Vortrag von Christian Nürnberger beim 34. Rhein. Pfarrerinnen- und Pfarrertag am 3. November 2003 in Bonn
Meine Damen und Herren,
wenn ich in sieben Sätzen erklären sollte, wie es kommt, dass ein
dahergelaufener Schreiberling und Agnostiker wie ich heute vor lauter Pfarrern
über die Kirche spricht, würde ich es ungefähr so formulieren:
Im Jahr 1999 veröffentlichte ich mein Buch "Die Machtwirtschaft",
eine Streitschrift gegen den Wirtschafts-Totalitarismus. Ich dachte damals, dafür
müsse sich eigentlich die Partei interessieren, der ich seit über 30 Jahren
angehöre, die SPD. War aber nicht so.
Statt dessen hat sich die Kirche dafür interessiert. Das hat mir so
geschmeichelt, dass ich begann, mich auch wieder für die Kirche zu
interessieren, gleich so heftig, dass ich ein Buch über die Kirche schrieb und
dachte, dafür müsse sich jetzt eigentlich die Kirche interessieren. War aber
nicht so. Statt dessen hat sich die SPD dafür interessiert.
So bin ich nun mit beiden im Gespräch. Mit der Kirche rede ich über die SPD,
mit der SPD über die Kirche. Beide erscheinen mir sehr störrisch, ziemlich
verstockt und schwer reformierbar. Beiden laufen die Mitglieder davon, beide
stehen bei Jugendlichen nicht hoch im Kurs, beide vergreisen.
In der Kirche ist das Problem schon lange bekannt, man hat schon alles
versucht, um es zu lösen, jedoch vergeblich. Als sich die Kirche ihrer
Ratlosigkeit bewusst wurde, holte sie sich Rat von außen, von professionellen
Unternehmensberatern. Wenn guter Rat teuer ist, dachte man im Umkehrschluss,
muss teurer Rat gut sein.
Ich möchte Ihnen begründen, warum dieser Rat nur teuer ist.
Ich steige ein mit einer Geschichte, die öffentlich zu erzählen mir meine Frau verboten hat. Ich bin sonst ein sehr gehorsamer Ehemann, aber heute bin ich ausnahmsweise mal ungehorsam, weil meine Frau ja gar nicht dabei ist und weil diese Geschichte wunderbar zum Thema meines Vortrags und zum Motto dieser Veranstaltung passt. Also:
Ein englischer Lord reitet jeden Morgen aus seinem Schloss in den Wald. Immer, wenn er um die Ecke biegt, begegnet er einer wunderhübschen Dame mit Hündchen. Sie grüßen einander, aber mehr tut sich nicht. Der junge Lord würde zu gern mit ihr ins Gespräch kommen, weiß aber nicht, wie er das anstellen soll, erzählt es seinem Freund, und dieser sagt: "Ist doch ganz einfach. Streich dein Pferd grün an. Wenn du dann wieder an ihr vorbei reitest, und sie sieht dein Pferd, wird sie überrascht aus-rufen: ‚Why did you paint this horse green?' Und du wirst antworten, weil du gehofft hattest, dass sie das fragen wird, und du damit endlich mit ihr ins Gespräch kommst. Sie wird gerührt sein, ihr werdet noch eine Weile miteinander sprechen und euch für den nächsten Abend zum Essen in der Stadt verabreden. Dort werdet ihr einander näherkommen, ihr werdet euch öfter treffen, ins Konzert gehen, ins Kino, Theater. Irgendwann wirst du sie zu dir auf dein Schloss einladen, und im Sommer macht ihr Urlaub in Manila. Dort werdet ihr am Strand liegen und zum ersten Mal miteinander Sex haben." Toll, sagt der Graf, das mach' ich. Noch am gleichen Tag streicht er sein Pferd grün an. Am nächsten Tag begegnet er wieder seiner Herzdame, sie sieht das Pferd, und tatsächlich - sie fragt: "Why did you paint this horse green?" Der Lord antwortet: "Because I want to fuck you in Manila."
So zielstrebig, ergebnisorientiert und erfolgsversessen wie dieser Lord gehen
heute die Verkäufer auf die Konsumenten los, die Parteien auf die Wähler - und
neuerdings die Kirche auf ihre Mitglieder.
Jene, deren Profession es ist, den Markt zu penetrieren mit Hilfe grün
angestrichener Pferde, sollten nicht vergessen: Es gibt immer Leute wie mich,
die merken die Absicht, und sind verstimmt. Ich will nicht penetriert werden.
Leute wie ich sind dankbar und froh, dass die 90er Jahre vorbei sind, denn die
90er Jahre waren die große Zeit der Reiter grün angestrichener Pferde. Die
90er Jahre waren das Jahrzehnt des Marketings, der Ich AGs, der Me Incorporateds.
In den 90er Jahren glaubte man, alles sei eine Managementaufgabe, nicht nur die
Führung von Unternehmen, sondern auch Politik, Kirche, und auch das Privatleben
sei zu managen und zu vermarkten.
Ich will zur Illustrierung dieser These eine weitere Geschichte erzählen,
die zunächst scheinbar nur locker mit dem mir gestellten Thema zusammenhängt,
aber im Verlauf der Geschichte wird sich Ihnen zunehmend erschließen, dass der
Zusammenhang doch enger ist als es zunächst schien. Ich will Ihnen erzählen,
wie man in den 90er Jahren am schnellsten und erfolgreichsten zum Ziel kam. Und
ich will es leicht verfremdend erzählen, indem ich mich einer Analogie aus dem
Tierreich bediene. Wer hat bei den Affen Erfolg? Wie wird man Gänsechef? Oder
wie führt man einen Heringsschwarm?
Fangen wir mit den Gänsen an. Bei ihnen wird die Hackordnung gleich nach der
Geburt geregelt. Kaum, dass sie geschlüpft sind, beginnt eine Art
Ausscheidungswettkampf, während dem die Gössel so lange aufeinander einhacken,
bis am Ende der Champion übrigbleibt. Dabei, und darin steckt die Überraschung,
ist es aber keineswegs so, dass immer der größte und kräftigste gewinnt. Auch
ganz mittelmäßige Kameraden können ins höchste Amt gelangen. Es ist ein
bisschen wie bei der Fußball-WM. Viel hängt davon ab, wer in der Vorrunde zufällig
an wen gerät.
Gerät beispielsweise der mittelmäßige Gössel Gerhard in der ersten Runde an
den schwachen Hans-Jochen, siegt Gerhard auf ganzer Linie. Nun kann es sein,
dass Gerhard in der zweiten Runde auf den ebenfalls mittelmäßigen, also gleich
starken Johannes trifft, der aber zuvor verloren hat und darum schon etwas
demoralisiert ist. Gerhard, noch beschwingt von seinem ersten Sieg, wird daher
den demoralisierten Johannes aus dem Feld schlagen. Das beschwingt Gerhard so
sehr, dass er in der dritten Runde auch den etwas stärkeren Björn aus dem Feld
schläft. Nun gerät er in einen Siegesrausch, in dem er sogar den sehr viel stärkeren
Rudolf erledigt, bis er es zuletzt mit Gössel Oskar zu tun bekommt. Gegen den
hat er eigentlich keine Chance, denn Oskar ist wirklich sehr viel stärker. Aber
beim Kampf verheddert sich Oskar in einen Maschendraht, damit hat Gerhard
leichtes Spiel, und er gewinnt auch den letzten Kampf.
Nun ist er der Boss, zwar noch mittelmäßig, aber das wird er nicht lange
bleiben. Denn von nun an, so ist das bei Gänsen, wächst er mit dem Amt.
Nachdem die Rangordnung geklärt ist, entwickelt sich das Gewicht jedes Gössels
genau im Verhältnis zu seinem Rang, und schon nach kurzer Zeit wird aus dem
Mittelgewicht Gerhard ein Schwergewicht. Bisher noch unerforscht ist, ob, wie
der Volksmund behauptet, auch der Verstand mit dem Amt wächst. Und ruhen lassen
wollen wir die Frage, ob ähnliche Gesetzmäßigkeiten auch in Landeskirchenämtern
gelten.
