Bad Homburg v.d. Höhe, den 12.11.02 Am Scheideweg oder Wie die EKHN in Gefahr gerät, ihren Auftrag zu verraten 1. Ausgangspunkt Spätestens seit „Person und Institution" (1992) ist die These, „dass die Kirche für die Welt da ist, soziologische Handlungsgrundlage in der Leitung unserer Landeskirche"(1). Daraus wird die Aufgabe abgeleitet, dass sich die Kirche „den Bedingungen einer sich ändernden Gesellschaft" (Einblicke) anzupassen hat. In einer pluralistischen Gesellschaft entscheidet jeder und jede selbst, "wie und in welcher Gemeinschaft er/sie die Liebe Got- tes in Jesus Christus annehmen und beantworten will" (Hans-Helmut Köke über 'Die Stärkung der Dekanate in Einblicke, September 1998), und da die Kirche nicht mehr als privilegierter Sinnvermittler akzeptiert wird, befinde sie sich im Wettbewerb und müsse den veränderten Lebensbedingungen nachkommen. Eine zeitgemäße Kirche muss "in ih- rer Organisationsstruktur den Lebensgestaltungen ihrer Mitglieder folgen" (Person und Institution, S. 182), während die Ortsgemeinden (Parochie) lediglich einer traditionellen Gestalt von Kirche folgen, die dem gesellschaftlichen Differenzierungsprozess nicht mehr gerecht wird und deshalb nur noch einen kleinen Teil der volkskirchlichen Mitglieder er- reicht. 2. Lösungsansatz Zur Lösung dieses Problems wurde die Strukturreform entworfen mit dem Ziel, auch in der heutigen Gesellschaft eine möglichst wichtige Rolle wahrzunehmen. „Kirche für die Welt", dieses Programm ist das Schlüsselwort der Kirchenleitung und Synodalen zu den Menschen unserer Zeit. Der Wille zur Reform wird also zu Recht verstanden als eine Re- aktion auf die Existenz- und Sinnfrage der Ev. Kirche heute. Der Sinn der Kirche wird wiederum legitimiert durch ihre Nützlichkeit. Wozu ist etwas brauchbar, wozu ist die Kirche nützlich, das ist der entscheidende Maßstab, an dem sich Kirche von den Men- schen unserer Zeit messen lassen muss. 3. Umsetzung a) Äußerlich Die ersten Ergebnisse sind mittlerweile greifbar. Das von der Leitung und Synode be- schlossene Konzept ist eine von der Spitze her entwickelte Strategie für Normen und Handeln, deren Führungskräfte jetzt bei uns „Mittlere Ebene" heißen. Die Richtung und die „Corporate Identity" wird von Darmstadt bestimmt. Die MitarbeiterInnen, Kirchenvor- stände und Gemeinden werden in diesem Prozess zu bloßen Vollzugsorganen degra- diert, mit einem gewissen parochialen Gestaltungsspielraum. Als Maßstab dient das ein- heitliche Bild („Evangelisch aus gutem Grund"), mit einladendem Euphemismus („Le- bensArt") und natürlich Effizienz beim Einsatz kirchlichen Personals. b) Inhaltliche Folgen Aber täuschen wir uns nicht, die Reformen sind keine nebensächlichen Eigenschaften, keine Attribute, die unsere Arbeit auszeichnen wie Lebendigkeit, Gemeinschaft, Offenheit oder Streitkultur. Die „Einblicke", die mit fast schon an beste DDR-Zeiten erinnernder Pe- netranz die Vorzüge der Reform anpreisen, verwenden eine Terminologie, die deutlich zeigt, dass dahinter weder „katholizierendes noch hierarchisches noch gar kirchliches, sondern rein ökonomisches Denken" steht. Die Änderungen beziehen somit ihre „zentra- le Rechtfertigung allein aus dem Bereich der Wirtschaft".(2) Dieses Denken hat Folgen, über deren Auswirkungen wir uns offensichtlich noch gar nicht im Klaren sind. Im Hinblick auf die Reformen und den Umbau unserer Kirche wird zwar immer behauptet, Änderungen an der Organisation beträfen keineswegs den Inhalt der Verkündigung oder den Auftrag an der Welt, das ist aber trivial genauso wie falsch. Formen sind nichts Äußerliches die man beliebig verändern kann, ohne den Inhalt zu be- rühren. Mit den Consultans von McKinsey und ihrer „fundamentalistischen Organisati- onsberatung"(4) hat man kritiklos Denkmuster übernommen, die mit biblischen Inhalten wie Erlösung, Buße, Solidarität mit den Schwächsten kaum Berührung haben, höchstens als Abschreibungswert. