„Mentalitätswandel“ auch bei der Kirchenleitung? Weitere Anfragen zum EKD-Impulspapier vom Juli 2006 : „Kirche der Freiheit“ 1. Vehement wirbt das EKD-Impulspapier für einen umfassenden Mentalitätswandel in allen Bereichen der Evangelischen Kirche in Deutschland. Und in der Tat kann Pastor Klaus Weber in seinem sehr informativen Vorstandsbericht vom 25.09. 2006 dann auch als offensichtliche Stärke des Impulspapiers mehrere Aspekte eines Mentalitätswechsels bei der Kirchenleitung selbst benennen: ermutigende Wachstumsperspektive statt des bisherigen Minimierungsfatalismus, entschlossene Anerkennung der zuvor leider oft bezweifelten Schlüssel- und Leitungsfunktion des Pfarramtes, erstaunliche Wiederentdeckung der lange Zeit unterschätzten Bedeutung gemeinde-pfarramtlicher Kasualien, unterproportionale Kürzung von Pfarrstellen bis 2030! Diese Positivliste kirchenleitenden Mentalitätswandels ist gerade aus pastoraler Sicht noch um einen wichtigen Aktivposten zu erweitern: den EKD-Verweis auf das „Good-Practice“- Prinzip! Gewiss ein weiteres Zeichen für eine veränderte Grundhaltung der Kirchenleitung: Denn „good practice“ kann doch nur heißen, kirchliche Zukunftsgestaltung ist nun nicht mehr durch immer wieder neue theoretische Vorgaben oder konsistoriale Setzungen zu verordnen, sondern durch beharrliche Identifizierung und geduldige Übertragung von nachahmenswerten Modellen kirchlichen Handelns anzustreben. An einem solchen Such- und Übertragungsprozess sollten PfarrerInnen mit ihrer Kenntnis von zahlreichen Beispielen gelingender pastoraler Gemeindepraxis intensiv teilnehmen. 2. Neben diesen begrüßenswerten Hinweisen auf einen deutlichen Mentalitätswandel entdeckt Klaus Weber gleichzeitig bedauerliche Anzeichen einer fehlenden Einstellungsveränderung der Kirchenleitung. Und hier ist Webers ausführliche und grundlegende Kritik am EKD- Impulspapier doch noch etwas zu ergänzen - vor allem im Hinblick auf das problematische Pfarrerbild und die eigenartigen Argumente des Papiers. Sehr hilfreich ist dabei ein genauerer Blick auf die EKD-Mitgliedschaftsbefragungen. 2.1 Problematisches PastorInnen-Bild der Kirchenleitung Das EKD-Impulspapier attestiert der PastorInnenschaft eine ‚geistliche und mentale Orientierungskrise’, eine ‚separatistische’ Selbst- und Gemeindebezogenheit bei fehlender Identifizierung mit der Gesamtkirche, eine „überzogene Autonomievorstellung“ etwa als „Bezirkspapst“ oder „eigener Bischof“, einen Mangel an Professionalität und „ein Schwinden ihrer Amtsautorität“. Verwundert fragt man sich, wie die Kirchenleitung zu solchem negativen PastorInnen-Bild wohl komme. Die Antwort steht auf Seite 50 des Impulspapiers: „Dabei gilt für Kasualien das sogenannte Bahngesetz: „Ein einziger verspäteter Zug beschädigt das Image der Bahn mehr, als fünfzig pünktliche Züge es fördern können. So zieht eine einzige unaufmerksam durchgeführte Trauerfeier einen höheren Imageschaden nach sich, als fünfzig glaubwürdige Trauerfeiern an Imagegewinn hervorbringen können.“ Dieses „kundenorientierte“ Argument leuchtet ein, solange man nicht untersucht, durch wen die Kirchenleitung ihre Kenntnis über „unaufmerksam durchgeführte“ Kasualien vermutlich erhalten hat. Wahrscheinlich hatte sich ein Teilnehmer bei der Kirchenleitung beschwert, gewiss ohne vorher die anderen, vielleicht 100 oder 200 Besucher nach ihrem Eindruck befragt zu haben. So erfährt nun die Kirchenleitung das u.U. ausnahnmslos positive Urteil der Teilnehmer-Mehrheit auf dem Wege des sog. „Bahngesetzes“gerade nicht. Hierzu müsste sie schon ihre eigenen Mitgliedschaftsbefragungen zu Rate ziehen und bei jeder Einzelbeschwerde erneut bedenken, welche hohe Wertschätzung vor allem pfarramtliche Kasualien bei der überwiegenden Mehrheit der