Führungskräfte im Tier- wie im Menschenreich zeichnen sich durch
Entschlossenheit und Willensstärke aus. Das lässt sich schon an Heringen
studieren. Normalerweise sind Heringsschwärme führerlose Gesellschaften, in
denen sich jeder beständig an den anderen orientiert, wodurch sich quasi nach
dem Prinzip des Gemeinsinns der Kurs des Schwarms ergibt. Davon gibt es eine
Ausnahme. Sieht ein Hering Futter, achtet er nicht mehr auf die anderen, sondern
schießt zielstrebig auf die Beute zu und wird so vorübergehend zum Führer.
Denn diese Entschlossenheit veranlasst den Rest des Schwarmes, dem Hering zu
folgen und ihn damit kurzzeitig als Führer zu bestätigen.
Nun haben Wissenschaftler einen Hering, nennen wir ihn Poseidon, aus dessen
Schwarm genommen, ihm das Sozialisationszentrum aus dem Gehirn entfernt und
wieder in den Schwarm zurückgebracht. Die Folgen waren katastrophal. Der
teil-gehirnamputierte Poseidon kümmerte sich nun überhaupt nicht mehr um das,
was der Schwarm tat, sondern schwamm, wie er gerade lustig war. Sein Schwarm
aber zeigte sich von der kühnen Entschlossenheit des Hirngeschädigten derart
beeindruckt, dass er ihm überall hin folgte und auch die verrücktesten
Zick-Zack-Bewegungen noch mitmachte. Der Gehirngeschädigte avancierte zu einem
im Heringsschwarm eigentlich nicht vorgesehenen Dauerführer.
Manche Künstler, Gurus, Yogis, Modezaren, Trendredakteure, Designer,
Unternehmensberater, Schamanen, Motivations- und Managementtrainer haben es mit
ähnlichen Kühnheiten ähnlich weit gebracht. Im Management großer Unternehmen
führen solche entschlossenen Orientierungslosen gelegentlich in die Pleite, was
aber regelmäßig mit hohen Abfindungen für die Gehirngeschädigten honoriert
wird.
Drittes Beispiel: die Affen. Stellen Sie sich vor: Ein Affe von mäßigem
Verstand, mäßigem Gewicht und auch sonst sehr durchschnittlich, nennen wir ihn
Turzun, trottet mit seiner Horde durch den Wald. Von seinem Rang her gehört er
zur unteren Mittelklasse seiner Horde, mit der er eines Tages in die Nähe der
Behausung der Primatenforscherin Jane Goodall gelangte. In deren Vorratszelt
fand Turzun einen Haufen übereinandergestapelter Blechkanister und schlug diese
so heftig gegeneinander, dass unter dem Geschepper und Getöse die ganze
Affenhorde vor Ehrfurcht erstarrte und ihn von einer Sekunde zur anderen zum
neuen Boss kürte. Er blieb es bis zu seinem Lebensende.
Die Nutzanwendung für alle lautet also: Wer Erfolg haben will, muss trommeln.
Wer Erfolg haben will, muss auffallen.
Jürgen W. Möllemann - er fiel jahrzehntelang dadurch auf, dass er
herabfiel, nämlich mit dem Fallschirm vom Himmel, hinein in die Volksmenge und
vor die Linsen der Kameras - hatte es damit einmal bis zum Staatsminister im
Auswärtigen Amt gebracht, ist dann allerdings über einen Plastikchip für
Einkaufswagen gestolpert und zuletzt über sich selbst. Und da fiel er ein
letztes Mal vom Himmel und wollte die Reißlinie nicht mehr ziehen.
Was von ihm bleibt, ist das Möllemann-Prinzip. Ich habe die Wirkungsweise
dieses Prinzips selber schon früh beobachten können, als ich vor rund 25
Jahren für eine Nachrichtenagentur in Bonn arbeitete. Morgens zwischen fünf
und sechs, wenn die Nachrichtenmaschinerie anlief, war immer das Problem: Womit
werfen wir die Maschine an? Wir können nicht einfach mit den letzten
Nachrichten von Null Uhr weitermachen, wir brauchen was Neues, wir brauchen
etwas, womit wir die Null-Uhr-Nachrichten weiterdrehen können.
Und was machte man da als Frühschichtredakteur? Man wartete auf die Anrufe von
Jürgen Möllemann und Volker Rühe, die sich zuverlässig zwischen fünf und
sechs bei den Agenturen meldeten, um die Null-Uhr-Nachrichten zu kommentieren.
Diese beiden, Möllemann und Rühe, kannten die Not der Frühschichtredakteure,
haben sie bedient und kamen so in die Nachrichten zwischen sechs und neun Uhr.
Beide haben es dann ja auch zu Ministerehren gebracht, und eines der Geheimnisse
ihres Erfolgs war, dass sie schon Interviews gaben, während die anderen noch
schliefen oder gerade frühstückten.
Man hat bei Primaten auch schon beobachtet, dass sie gute Kontakte untereinander
pflegen und Seilschaften bilden. Mit deren Hilfe können es relativ
durchschnittliche Gestalten bis weit nach oben bringen. Auch sicheres Auftreten
und gute Beziehungen sind oft wichtiger als pure Leistung, und während der 90er
Jahre wurde dieses Möllemannprinzip zur Perfektion entwickelt. Plötzlich wurde
das Projekt 18 geboren, eine Kanzlerkandidatur der FDP, und ein Mensch namens
Westerwelle fuhr im Guidomobil zu Sabine Christiansen und reckte dort seine
Schuhe mit einer 18 auf der Sohle in die Kameras.
Und bei Thomas Gottschalk in "Wetten, dass...?", wo zuvor immer
richtige Weltstars und bedeutende Menschen gesessen hatten, saßen plötzlich
drei Frauen auf der Couch, die es unter der Bezeichnung "Luder" zu
Ruhm und Geld gebracht hatten. Sie wurden für würdig erachtet, einem
Millionenpublikum präsentiert zu werden, obwohl sie eigentlich nie etwas
anderes geleistet hatten, als zur richtigen Zeit auf dem richtigen Event ihre
richtig operierten Brüste in die richtige Kamera zu recken.
Möllemann hat sich inzwischen selbst ins Aus katapultiert, Westerwelle wurde
auf Normalmaß zurückgestützt, die Namen Naddel, Jenny Elvers und Ariane
Sommer fallen gerade dem Vergessen anheim, und nur Verona Feldbusch ist noch
einigermaßen im Geschäft. Mit ihrer Jugend verfügt allerdings auch sie nur über
einen Vorzug, der mit der Zeit vergeht, und von den ihr noch verbleibenden
Mitteln hat sie gerade wieder eines verbraucht. Sie hat öffentlichkeitswirksam
ein Kind geboren. Das kann sie noch einmal wiederholen, ein drittes Mal wird sie
es wohl kaum schaffen. Sie kann dann nachträglich noch öffentlichkeitswirksam
den Vater des Kindes heiraten, danach ihr Publikum noch mit ein paar gut
inszenierten Scheidungen und Wiederverheiratungen bei Laune halten, aber schon
das dürfte allmählich auf abnehmendes Interesse stoßen, denn alles verbraucht
sich, und irgendwann wird Schluss sein, dann werden die wilden 90er Jahre endgültig
vorbei sein, wird der Zug entgleist sein, auf den aufzuspringen man in der
Kirche derzeit für lebensrettend hält.
Mit Events, Promi-Auftrieben, PR, Talkshowpräsenz, Erlebnisgastronomie,
Abenteuerurlaub, Shopping und der genauen Befolgung der neuesten Ratschläge
unserer Ratgeberliteratur und Lifestylezeitschrif-ten kann man vieles
zukleistern, kann man viele leere Hülsen füllen. Und ich habe den Verdacht,
dass genau dies nun auch in meiner Kirche geschieht.
Zum ersten Mal hatte ich diesen Verdacht vor ein paar Jahren, als ich las, dass
jetzt plötzlich überall in der Kirche Unternehmensberater zu Gange sind und
dem "Unternehmen Kirche" eine "Corporate Identity" verpassen
wollen, weshalb man allenthalben Pfarrer am Werke sah, die in themenzentrierten
Interaktionen und gemeinsamen kreativen Prozessen neue Logos erfanden und ihr
Briefpapier mit einer derartigen Begeisterung gestalteten, dass sie darüber
ganz vergaßen, die Alten und Kranken ihrer Gemeinde zu besuchen oder ihre
Energie in eine gute Predigt zu investieren.