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man sich die Vorgehens- weisen erfolgreicher Unternehmen nützlich macht, von Effizienz kirchlicher Arbeit spricht, Personalgespräche mit Zielen definiert (5 Jahres-Plan), Bemessungskriterien an (demo- grafische) Zahlen bindet, den Erfolg zum Kriterium erhebt, ein Logo in den Vordergrund stellt, statt dem Kreuz und das Scheitern als ein Gottesprädikat. c) Theologische Problemanzeige Sah früher die Kirche als Aufgabe, das unerklärliche Handeln Gottes auszusprechen und wirken zu lassen, so hat sie heute mit der Öffnung ihrer Türen für die Controller den Re- spekt vor dem, was sich nicht fassen lässt verloren. „Früher hieß das Fassungslose „Geist", heute ist es ein Skandal für jede (kirchliche) Manager-Mentalität. Als Expertin für den Geist hat die Kirche aber mehr verdient als die Ratschläge der Wirtschaft."(3) Es kann nicht sein, dass sich eine Kirche Strategien aus der Wirtschaft nützlich macht, son- dern „die Ökonomie sollte Antworten auf ihre ungelösten Fragen von der Kirche erhalten. Wir haben doch mehr zu bieten als Ratschläge, nämlich Trost. Wir sind als Kirche Spezi- alisten des Scheiterns und wir sehen darin – wider alle ökonomische Vernunft – den In- begriff eines geglückten Anfangs. Wie sollte man sonst den Tod eines Menschen am Kreuz als Inbegriff für Erlösung und Lebendigkeit verkündigen?"(3) Eine Kirche, die in dem Maße wie wir zur Zeit marktökonomischen Grundsätzen folgt, verrät ihre Wurzeln und wird keine segensreiche Zukunft haben. Denn „im Kreuz hat Gott scheinbar höchst 'ineffizient' gehandelt, sich in Gegensatz gesetzt zu allen Strategien und Unternehmungen, die geradlinig auf Erfolg hin ausgerichtet sind. So ist die Geschichte des Evangeliums denn auch alles andere als eine Erfolgsgeschichte, sondern eine Geschichte der Misserfolge und des Scheiterns. Das Kreuz erweist sich als das schlechthin Querständige zu allen Erfolgserwartungen. Das Evangelium, dessen Inhalt das Kreuz ist, schickt seine Diener und Dienerinnen gerade dort hin, wo sie - nach menschlichem Urteil - chancenlos erscheinen, wo weder glatte Erfolge in Aussicht ste- hen, noch medienwirksamer Eindruck zu machen ist. Diener und Dienerinnen des Evan- geliums sein heißt, die Freiheit auch zu ineffizientem Handeln zu haben."(2) Man kann das übrigens sehr gut in den beiden Korintherbriefen nachlesen. 4. Folgerungen Wir müssen eine Entscheidung treffen und uns über unsere Prioritäten klar werden. Was gewinnen wir, was verlieren wir auf welchem Weg? Die Reform trat mit dem Ziel an, Gelder einzusparen und gleichzeitig mehr Menschen zu erreichen. Fakt ist aber: a) Für die Realisierung der ökonomisch geprägten Reformvorhaben müssen mittlerweile hohe Summen sogar aus Rücklagen entnommen werden. b) Der Geist der Reform widerspricht der paulinischen Theologie und dem ntl. Verkündi- gungsauftrag der Kirche. c) Die mangelnde Transparenz bei der Planung und Durchführung der Reform hat bei vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern große Enttäuschungen hinterlassen. d) Die Reduzierung der Anzahl der Pröpste, Dekanate und Gemeinden führt zu einer erheblichen Arbeitsüberlastung. So benötigt Frau Trösken inzwischen einen Referen- ten, da ihr Arbeitsgebiet zu umfangreich geworden ist. Dekane müssen künftig hauptamtlich arbeiten und von der Gemeindearbeit entbunden werden. e) Die Verwaltungsarbeit, die Anzahl der Sitzungen und der damit verbundene Zeit- und Fahraufwand nehmen gravierend zu. Die Kommunikationswege werden komplizierter