Kirchenglieder genießen und welche positive Einschätzung auch die gerade kritisierte Kasualfeier vermutlich mehrheitlich erfahren hat. Wie plausibel diese Überlegungen sind, bewies ungewollt eine Journalistin auf unserem Pfarrertag in Fulda: Sie berichtete von einem für sie als Mutter enttäuschenden Einschulungsgottesdienst, den sie gleich darauf in einem weit verbreiteten evangelischen Wochenmagazin kritisch besprochen habe. Auf Nachfrage räumte sie ein, dass sie natürlich nichts über den Eindruck der anderen Teilnehmer wisse. Womöglich waren diese 149 Besucher sehr zufrieden, doch der negative Eindruck einer Besucherin wird nun millionenfach veröffentlicht und niemand fragt mehr nach den unzähligen, oftmals sehr beeindruckenden Schulanfängergottesdiensten in den 16.000 Kirchengemeinden innerhalb der EKD! Nicht einmal das Schlagwort von der „nur einen Chance der PfarrerIn bei einer Kasualie“ trifft in einer Ortsgemeinde zu: Dort hat eine PastorIn durch ihr pfarramtliches Wirken bei jedem Gemeindeglied viele weitere gute Begegnungs-Chancen, die offensichtlich auch kräftig genutzt werden, wie die EKD-Erhebungen eindeutig belegen. Aus dieser Sicht der Kirchenglieder-Mehrheit - und damit schließlich auch der Mehrheit der Kirchensteuerzahler – ist der EKD-Kirchenleitung darum nur dringend zu raten, sich auf keinen Fall von einer sehr kleinen, aber oft einflussreichen Gruppe kircheninterner PastorInnen-Kritiker – manchmal auch mit klar erkennbarem Eigeninteresse - den Blick auf die hohen pastoralen Sympathiewerte verstellen zu lassen. Darum ist es auch sehr bedauerlich, dass die EKD-Kirchenleitung bei ihrem positiven „Zukunftsbild“ von der PastorInnenschaft einfach jenes strahlende pastorale ‚Gegenwartsbild’ ausblendet, das die überwältigende Mehrheit der Kirchenglieder in den EKD-Studien von 1972-2002 zeichnet: So belegen die sorgfältig erhobenen Befragungsergebnisse der 4. EKD-Erhebung von 2002 noch einmal die ungewöhnlich hohe Wertschätzung pastoraler Arbeit durch die Kirchenglieder-Mehrheit wie sogar noch durch Ausgetretene und Konfessionslose. Danach betrifft die gegenwärtige Relevanzkrise der Kirche (Gemeinde-) PfarrerInnen jedenfalls nicht. Sie haben in Kirche und Gesellschaft weiterhin ein sehr gutes Image. Für die Kirchenglieder sind sie: (a) Hauptadressaten ihrer Erwartungen an kirchliche Arbeit, (b) wichtige kirchliche Sympathieträger, (c) wesentliche Garanten für kirchlich-religiöse Sozialisation, (d) bekannte und anerkannte Repräsentanten der Gemeinden. (a) Kirchenglieder erwarten vor allem pastorale Arbeit: Von den acht meistgenannten Erwartungen an die Kirche zielen mindestens sechs vorrangig auf pastorale Gemeindearbeit: 78 % der Kirchenglieder erwarten die Begleitung durch Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung an den Wendepunkten des Lebens, 73% das Feiern von Gottesdiensten, 72% die Verkündigung der christlichen Botschaft, 68% Räume für Gebete, Stille und inneres Zwiegespräch. Auch die von 77% erwartete kirchliche Sorge um Menschen in sozialen Not-lagen gehört – was oft übersehen wird - in den Kontext pastoraler Gemeindearbeit, wie die pastorale Aufgabenbeschreibung durch die Kirchenglieder eindeutig belegt. Folglich werden auch die 82% der Kirchenglieder, die erwarten, Kirche solle „Alte, Kranke und Behinderte betreuen“, dies nicht nur sozial-diakonischer Arbeit, sondern auch pastoraler Tätigkeit zuordnen. Dieses eindrucksvolle Bild von der zentralen Bedeutung pastoraler Arbeit wird noch einmal durch die konkrete Aufgabenbeschreibung für PastorInnen bestätigt: Kirchenglieder erwarten von PfarrerInnen vorrangig Seelsorge und Verkündigung durch zuverlässige kasuale Lebensbegleitung (79%), Sorge um Menschen in sozialen Notlagen (75%) und ansprechende