Die Kirche war mal eine Kraft, welche die Welt gestaltete, dachte ich, jetzt hat
sie sich also auf Brief-papiergestaltung spezialisiert. - Auch eine Karriere.
Aber ich verstand, dass die Bischöfe auf so ein Wort wie "corporate
identity" abfuhren, denn das musste im Vergleich zu jenem Vokabular, das
sie sonst gebrauchen, in ihren Ohren unerhört modern klingen, quasi wie der
letzte Schrei.
Nun, ich war zufällig vor 20 Jahren Redakteur beim Wirtschaftsmagazin Capital,
und damals war diese Geschichte mit der CI tatsächlich der neueste Schrei aus
Amerika, wir haben getreulich darüber berichtet und damit den deutschen
Unternehmensberatungen ermöglicht, auch in Deutschland gute Geschäfte mit
dieser neuesten Mode zu machen. Heute, 20 Jahre später, kann als gesichert
gelten, dass die Corporate Identity noch kein Unternehmen vor der Pleite bewahrt
hat, außer vielleicht jene Unternehmensberatungen, die es geschafft haben, den
alten Hut zu recyceln und ihn ein zweites Mal zu verkaufen - an die Bischöfe,
die einen starken Glauben beweisen, wenn sie sich ausgerechnet davon die Rettung
der Kirche versprechen.
Eine der Früchte der Arbeit der Unternehmensberater war eine bundesweite
Plakat- und Anzeigenaktion der EKD im vergangenen Jahr. Mit den Plakaten und
Anzeigen wollte die EKD "gemeinsam Antworten finden" auf so Fragen,
wie: "Woran denken Sie bei Ostern?" An "Ferien"?
"Cholesterin"? "Auferstehung"? Oder "Langeweile"?
Ein anderes Plakat fragte: "Ist der Mensch nur so viel wert, wie er
verdient?" "Ja"? "Nein"? "Vielleicht"?
"Weiß nicht"? Ein weiteres: "Wohin wollen Sie eigentlich?"
Solche Quizfragen waren damals dank Günter Jauch sehr populär, die Kirche lag
also voll im Trend, trotzdem fragte ich mich: Wohin will eigentlich die Kirche
mit diesem Quiz?
Ins öffentliche Bewusstsein, sagte Ulrich Fischer, Landesbischof der
Evangelischen Kirche in Baden. Mit Plakaten, Anzeigen, einer Telefon-Hotline und
Internet-Angeboten wollte die EKD von März bis August Aufsehen erregen. Und am
12. Mai (Muttertag) sollte es in allen evangelischen Dorf- und Stadtkirchen
einen "bundesweiten Erdbeerkuchen-Sonntag" geben.
Und - hatte die Kirche Aufsehen erregt? Falls ja, ist das Aufsehen nicht bis
zu mir vorgedrungen, ich hatte jedenfalls nichts davon mitgekriegt, und am
Muttertag suchte ich in Mainz vergebens nach Erdbeerkuchen-Events.
Wahrscheinlich hätte es mehr Aufsehen erregt, wenn der Präses Kock die
Millionen, die diese Kampagne gekostet hat, in kleinen Scheinen vom Turm der Gedächtniskirche
auf die Berliner herabgeworfen hätte.
Jetzt kann man weiterfragen: Warum will denn die Kirche ins öffentliche
Bewusstsein. Was will sie denn da? Naja, sagt sie, sie würde gerne die
"Randständigen" wieder ein bisschen enger an sich binden, also jene,
die der Kirche noch nicht ganz den Rücken gekehrt, aber sich sehr weit entfernt
haben, also die Karteileichen, die brav ihre Kirchensteuer zahlen, aber sich nie
in der Kirche blicken lassen - also so Leute wie mich.
Ich bin ein typischer Fall für das, was die Kirche einen "Randständigen",
einen "am-Rande-Steher" nennt. Ich zahle brav meine Kirchensteuer, ich
habe meine Kinder taufen lassen, ich werde sie auch konfirmieren lassen, wenn
sie das wollen, aber in der Kirche bin ich in den letzten 20 Jahren keine
zehnmal gewesen. Und ich schick' auch meine Kinder nicht in den
Kindergottesdienst.
Darum: Wenn jemand kompetent ist, ein Urteil über diese Öffentlichkeitskampagne
der EKD abzugeben, dann bin ich das, einer der Adressaten dieser Kampagne, einer
dieser am-Rande-Steher.
Wenn die Kirche mich also fragte: Was hältst du von unserer Kampagne? Fühlst
du dich angesprochen? Was würde ich sagen?
Ich glaube, ich würde zunächst sagen, dass ich das Problem meiner Kirche
schon verstehe. Jedes Kind kennt den Papst, aber keines kennt Mark Hanson, den
neuen Präsidenten des Lutherischen Weltbundes, und keines kannte dessen Vorgänger
Christian Krause. Fast jeder in Deutschland kann mit dem Namen Ratzinger etwas
verbinden, man kennt die Kardinäle Lehmann und Meisner, aber man frage mal in
einer x-beliebigen Fußgängerzone nach Hans Christian Knuth, dem Vorsitzenden
der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Deutschland (VELKD). Der
einzige bundesweit bekannte Protestant ist der Fernsehpfarrer Fliege, aber bei
dem ist nie ganz klar, ob er die Botschaft ist oder ob er eine hat.
Wenn Protestanten sich streiten und sich nicht einigen können, teilen sie sich
lieber, als dass sie sich einer obersten Instanz fügen, die einfach autoritär
entscheidet, was wahr sein soll. Protestanten war die Wahrheit seit je her
wichtiger als ihre Einheit. Das machte sie sympathisch und respektabel, führte
aber zu immer weiteren Teilungen, so dass es mittlerweile 136 lutherische
Kirchen in 76 Ländern gibt, und dazu noch die eine katholische.
Nur sie erfreut sich weltweiter Bekanntheit. Die anderen 136
Schrebergartenkirchen mögen ihre Gründe haben für ihre jeweiligen
Eigenheiten, bezahlt wird dieses Insistieren auf die feinen Unterschiede
zwischen Unierten, Reformierten, Baptisten, Lutheranern mit mangelnder öffentlicher
Aufmerksamkeit, stetig sinkender Bedeutung und einer Zersplitterung der einen
Wahrheit in viele Teile. Statt einer Wahrheit haben Protestanten nur Toleranz zu
bieten.
Ihre Toleranz lässt die Evangelischen aufgeklärter und vernünftiger
erscheinen als die katholischen Dogmatiker, die um der Einheit willen an
Glaubenssätzen und Vorschriften festhalten, welche der moderne Mensch für
unsinnig zu halten sich angewöhnt hat. Aber wegen dieser erzwungenen Einheit
und wegen des gewaltigen Theaterdonners, den zu entfachen Rom noch immer
imstande ist, kennt der moderne Mensch das katholische Personal viel besser als
das protestantische. Eine Truppe, ein Kopf, eine Botschaft, gelegentliche
Provokationen zu Abtreibung, Pille und Zölibat, dazu die katholische Lust an
Farbe, Weihrauch und Multimedia - da weiß man, was man hat.
Dagegen wir, die Protestanten: 136 Trüppchen, 136 Köpfchen, die auch noch
dauernd wechseln und viel bleiches Papier mit diffusen Botschaften voll
schreiben, da kennt sich kein Mensch mehr aus. Eine "Einheit in der
Vielfalt" kann das Fernsehen nicht filmen. Der vielstimmig-matte Chor aus
mausgrauen Gremien und Synoden der zersplitterten Welt-Protestanten-Chaostruppe
muss daher in unserer media-len Bilderwelt jämmerlich untergehen. Und ein
williger Redakteur, der ja gerne etwas bringen würde über die Lutherischen, wüsste
gar nicht, wo er anrufen soll.
