, was doch auch die an- deren an Schuld und Fehlern haben. Trotzdem: Er schweigt dann immer, kann nichts antworten, nichts entgegnen. Manchmal glaubt er, das wird nie aufhören, so lange er lebt. Liebe Gemeinde, und da sind noch die vielen anderen Geschichten, die sie heute mitgebracht ha- ben, an denen sie leiden und die ihnen, wie den dreien, von denen ich erzählt habe, sagen, daß sie nicht frei sein, nicht von allem Denken, Dünken und Einschätzen durch andere los sein dürfen, daß sie vielmehr verhaftet werden auf das, was war, was von ihnen gesagt wird und geschrieben steht, so daß sie die Vergangenheit nicht abschütteln können, um endlich neu anzufangen in ihrem Leben. Und in diese Geschichten und Gedanken hinein hören wir jetzt noch einmal diese Losung: Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an. Ich glaube, jetzt verstehen wir dieses Wort erst richtig. Jetzt wissen wir, wovon und worüber es spricht. Jetzt kann, jetzt könnte es uns helfen, uns befreien, uns losmachen von dem, was uns quält... - Aber wie kann das geschehen? Liebe Gemeinde, lassen wir uns das heute sagen: Wenn auch die Menschen immer wieder Urteile über uns fällen, "Zeugnisse" schreiben und sich von uns ihre Vorstellungen und Bilder machen, Gott hat kein solch starres Bild von uns. Bei ihm gilt nicht, was er von uns sieht, sondern das, was er von unserem Herzen weiß, und er legt uns auch nicht auf das fest, was heute vielleicht noch ist, sondern begleitet und fördert uns auf das zu, was morgen schon aus uns werden kann. Ganz konkret hieße das für den jungen Mann, daß er davon ausgeht und sich darin nicht beirren läßt: Gott kennt mich und meine Talente, er hat sie mir ja selbst geschenkt. Und Gott wird mir auch helfen, daß ich einmal eine Arbeit und einen Platz im Leben finde, der für mich der richtige ist. Und der Frau, von der ich erzählt habe, will die Losung sagen: Zweifle nur nicht daran, daß es gut ist, auf den Mann zu warten, der nicht nur nach äußerlichen Maßstäben mißt, der nicht deine modische Kleidung prüft oder dein geschminktes Gesicht. Einem Mann, wie du ihn suchst, wirst du nicht in der Diskothek begegnen. Den findest du dort, wo das gesprochene Wort noch gilt, wo Zeit und Ruhe ist, sich auszutauschen und kennenzulernen und wo auch die Liebe Zeit hat, zu wachsen und zu reifen. Und zweifle nicht daran, daß Gott weiß, wer zu dir paßt und dich lieben kann - und daß er auch schon an deinem Glück arbeitet. Dem alten Mann schließlich mag das Wort der Jahreslosung die Gewißheit schenken, daß ihm verziehen ist, was ihm doch leid tut und was er lange bereut hat. Und es mag ihn heute neu verge- wissern, daß keinem - und mag er selbst fehlerlos und ohne Sünde sein - das Recht zusteht, einem anderen vorzuwerfen, was Gott ihm doch lange schon vergeben hat. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an. Wo wir das jetzt vielleicht noch als ein bloßes Wort sehen, wo wir uns noch fragen, ob denn auch wirklich gelten und wahr werden kann, was diese Losung verheißt, da wollen wir uns noch drei biblische Geschichten in Er- innerung rufen. Sie können uns zeigen, daß Gottes Wirklichkeit genau so ist: Er sieht das Herz an. Ich denke an den Zöllner Zachäus. Verachtet, gemieden und geschnitten von allen Mitmenschen er- fährt doch ausgerechnet er die hohe Ehre des Besuchs Jesu in seinem Haus. Jesus ißt mit ihm am selben Tisch. Ein größeres Zeichen seiner Zuwendung zu diesem Außenseiter der damaligen Ge- sellschaft war nicht denkbar. Und so setzt Jesus den Zachäus frei: Er kann ein anderer werden. Er macht alles gut und gibt, was er durch Betrug an sich gebracht hat, den Armen. Und die Ehebrecherin fällt mir ein. Jesus widersetzt sich, als sie ihn für das, was die Frau getan hatte, vereinnahmen wollen: Muß sie nicht gesteinigt werden? Er gibt ihr und der Wandlung zu einer anderen eine Chance: Sündige hinfort nicht mehr. Auch dem Hauptmann von Kapernaum zeigt Jesus, daß er nichts auf das gibt, was vor Augen ist: Gewiß weiß er, daß der Mann, der ihn da um Gesundheit für seinen Knecht bittet, Soldat ist und Heide, das sieht er an der römischen Uniform. Für Jesus zählt, daß hier ein Mensch für einen an- deren Menschen bittet, daß hier einer mitfühlt und aus Liebe teilnimmt am schweren Geschick eines anderen. Darum kann er die Bitte des Hauptmanns erfüllen. Liebe Gemeinde, das ist wirklich eine wunderbare, eine befreiende und froh machende Botschaft: Gott sieht das Herz an! Und ich wünschte es uns allen, daß wir auf diese Botschaft heute neu hören, daß sie uns durch die kommenden Monate begleitet und uns immer wieder hilft, aufbaut, wo uns die Art der Menschen, das wichtig zu nehmen, was vor Augen ist, bedrückt und das Leben schwer macht. Ein zweites aber ist genau so wichtig und mit der Losung dieses Jahres auch angesprochen: Wo wir Mitmenschen des jungen Mannes, der Frau und des Alten sind, von denen ich vorhin erzählt habe, sollten wir uns um einen Blick bemühen, wie Gott ihn auf uns alle richtet: Daß wir die Herzen anschauen, was die Menschen in ihrem Innern denken, was sie sich so sehnlich wünschen und was ihnen Gott doch - vielleicht sogar mit unserer Hilfe! - so gern schenken möchte. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an. Gott sei Dank! Er schenke uns, daß wir erfahren, daß diese Losung kein bloßes Wort ist, sondern uns und andere verwandelt!