und unpersönlicher. f) In den zusammengelegten Synoden kommen die Teilnehmenden trotz Verkleinerung der Gremien kaum noch zu Wort. Viele PfarrerInnen sind von den Entscheidungspro- zessen ausgeschlossen bzw. bekommen sie gar nicht mit. g) Die Belastung der Ehrenamtlichen im DSV erreicht ein schon fast nicht mehr zumut- bares Ausmaß und der „Job" des DSV-Vorsitzenden entspricht einem vollzeitlichen Arbeitsplatz. h) Mit der Reform werden nicht mehr Menschen erreicht, sondern eher das Gegenteil. [Hätte man nicht Gegenteiliges anpeilen sollen, statt Profilstellen einen Propst mehr mit Verkleinerung der Dekanate und Erhaltung der Pfarrstellen bzw. Ausweitung, damit in ei- nem übersichtlichen Raum vermehrt seelsorgerliche Gespräche möglich werden, synodale Arbeit erleichtert und das Berufsbild Pfarrerin/Pfarrer attraktiv wird?] Klar ist, dass es in Zukunft weniger PfarrerInnen geben wird. Man kann natürlich auf dem Papier die Bemessungsgrenzen für eine Gemeindestelle so definieren, dass es in unserer Kirche niemals Vakanzen und immer eine 100%ige Versorgung gibt, ja dass sogar noch Ressourcen für die Profilstellen vorhanden sind. Aber das sind Scheinlösungen. Kirche lebt im Wesentlichen von der Begleitung der Menschen in ihrem Leben und ihrer Einbindung in die Gemeinde, während die Reform, gerade in Zeiten des Mangels, zusätzlich PfarrerInnen aus diesem zentralen Arbeitsgebiet abzieht. Ob Profilstellen ein äquivalenter Ersatz sind, bleibt eine waghalsige These. Wohin werden sich die Menschen wenden, wenn kein Pfarrer, keine Pfarrerin mehr da ist, oder wenn vor lauter Kasualien (Grundversorgung) für Hausbe- suche keine Zeit mehr ist, an den Öffentlichkeits- oder Ökumenebeauftragten oder an die Erwachsenenbildung? 5. Fazit Inwiefern der alte Kirchenaufbau dem Ziel, mehr Menschen zu erreichen, gerecht wurde, ist sicherlich zu hinterfragen, aber die jetzige Reform führt nach den bisherigen Erfahrun- gen zu einer eindeutigen Verschlechterung des ursprünglichen Status Quo. Daher sind nicht wenige Kolleginnen und Kollegen der Meinung, und ihre Zahl wächst, dass die Ära unseres gegenwärtigen Kirchenpräsidenten mit - der dilettantischen Personalplanung, - der Entmündigung von Kirchenvorständen, - der Diskreditierung der Arbeit von Gemeindepfarrerinnen und Pfarrern, - den Millionenverlusten an der Börse, - der Rücklagen aufbrauchende und auf Dekanatsebene zu einem widerlichen Hauen und Stechen führenden Reform einmal als eine Epoche des Niedergangs beurteilt werden wird. Viele der heutigen Ent- scheidungsträger und Befürworter werden in wenigen Jahren in den Ruhestand gehen und uns, falls es so weiter geht, fürchte ich, einen Scherbenhaufen zurücklassen. Die Zeit zu einer nüchternen Bilanz der Reformbemühungen scheint mir gekommen. Aber wer wagt sie und macht den Mund auf? Sind wir schon so weit fortgeschritten, dass es keine Umkehr mehr gibt (Lemminge)? Stefan Schrick, Dornholzhäuser Str. 12, 61350 Bad Homburg v.d. Höhe Tel.: 06172-32 888, Anmerkungen: (1) Pfarrer Dr. Michael Heymel: „Welche Bedeutung hat die Gemeinde bei der Strukturreform der EKHN?, Protest eines Gemeindepfarrers gegen Reformkonzepte, die die Kirchengemeinden entmün- digen. (ohne Ort und Datum), Hessisches Pfarrblatt, Juni 1999, S. 20 (2) Prof. Dr. Jürgen Roloff: „Die Torheit des Kreuzes und die Weisheit der Personalentwicklung" Refe- rat anlässlich des Studientages "Controlling in der Kirche" der Initiative "Bündnis 2008" am 15. Juni 2002 in Nürnberg gehalten. (3) Prof. Dr. Jürgen Werner: „Tröstliche Umwege" Süddeutsche Zeitung 14.März 2002 (4) Dr. Dietrich Neuhaus, Wider den Fundamentalismus der Organisationsberatung in der Kirche, eine polemische Analyse. Deutsches Pfarrerblatt 2/99 3