Dank teurer Berater aus der Wirtschaft hat die EKD dieses Problem erkannt und
will es nun mit Hilfe teurer Kampagnen und Events lösen.
Die Plakatkampagne mit den Erdbeerkuchen-events hat sich die Werbe-Agentur
Melle Pufe ausgedacht. Deren Kreativdirektorin hat dazu gesagt, Kirche sei nicht
der Ort für Absolutheitsansprüche und Unfehlbarkeiten, und darum stellen
Protestanten Fragen. Die Frage sei der "Markenkern des
Protestantismus".
Habe ich so noch nie gehört, ist aber ehrlich, sympathisch und überflüssig in
einer Gesellschaft, die nicht unter einem Mangel an Marken und Fragen leidet,
sondern unter einem Mangel an Orientierung und Antworten. "Ich bin der Weg,
die Wahrheit und das Leben", hat Jesus gesagt, aber sein Bodenpersonal lässt
miteilen: Wir kennen weder den Weg, noch die Wahrheit, vom Leben verstehen wir
auch nicht so viel, aber wir haben Erdbeerkuchen und jede Menge Fragen.
Hat sich denn Paulus als "Sinnvermittlungsagentur" begriffen? Hat er
sich auf die griechischen Marktplätze gestellt, um mit "Sinn" zu
handeln? Hatte er das Gefühl, dass er dort irgend etwas zu verkaufen habe? Fühlte
er die Notwendigkeit, durch Events und Selbstinszenierungen auf sich aufmerksam
machen zu müssen?
Paulus hatte eine Wahrheit erkannt, die sein Leben umdrehte und die er für so
eminent wichtig und bedeutend gehalten hat, dass er zutiefst überzeugt war,
alle Welt müsse davon erfahren und sich damit auseinandersetzen. Er kam zu den
Menschen in dem Bewusstsein, ihnen ein Geschenk von höchstem Wert zu überbringen.
Paulus hatte keine Fragen, sondern eine Antwort. Deshalb war er konkurrenzlos.
In Konkurrenz befindet sich nur, wer seinen eigenen Vorteil sucht. Wer schenken
will, kann es zwar bedauern, wenn die Annahme verweigert wird, aber er wird doch
nicht auf die unsinnige Idee kommen, den Ablehnenden sein Geschenk wie Sauerbier
aufzuschwatzen.
Die Agentur, der die EKD für ihre Kampagne einen Etat von 1,5 Millionen Euro
anvertraut hat, kennt sich aus mit dem Verkauf von Sauerbier, gilt als eine
"Agentur für schwere Fälle". "Berlin" ist so ein Fall und
wurde von der Agentur vermarktet, der "Verband der Cigarettenindustrie",
"Afri Cola", nun auch eine Marke namens Kirche.
Agenturgründer Hendrik Melle sagte, unsere Gesellschaft leide nicht an einem
"Mangel an Sinn, sondern eher an einem Überangebot". Dabei handle es
sich überwiegend um "Unsinn-Angebote". Dage-gen stehe das
"Sinn-Angebot" der Kirche.
Der, dessen Alltag sonst aus der Produktion und Verkaufe genau dieser
"Unsinn-Angebote" besteht, versuchte also zwischendurch mal, der Welt
das "Sinn-Angebot" der Kirche zu verkaufen. Ihn selbst schien es
selber nicht so richtig überzeugt zu haben. Sinn und Unsinn sind ihm weiter
einerlei, denn wie man hört, widmet er seine Aufmerksamkeit jetzt wieder
Berlin, Zigaretten, süßer Brause und ähnlichen Problemfällen. Die Kirche
wird wohl noch einige Millionen mehr zum Fenster hinauswerfen müssen, bis sie
merkt, dass sie unverkäuflich ist.
Wer Kirche als eine Nonprofit-Organisation unter anderen begreift und sie auf
den Marktplatz schubst, verlässt den Boden des Evangeliums, degradiert dieses
zur Ware, und macht sich gemein mit jenen obskuren Weltanschauungshändlern, die
sich auf diesem Markt herumtreiben.
Kirchenleitungen, welche die Existenz der Kirche dadurch sichern wollen, dass
sie ihre Kirche als Nützlichkeits-Organisation etablieren, als Service- und
Sinnvermittlungsagentur, als Unternehmen, dessen Wert in ihrer Funktionalität für
einzelne, Gemeinschaften und Staaten liegt, ziehen den Karren nicht aus dem
Dreck, sondern fahren ihn noch tiefer hinein. Bischöfe, die den Leuten
weismachen wollen, eine Mitgliedschaft in der Kirche rechne sich, zahle sich
aus, müssen vergessen haben, dass der Lohn des Christen das Kreuz ist, dass es
nicht um Logos geht, sondern um den Logos.
Ich bekomme auf solche Vorhaltungen hin immer vorgehalten, die Kirche könne
doch nicht ewig im alten Trott weitermachen, man sehe ja, dass das zu nichts führe,
und man könne doch im Ernst nichts dagegen einwenden, dass die Kirche mit der
Zeit geht, dass sie sich zeitgemäßer Methoden bedient und dass sie jung und
modern und attraktiv sein müsse, wenn sie bei jungen, modernen Leuten auf
Resonanz stoßen wolle. Man muss doch der christlichen Botschaft eine
ansprechende Verpackung geben, die Leute abholen, wo sie sind, darf doch die
Leute nicht abschrecken, muss doch weg vom verstaubten Kirchenimage, man darf
sich doch nicht als Teil dieser Gesellschaft von ihr absondern, und es spricht
doch nichts dagegen, sich Rat von Fachleuten zu holen und von der Weisheit der
Welt zu lernen.
Mein erster Einwand richtet sich gegen das "Jungsein". Die Kirche hat
2.000, streng genommen 3.500 Jahre auf dem Buckel, und dieses Alter kann und
sollte sie nicht verleugnen. Wer alt ist, aber auf jugendlich macht, macht sich
lächerlich. Und junge Leute brauchen nichts weniger auf der Welt als Alte, die
sich jung schminken und mit ihnen um den Popanz Jugendlichkeit konkurrieren. Und
sie brauchen nichts mehr als Weisheit und Erfahrung und Gelassenheit und die
Reife des Alters.
Mein zweiter Einwand richtet sich gegen die zeitgemäßen Methoden. Ich will
nicht eine der Zeit angepasste Kirche, sondern eine Kirche auf der Höhe der
Zeit. Kirche kann nur Kirche bleiben, wenn sie der Kirche gemäße Methoden
anwendet. Die meisten der heute in der Wirtschaft angewandten Methoden sind
wirtschaftsgemäß, aber nicht kirchengemäß. Kirche und Wirtschaft sind zwei völlig
verschiedene Dinge, die sollte man nicht vermengen.
Die christliche Botschaft hübsch verpacken, das ergibt automatisch eine
Mogelpackung, denn die christliche Botschaft war noch nie zeitgemäß, ist es
nicht und wird nie zeitgemäß, sondern immer anstößig und quer zum Mainstream
sein. Kirche, die mit dem Strom schwimmt, dem jeweils herrschenden Zeitgeist
keinen Widerstand mehr entgegensetzt, brauchen wir nicht, da kann ich gleich zu
Hause bleiben und fernsehen.
Dritter Einwand: Die Kirche soll modern sein. Das ist nun das größte
Selbstmissverständnis. Es verkennt den grundlegenden Unterschied zwischen
modern und bloß modisch.
Wenn heute ein junger Pfarrer mit Ring im Ohr und lila und grün gefärbten
Haaren Techno-Rhythmen im Gottesdienst einsetzt, dann gilt er als modern. Und er
selber stilisiert sich vielleicht sogar hoch oder lässt sich hochstilisieren
zum "Querdenker". In Wahrheit ist das aber nicht modern, sondern nur
bloß modisch, trendy und zeitgeistig, und damit liegt der Pfarrer nicht quer,
sondern stromlinienförmig im Mainstream.
Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich habe nichts gegen Techno im
Gottesdienst, nichts gegen Ringe in Pfarrersohren, und die Farben lila und grün
passen gut zu unserer protestantisch-feministischen Kirche, ich bin nur dagegen,
solche Konzessionen an die gerade herrschende Mode mit Querdenkertum zu
verwechseln.
Man kann all diese modischen Sachen machen, man kann eine virtuelle Kirche im
Internet errichten, man kann Öffentlichkeitsarbeit betreiben, sich allerlei
Events ausdenken, kann die Pirouetten der Werbeleute mitmachen, die Litfasssäulen
zukleistern, das nützt wahrscheinlich nicht viel, schadet aber auch kaum, außer
dass es halt Geld kostet. Was aber schadet, was die Kirche zerstören wird, ist
die Neudefinition des Kirchenmitglieds als Kunden.
Wer das tut, der muss sich über eines im klaren sein: Wenn er mich als Kunden
anspricht, dann ver-halte ich mich auch wie ein Kunde, nämlich ökonomisch. Das
heißt: ich versuche möglichst viel zu bekommen und dafür möglichst wenig zu
geben. Das ist - nebenbei - die genaue Umkehr dessen, was Jesus wollte. Der
wollte von mir das Maximum, nämlich mein Leben. Und was er mir dafür zu bieten
hatte, das war das Kreuz, Hohn, Spott und Verfolgung. Selbstverständlich
erscheint so etwas dem durchschnittlichen, normalen Zeitgenossen als der Gipfel
der Verrücktheit.
Ich verstehe daher, dass die Pfarrer und Bischöfe unter dieser Verrücktheit,
diesem ökonomischen Unsinn leiden. Aber auf diesem "Unsinn", dieser
Torheit des Kreuzes gründet die Kirche. Als Jesus am See Genezareth Petrus
fischen sah, sagte er: Folge mir nach. Er sagte nicht: Hey, ich geb heut' abend
eine coole Party, das ist der Event des Jahres, komm' doch heut' abend mal
vorbei, wenn du gerade Zeit hast, sondern er sagte: Hör' jetzt auf zu fischen,
sofort, fische überhaupt nie mehr, häng' deinen Beruf an den Nagel und folge
mir in eine ungewisse Zukunft. Und Petrus, dieser Verrückte tut das.
Jeder Vernünftige sagt sich: Das kann nicht gut gehen. Und es ging ja auch
nicht. Die Sache endete am Kreuz, zuerst für Jesus, später für Petrus. Die
Vernünftigen haben also recht. Aber: Der verrückte Entschluss des Petrus,
seine sichere Existenz aufzugeben, hat die Existenz von Generationen von
Pfarrern und Bischöfen bis heute gesichert, und neuerdings wird damit sogar die
Existenz von Unternehmensberatern gesichert.
Deren teurer Rat fängt jetzt an, auf die Gemeinden durchzuschlagen. Bevor ich
schildere, wie sich diese Ratschläge der Berater in der Praxis auswirken, will
ich Ihnen wieder eine Geschichte erzählen.
Als ich ein Kind war, hat mir meine Mutter, eine einfache Bäuerin, drei
Sorten von Geschichten erzählt: unwahre, halbwahre und wahre. Die unwahren, das
waren die Märchen. Sagen und Legenden zählten zu den halbwahren, und die
biblischen Geschichten, die konnte man glauben, denn das in ihnen Berichtete ist
wirklich passiert.
Diese Geschichten waren meine eigentliche frühkindliche Literatur. Sie waren
viel wichtiger als die Märchen und Sagen, nicht nur wegen ihres von mir
geglaubten hohen Wahrheitsgehaltes, sondern auch, weil sie am besten zu dem dörflich-protestantischen
Milieu passten, in dem ich aufwuchs.
Vieles erlebte ich ähnlich wie Ulla Hahn es in ihrem autobiografischen Roman
"Das verborgene Wort" beschrieben hatte. Sie erzählt darin ihre
Kindheit in einem rheinisch-katholischen Dorf. Sie heißt in dem Roman Hilla und
ist das Kind eines bildungsfeindlichen, sprachlosen Hilfsarbeiters, und gegen
diesen Vater muss sie sich ihre Bildung ertrotzen. Ihr Pech, in eine ungebildete
Familie hineingeboren zu werden und in der geistigen Enge eines kleinen
katholischen Dorfes der 50er Jahre aufwachsen zu müssen, war zugleich ihr Glück,
denn es gab eine funktionierende katholische Infrastruktur.
Manchem mag das ein zweifelhaftes Glück erscheinen, war es auch, aber weil ihr
Milieu katholisch war, hatte Hilla eine katholische Großmutter. Sie brachte dem
Kind das Beten bei, kaum dass es Wauwau, Bäbä und Hamham sagen konnte.
"Lieber Jott mach misch fromm, dat ich in dä Himmel komm." Das Kind
liebte diesen Vers, nicht so sehr seines Inhaltes wegen, den es kaum verstand,
sondern um des Reimes willen, wegen der Sprachmelodie, seines magischen Klangs,
weil er sich anhörte wie ein Zauberspruch. Das dadurch erweckte Gefühl für
Reim und Rhythmus ließ das Kind nach weiteren Sprüchen gieren, und die Großmutter
brachte ihr gerne viele weitere Gebete und fromme Reime und Heiligensprüche
bei.
Im Religionsunterricht und in der Kirche lernte sie das "Vater unser",
das Glaubensbekenntnis, die Mantras der Litaneien und Liturgien, Kirchenlieder,
viele Texte von hoher sprachlicher Qualität. In der Kirche berauscht sie sich
am Klang des Lateins, der "Sprache Gottes".
"Die Kirche war in so einer armseligen Dorfgemeinschaft der Kulturträger",
sagte Ulla Hahn in einem Spiegel-Interview. "Wo habe ich zum ersten Mal
einen schönen Raum gesehen, Überfluss, schöne Gewänder, Kerzen? Wo zum
ersten Mal Musik gehört? Worte, die nicht nur zum Schimpfen da waren? In der
Kirche. Das war ungeheuer wichtig."
Das, was Ulla Hahn da im Spiegel-Interview gesagt hat, hätte auch ich sagen können.
Auch ich hatte so eine ähnliche Kindheit, allerdings in der protestantisch-fränkischen
Variante. Die ersten Reime, an die ich mich erinnere, lauten: "Mit Gott
fang an, mit Gott hör' auf, das ist der schönste Lebenslauf."
Die Worte des Glaubens hatten aber noch mehr Wirkungen. Ich habe wirklich
geglaubt, dass Jesus über Wasser laufen konnte. Ich habe geglaubt, dass er den
Sturm gestillt, Kranke geheilt, Wasser in Wein verwandelt und Tote auferweckt
hat. Auch mir wurde erzählt: Der liebe Gott sieht alles. "Wo ich bin, und
was ich tu, sieht mir Gott, mein Vater, zu", lautete der Spruch dafür.
Aber im Gegensatz zu vielen anderen Müttern, die ihren Kindern damit ein Straf-
und Aufpasser-Gottesbild einpflanzten, hat meine Mutter dieser Sache eine ganz
andere Wendung gegeben. Er muss alles sehen, damit er dich beschützen kann,
sagte sie. Er sieht dann zwar auch, was du alles anstellst, aber erstens vergibt
er dir, wenn du es hinterher bereust, und zweitens kann er bei kleinen Jungens
auch mal fünfe gerade sein lassen. Kinder müssen lernen, und zum Lernen gehört,
dass man Fehler macht, aus ihnen lernt man am meisten, und darum dürfen Kinder
Fehler machen. Darum sind sie aber auch immer gefährdet, und deshalb muss der
liebe Gott auf Kinder besonders gut aufpassen.
Der liebe Gott war mir daher tatsächlich ein lieber Gott, ein Übervater, kein
Kontrolleur, kein Angstmacher, sondern ein Beschützer, ein gütiger Großvater,
mit dem ich ständig in Kontakt stand, mit dem ich wortlos betend alles
besprach, was es zu besprechen gab.
Als der Vater eines Freundes von mir wegen eines Herzinfarktes ins Krankenhaus
kam, betete ich für ihn. Erfolgreich. Der Mann blieb noch viele Jahre fröhlich
am Leben, und immer, wenn ich ihm begeg-nete, dachte ich bei mir: Wenn du wüsstest,
wem du das zu verdanken hast.
Dass Gott meine Existenz wollte, er mich mit meinem Namen kennt, auf mich
schaut, und mit mir etwas vorhat, war für mich ein selbstverständliches
Faktum, schließlich kennt er jeden Erdenwurm persönlich. Jesus hat es doch
selbst gesagt, und meine Mutter hat mir die Stelle in der Bibel gezeigt: Kein
Spatz wird von Gott vergessen, und die Haare auf deinem Kopf sind gezählt ,
dein Schicksal lässt Gott nicht gleichgültig, deshalb kümmert er sich um
dich. Weil ich dieser Zusage glaubte, war ich ein vor Selbstbewusstsein
strotzendes Kind. Und weil ich wusste, dass Gott stets seine schützende Hand über
mich hält, kannte ich als Kind keine Angst - Furcht in konkreten Situationen
schon, aber auch in solchen Situationen sagte ich mir: Du musst dich jetzt gar
nicht besonders fürchten, denn entweder haut dich der liebe Gott hier raus oder
aber er braucht dich im Himmel, dann musst du halt jetzt sterben, das wird schon
so schlimm nicht werden.
Mein Kinderglaube von damals ist heute weg. Aber die Angstfreiheit und das - wie
meine Frau zu spotten pflegt - "durch nichts gerechtfertigte
Selbstbewusstsein" sind mir bis heute geblieben. Diese "wahren
Geschichten" aus der Bibel haben in mir so etwas wie einen unzerstörbaren
Kern geschaffen.
Gerne würde ich dieses Gottvertrauen auch an meine Kinder weitergeben. Geht
aber nicht mehr, mein Kinderglaube ist weg, zu einem Erwachsenenglauben habe ich
nie gefunden, für den Atheismus hat's aber auch nicht gereicht, sondern nur zum
Agnostizismus. Kann sein, dass nach dem Tod für immer alles vorbei ist, kann
sein, dass Gott überhaupt nicht existiert. Kann aber auch sein, dass er
existiert und am Ende unseres Lebens eine Überraschung für uns parat hat.
Ich halte diese Frage in der Schwebe. Sie entspricht am ehesten meiner eigenen
Überzeugung. Aber die Kraft, mit der ich als Kind von den biblischen
Geschichten vollgepowert wurde, diese Kraft kann ich für unsere Kinder aus
diesen Geschichten nicht mehr herausholen.
Aber ich will nicht vergessen: Ich wäre nicht der, der ich geworden bin, wenn
es in meinem fränkischen Dorf nicht einen Pfarrer, eine Gemeinde und die damit
verbundene Infrastruktur gegeben hätte. Ich blicke dankbar auf meine Kindheit
zurück, und aus diesem Dank heraus, und weil ich will, dass jedes Dorf seine
Kirche und seinen Pfarrer haben soll, bleibe ich in der Kirche und zahle gerne
meine Kirchensteuern.
Nun höre ich aber von verschiedenen Seiten, zum Beispiel aus der
Landeskirche Hannover, oder auch aus Mecklenburg, dass auf den Rat der
Unternehmensberater hin jetzt Pfarrstellen gestrichen und Gemeinden
zusammengelegt werden, und zwar unter dem Stichwort
"Regionalisierung".
Ortsgemeinden solle es auch noch geben, aber von Ehrenamtlichen geleitet.
Hauptamtliche sollten nur noch übergemeindlich in der Region tätig sein,
Pfarrer brauche man nur noch für die lokale "Grundversorgung".
Das Einsparen von Pfarrstellen würde man in den Gemeinden nicht merken, denn
durch .,Kooperation in der Region" entstünden "Synergieeffekte".
So könne der Konfirmandenunterricht im Kurssystem gehalten werden. Jede
Mitarbeiterin hat ein Thema, mit dem sie herumreist und die Gruppen in der
Region unterrichtet. Jede Pfarrerin, jeder Pfarrer macht im Monat nur noch eine
Predigt und hält sie vier Mal an verschiedenen Orten in der Region.
Die Osterpredigt wird dann also zum letzten Mal kurz vor Pfingsten gehalten, die
Weihnachtspredigt kurz vor dem Beginn des Karnevals.
Beim Wort "Synergieeffekte" werde ich hellhörig. Mit Synergieeffekten sind während der zweiten Hälfte der 90er Jahre die großen Unternehmensfusionen begründet worden. Edzard Reuter war einer der ersten, der den Umbau von Mercedes zu einem integrierten Auto-, Rüstungs- und Technologiekonzern mit Synergieeffekten begründet hat. Als Reuter ging, musste Mercedes zum ersten Mal in der Firmengeschichte Mitarbeiter entlassen, und Mercedes hatte einen gigantischen Verlust von fünf Milliarden Mark in den Büchern stehen. Dann kam Herr Schrempp, zerschlug den Konzern, aber nur, um auch wieder um irgendwelcher Synergieeffekte willen zu fusionieren, diesmal mit Chrysler. Seitdem frisst Chrysler die Gewinne auf, die Mercedes erwirtschaftet. Anscheinend besteht darin der Synergieeffekt. Und bei vielen anderen Großfusionen der 90er Jahre läuft es ebenso.
Wenn ich das Wort "Regionalisierung" höre, dann erinnere ich mich
an die Gemeindegebietsreform in Bayern vor rund 30 Jahren. Ich wohnte damals in
meinem fränkischen Dorf, und das war politisch eine selbstständige Gemeinde
mit einem eigenen Bürgermeister und Gemeinderat, die von den Dorfbewohnern
direkt gewählt wurden. Durch diese politische Selbständigkeit herrschte in dem
Dorf eine Verwaltung der kurzen Wege. Hatte man ein neues Auto anzumelden, ging
man zu Fuß zum Bürgermeister, holte sich die Nummernschilder ab, und abends
brachte einem der Bürgermeister den Kfz-Brief und den Schein persönlich
vorbei.
Samstags kehrte man die Straße. Wenn irgendwo ein Wasserrohrbruch war, wusste
man sofort, wer ihn schnellstens beheben kann. Wenn eine Dorflaterne nicht
brannte, sagte man es abends dem Bürgermeister oder Gemeindediener im
Wirtshaus, und am nächsten Morgen wurde die Lampe ausgetauscht. Wenn dem Zaun
ums Feuerwehrhaus eine Latte fehlte, hat sie derjenige, dem das Fehlen auffiel,
einfach wieder eingesetzt. Kurz und gut: Man fühlte sich in seinem Dorf für
das Dorf verant-wortlich.
Dann kam die Gebietsreform, das Dorf wurde Stadtteil und Vorort, und plötzlich
fühlten sich die Leute nicht mehr so verantwortlich für ihr Dorf, denn dafür
war ja jetzt die Stadt zuständig. Man kehrte samstags nicht mehr die Straße,
weil alle zwei Wochen die Kehrmaschine der Stadt kam. Wenn die Dorflaterne nicht
mehr brannte, brannte sie längere Zeit nicht mehr, weil niemand genau wusste,
wo in der Stadt man anrufen sollte, und außerdem war's ja wurscht, das ging
einen jetzt ja nicht mehr so viel an, weil es ja jetzt eine Angelegenheit der
Stadt ist.
Diese Gebietsreform ging einher mit der zunehmenden Motorisierung, was dazu führte,
dass man für größere Einkäufe mit dem Auto in die Stadt fuhr. So
verschwanden aus dem Dorf die Tante-Emma-Läden, Bäcker und Metzger. Wirtshäuser
machten dicht und Handwerksbetriebe schlossen.
Und nun will auch noch die Kirche die Dörfer verlassen, will die vor 30 Jahren
gemachten Fehler wiederholen und kommt sich dabei modern vor. Es ist aber nicht
modern, wenn jetzt jede einzelne Gemeinde ihre Existenzberechtigung nachweisen
muss. Wenn irgend jemand in der Kirche keines Nachweises seiner
Existenzberechtigung bedarf, dann ist das die Gemeinde. Und wer zu beweisen hat,
dass seine Existenz für die Kirche unbedingt nötig ist, das sind Regionalbischöfe,
Bischöfe, Landeskirchenämter und Stabsstellen für Öffentlichkeitsarbeit. Die
Urkirche hat sich aus Gemeinden entwickelt und ist bestens ausgekommen ohne all
diese Häuptlinge und Wasserkopf-Bürokratien. Die Kirche kann auf Landeskirchenämter
und Stabsstellen für Öffentlichkeitsarbeit und auf vieles andere verzichten,
aber nicht auf Gemeinden.
Und darum halte ich es für grundverkehrt, bei den Gemeinden zu sparen und das
eingesparte Geld für neue Planstellen in den Landeskirchenämtern zu
verpulvern. Wenn gespart werden muss, dann muss oben angefangen werden, nicht
unten.
In meiner Kirche geschieht nun das Gegenteil. Unten werden Pfarrersstellen
eingespart, damit oben für alberne Plakataktionen mehr Geld zum Fenster
hinausgeworfen werden kann.
Ein weiteres Wort, das von den Unternehmensberatern in die Kirche geschleust
wurde, ist das Wort Professionalisierung, in unserer Zeit ein Hochwertwort. Wenn
heute jemand einen sehr guten Job macht, dann sagt man anerkennend, das ist halt
ein Profi.
Und tatsächlich denke auch ich manchmal, wenn ich so in meine Kirche hineinsehe
und hineinhöre, ein bisschen weniger Stümperei wäre schon gut. Ein paar
Profis wären schon recht.
Aber was genau ist ein Profi? Ein Profi nimmt Niederlagen nicht persönlich,
sondern sportlich. Er sieht von moralischen Grundsätzen ab. Er tut, was er tut,
für Geld, das aber möglichst gut und mit ruhiger Hand. Das ist sein Ethos, und
das sollten wir schon deshalb nicht abwerten, weil wir im Zweifelsfall den
zynischen Profi dem laienhaften Gutmenschen vorziehen, zum Beispiel, wenn wir
eine lebensgefährliche Operation über uns ergehen lassen müssen.
Wir hätten zwar gern, dass unserem Chirurgen etwas an uns liegt. Statt dessen
sind wir ihm völlig gleichgültig, sind wir für ihn nichts weiter als eine
Lunge, eine Leber oder ein Meniskus. Während er uns operiert, erzählt er den
Schwestern und Assistenten Witze, macht sich vielleicht sogar lustig über uns
und verrichtet gleichgültig-routiniert seinen Job. Er ist halt ein Profi. Wäre
er kein Profi, wäre er ein Menschenfreund, ein Gutmensch, dann bangte er um
unser Leben, er risse keine Witze, sondern seine Hände würden zittern vor
Aufregung, und vielleicht schnitte er deshalb daneben. Deshalb begeben wir uns,
wenn wir schon wählen müssen, dann doch lieber unters bewährte Messer des
Zynikers, dem zwar unser Schicksal gleichgültig ist, nicht aber sein
berufliches Fortkommen und sein Ansehen unter Kollegen und Hilfspersonal, und
der unser Überleben als sportlichen Erfolg verbucht.
Profis haben also durchaus ihre Existenzberechtigung, Professionalisierung hat
einen Sinn, auch in der Kirche, aber dennoch, an meiner Beschreibung des Profis
haben Sie erkannt: Das ist ein durchaus ambivalenter Begriff.
Einer, der es für Geld tut, der nicht nach dem Sinn seines Tun fragt, der sich
nicht für die Folgen seines Tun interessiert, der einfach nur seinen Job gut
machen will, so einer ist nicht weit entfernt von jener Liebesdienerin, die gern
auch als "Professionelle" bezeichnet wird.
Und weil das so ist, muss man es schon kritisch sehen, wenn ausgerechnet in der
Kirche nach Professionalisierung gerufen wird, ausgerechnet in unserer
protestantischen Kirche, die auch aus einem Protest gegen die klerikalen Profis
der römischen Kirche entstanden ist. Es war Luther, der den kirchlichen Laien
in sein Recht gesetzt hat.
So, wie es durchaus vernünftig ist, dass beispielsweise die Profis der
Bundeswehr oder der Polizei von Zivilisten, also Laien, geführt werden, so ist
es vernünftig, dass die Kirche von Laien mitgeführt wird, denn Profis werden
irgendwann betriebsblind, entwickeln sich zu blind funktionierenden
Apparatschiks, stellen sich selbst und ihr Tun nicht mehr in Frage.
Das betrifft übrigens auch und besonders die Profis von den
Unternehmensberatungen. Sie sind so durchdrungen von der Vernünftigkeit des Ökonomischen,
dass sie blind geworden sind für den totalen Herrschaftsanspruch der Ökonomie.
Sie vermögen in mir nur einen weltfremden Schriftsteller zu sehen, der nur
deshalb so dumm daherredet, weil er von Wirtschaft nichts versteht. Auch Pfarrer
wer-den so gesehen, deshalb entwickeln manche Manager und Berater einen geradezu
missionarischen Ehrgeiz, den Pfarrern die Wirtschaft zu erklären. Dass auch sie
etwas von den Pfarrern lernen könnten, auf diese Idee kommen sie gar nicht
mehr.
Das ist mir bewusst geworden, als mir ein Unternehmer stolz berichtet hat, dass
er jetzt auch Theologen, Philosophen und Sozialethiker beschäftigt, weil er die
Werte, also ethische Normen, als "wertvolle Ressource" für sein
Unternehmen entdeckt hat. Dieser Unternehmer kam sich ganz besonders gebildet,
modern und aufgeschlossen vor, und war aufgrund seiner unbewussten Gleichsetzung
von Vernunft und Ökonomie prinzipiell unfähig zu verstehen, dass er die Werte,
die er wertzuschätzen glaubte, gerade dadurch zerstört, dass er versucht, sie
für die Zwecke seines Unternehmens zu nutzen. Er wollte über das Unverfügbare
verfügen. Sein Verwertungsinteresse ist so total, dass sogar ehemals heilige
Werte diesem Interesse untergeordnet werden. Eben darin besteht der neue
Wirtschafts-Totalitarismus.
Und eben darum brauchen wir in der Kirche nur in begrenztem Maße eine
Professionalisierung, aber in größerem Maße eine weitere Laisierung.
Aber die Unternehmensberater raten zum Gegenteil. Wer kirchlich Randständige
wieder mehr an sich binden will, muss professionelles Kundenmarketing betreiben,
sagen sie.
Dazu kann ich als kirchlich Randständiger nur sagen, mich kriegt ihr damit
nicht, im Gegenteil, mich treibt ihr damit noch weiter aus der Kirche hinaus.
Nun lautet das Kalkül: Dich altmodischen ewiggestrigen Betonkopf mögen wir
verlieren, aber wenn wir dafür zehn junge Leute kriegen, verzichten wir gern
auf dich.
Geht diese Rechnung auf? Schon die Erwartung, dass man zehn neue Mitglieder
gewinnt, ist überzogen. Aber gut, wenn es nur drei wären, wären es immer noch
zwei mehr. Also lohnt sich's, oder?
Nein, es lohnt sich nicht, denn was oder wen man mit Marketingmethoden gewinnt, ist doch klar: Es ist der Konsumbürger. Wenn ich sage: Kommt zu mir, hier gibt's was zu konsumieren, einen Event, etwas fürs Herz, für den Kopf oder den Bauch, dann kommen die, die konsumieren wollen, die Passiven, die betreut werden möchten, die etwas geboten bekommen wollen, und dann muss ich beständig dafür sorgen, dass sie wieder kommen, und dabei wird man merken, dass dieser Kunde von heute verwöhnt ist, schwer zufriedenzustellen, flatterhaft, untreu und oberflächlich. Der kauft heute hier, morgen dort, will heute dies und morgen das. Einen Laden, der nur ein einziges Produkt im Angebot hat, findet dieser Kunde von vornherein schon mal so was von daneben, dass er ihn gar nicht erst betreten wird.
Der moderne Sinn-Nachfrager von heute möchte bitteschön, wie überall, aus
einem großen Sortiment auswählen können, und darum tut die Kirche gut daran,
in ihren christlichen Spezialitätenhandel auch islamische, sufistische,
buddhistische und esoterische Produkte aufzunehmen. Und das eigene originäre
Angebot muss beständig umdesignt, den wechselnden Bedürfnissen des Marktes
angepasst werden.
Zugegeben: Es gibt heute eine breite Akzeptanz von Marketing als einer
Selbstdarstellungsform im öffentlichen Leben. Heute glaubt jeder und jede: Wer
die Gesetze des Marketings nicht beachtet, wer meint, solcher Mittel nicht zu
bedürfen und nicht mitspielen zu müssen, wird nicht mehr wahrgenommen. Wer
nicht mehr wahrgenommen wird, kann gleich einpacken.
Jedoch: Wer mitspielt, akzeptiert die Spielregeln, unterwirft sich dem System.
Spielt die Kirche nun auch mit, unterwirft auch sie sich dem System. Dass sie
das tut, aus Angst nicht mehr wahrgenommen zu werden, ist verständlich, aber
falsch, und die Kirche weiß das. Sie weiß, wem sie sich zu unterwerfen hat.
Aber soll sie sich der Gefahr aussetzen, endgültig nicht mehr wahrgenommen zu werden?
Ja, genau das soll sie. Sie hat gar keine andere Wahl, und die Gefahr, nicht
mehr wahrgenommen zu werden, wird ohnehin jeden Tag kleiner. Allmählich tritt nämlich
der Stadioneffekt ein, und der geht so: Wer auf der Tribüne eines Fußballstadions
sitzt, sieht viel besser als alle anderen, was gespielt wird, wenn er einfach
aufsteht. Damit wirft er jedoch einen kegelförmig sich ausbreitenden Schatten
auf die Leute hinter ihm, was diese zwingt, ebenfalls aufzustehen, um wieder
besser zu sehen. Die Aufstehenden zwingen ihrerseits die Leute hinter ihnen zum
Aufstehen, so dass nach kurzer Zeit die ganze Tribüne steht. Jeder sieht jetzt
wieder genau so gut oder schlecht wie vorher und wie die Zuschauer auf den
billigen Stehplätzen, hat aber teurer dafür bezahlt und muss nun stehen.
Dieser Stadion-Effekt wird über kurz oder lang auch das Marketingspiel beenden.
Wenn heutzutage jeder Depp glaubt, sich als Marke profilieren zu müssen, dann
mag er heute kurzfristig noch ein paar Vorteile für sich verbuchen können,
aber schon morgen werden sich die Millionen einzelner Marketing-Anstrengungen
gegenseitig aufheben. Je mehr Produkte, Dienstleistungen, Organisationen,
Institutionen und Personen mit den Mitteln des Marketings gegeneinander
konkurrieren, desto langweiliger, austauschbarer und wirkungsloser werden sie.
Und desto interessanter und unverwechselbarer werden die wenigen, die nicht
mitmachen, sich außerhalb des Systems stellen und es damit kritisieren und in
Frage stellen.
Wer trotzdem meint, die Kirche umbauen zu müssen zum Eventveranstalter und zum
Supermarkt der Sinnangebote, kann sich derzeit noch für modisch, cool, geil,
genial und total von heute halten. Aber schon morgen wird er von gestern sein,
denn echt modern und nicht bloß modisch, zeitgeistig und mainstreamig, das ist
etwas anderes.
Echt modern sind viele alte, scheinbar altmodische Geschichten, wie sie in der Bibel stehen. Und man müsste nur einmal die in diesen alten Geschichten enthaltenen Lösungen mit denen vergleichen, die heute als erfolgversprechend gelten, um als kirchlicher Öffentlichkeitsarbeiter und Eventveranstalter ins Grübeln zu kommen.
Stellen Sie sich beispielsweise vor, da hätte jemand vor 2.000 Jahren die
Aufgabe bekommen, ein neues religiöses Unternehmen aus dem Boden zu stampfen -
wo hätte ein von Mc Kinsey Beratener dieses Projekt verwirklicht? Natürlich in
Rom.
Der liebe Gott in seiner Ahnungslosigkeit hatte sich jedoch als
Religions-Standort ein Kaff namens Nazareth ausgesucht - nach allen
Management-Kriterien eine katastrophale Fehlentscheidung. Der Berater, der sich
so etwas Verrücktes hätte einfallen lassen, wäre sofort gefeuert worden.
Welches Personal hätte er eingespannt, um sein Projekt öffentlichkeitswirksam
zu inszenieren? Natürlich den Kaiser von Rom, die Senatoren, die schönsten
Frauen von Rom, die Dichter, Philosophen, die Gladiatoren und als Staffage die
Legionen des Kaisers. Der liebe Gott dagegen entschied sich, wieder-um höchst
unprofessionell, für einen armen unbekannten Zimmermann und dessen Verlobte.
Und Gott fehlte offenbar jegliches Gespür für Glamour, Show, Marketing und Öffentlichkeitsarbeit,
denn er ließ die Frau des Zimmermanns in einem Stall gebären, weitab vom
Weltgeschehen, in Gesellschaft von hinterwäldlerischen Hirten, Schafen, einem
Ochsen und einem Esel - der Yuppie wendet sich mit Grausen. Jeder
Nadelgestreifte hätte sofort gesagt: Vergiss es, daraus kann nie etwas werden.
Und wie war das, als der Prophet Samuel in Gottes Auftrag als
"Headhunter" durch Israel reiste, um den Posten des Königs zu
besetzen? Sieben Söhne führt ihm Isai vor, einer tüchtiger als der andere,
aber an den achten, David, hat keiner gedacht. Den jüngsten und kleinsten, den
nach allen herkömmlichen Maßstäben falschen Mann, der zur falschen Zeit am
falschen Ort die Schafe hütet, den will Gott als König haben.
Auf wen baut Jesus seine Kirche? Auf Petrus, diesen wackeligen Fels, der seinen
Herrn verraten hatte, noch ehe der Hahn zum ersten Mal krähte.
Und als geld-, macht- und sexgeile Päpste im Mittelalter die Kirche moralisch
immer weiter heruntergewirtschaftet, aber gleichzeitig eine prunkende Macht
entfaltet hatten, wer hat sich diesen prunk-süchtigen Herrschern und
Blutsaugern in den Weg gestellt? Ein kleines, feistes, grobschlächtiges Mönchlein
aus einer deutschen Provinz. Ein absoluter Nobody namens Martin Luther war es,
der die verkommene Weltmacht erbeben ließ.
So unprofessionell, so bar jeglicher Marketingstrategie, war Gott von Anfang an. Als er sich sein Volk erwählte, da herrschte an tüchtigen Völkern kein Mangel. Er hatte die Wahl unter Römern, Griechen, Ägyptern, Babyloniern, Hethitern, Phöniziern und Chinesen. Aber für wen entschied er sich? Für keinen der Sieger, sondern für die Fronarbeiter in den Steinbrüchen Ägyptens, für die Steineklopfer, die den Ägyptern ihre Pyramiden bauten. Diese kleine, ängstliche, zittrige, nervöse Loser-Truppe aus bunt zusammengewürfelten Völkern führte er aus Ägypten heraus in die Freiheit, mit ihnen schloss er einen Bund in der Wüste am Berg Sinai. Mehr als einmal erwiesen sich diese Bündnispartner als Luschen und Versager. Immer wieder ist er von ihnen enttäuscht worden, und dennoch hat Gott seinen Narren gefressen an diesen Jammerlappen.
Ökonomie im Reich Gottes sieht eben doch ein bisschen anders aus als im
Reich der over-designten Berater-Büros. Die größte Leistung im Reich Gottes
bringen regelmäßig jene Schwächlinge, die sich in ihrer Schwachheit ganz der
Führung Gottes anvertrauen und sich von ihm als Werkzeug benutzen lassen. Gott
braucht keine Siegertypen, keine PR und keine Events, die ihm zum Erfolg
verhelfen, sondern umgekehrt ist es: Gott will Verlierern zum Sieg verhelfen.
Und wenn die Kirche und ihre Gläubigen dies geschehen ließen, dann würden
nicht die Manager in die Kirche einsickern und diese falsch polen, sondern dann
würden Pfarrer und Gläubige in die Wirtschaft einsickern und diese richtig
polen.