Gottesdienste (69%). Pastorale Organisationsarbeit wie Werbung und Motivierung ehrenamtlicher MitarbeiterInnen wird deutlich weniger erwartet. (48%). Und die PastorInnen, das zeigen jedenfalls ihre Befragungen, entsprechen diesen Erwartungen der Kirchenglieder nahezu passgenau. (b) PfarrerInnen sind wichtige kirchliche Sympathieträger: Wie sehr Kirchenglieder die bisherige Qualität dieser umfassenden pastoralen Tätigkeit offenbar zu schätzen wissen, zeigt sich allein schon daran, dass 92% von denen, die einen persönlichen Kontakt mit einer PfarrerIn hatten (immerhin 54% aller Kirchenglieder), dabei einen guten und sehr guten Eindruck von ihrer PastorIn erhielten, 0% einen schlechten, lediglich 7% urteilten: „teils-teils“. Ihre ungewöhnlich gute Beurteilung durch die Kirchenmitglieder können PastorInnen kaum selber ‚glauben’: auf meine Frage vermuteten PfarrkollegInnen den Prozentsatz der „PastorInnen-Kritikern“ regelmäßig bei 20 bis 30%! Wenn dieser hohe innerkirchliche Sympathiewert noch weit nach außen in unsere Gesellschaft strahlt und der PastorInnenschaft mit 39% zu einem zweiten Platz im Berufsranking verhilft, und zwar nach den Ärzten, doch noch weit vor Hochschullehrern, Richtern, Managern u.a., die im klaren Abstand mit ca 18 % und weniger folgen, dann ist auch hier zu fragen, warum das EKD-Impuls-Papier die PfarrerInnen lediglich einer beruflichen „Spitzengruppe“ zuordnen will, statt die nun wirklich herausragende gesellschaftliche Stellung der PastorInnenschaft offen - und hoffentlich auch erfreut- zu benennen. Denn gerade angesichts des erheblichen gesellschaftlichen Bedeutungsverlustes der Kirche könnte diese mit ihren pfarramtlichen Sympathieträgern doch kräftig für sich werben! Diese sehr positiven gemeindlichen Erfahrungen mit PfarrerInnen belegen übrigens auch, dass es zwingend notwendig ist, jeder PfarrerIn nur soviele Gemeindeglieder zuzuweisen, wie sie durch ihre zeitintensive und nicht rationalisierbare, aber wirkungsvolle professionell-pastorale Beziehungsarbeit innerhalb eines bestimmten Zeitraumes persönlich erreichen kann. Ein solches Vorgehen sichert den Bestand kirchlicher Organisation weit mehr als jeder Fernsehauftritt und jede Hochglanzbroschüre der Kirchenleitung. Wenn z.B. bis 2030 der württembergischen Landeskirche ein Kirchenglieder-Rückgang von „nur“ 15% , der rheinischen Kirche aber von 33% vorhergesagt wird, dann könnte das gewiss auch mit der sog. „Pfarrerdichte“ zusammenhängen: Im Rheinland muss eine PfarrerIn (statistisch gesehen) gegenwärtig 2.284 Kirchenglieder betreuen, in Württemberg nur 1.558. Auch eine Landeskirche wie Kurhessen-Waldeck zeigt, dass es sinnvoll und erfolgreich ist, wenn ausreichende Geldmittel zum Erhalt von Pfarrstellen eingesetzt werden. (c) PastorInnen sind wichtige Garanten kirchlich-religiöser Sozialisation: Die buchstäblich grundlegende Schlüsselfunktion pastoralen Wirkens kann auch aus dem Beitrag der (Gemeinde-) PastorInnen zur religiösen Sozialisation der Kirchenglieder erschlossen werden: Gefragt nach dem Grad des ‚Einflusses von Medien und Personen auf die Entwicklung ihres Verhältnisses zu Religion, Glauben und Kirche’ geben 83% der Kirchenglieder als wichtigste Personen ihre Eltern, 70% ihre Großeltern und 60% ihre PastorInnen an, die damit an erster Stelle der „Fremdpersonen“ stehen, weit vor LehrerInnen (33%) oder Jugendgruppen- LeiterInnen (26%), ja selbst noch deutlich vor der eigenen LebenspartnerIn (36%). Für die kirchlich-religiöse Sozialisation der Kirchenglieder stimmt darum gerade nicht, was das EKD-Papier auf S. 64 behaupetet: „Ein überzeugender Pfarrer oder eine überzeugende Pfarrerin sind ebenso bedeutsam wie eine glaubwürdige Erzieherin...“ Eine außerordentlich geringe religiöse Sozialisationsbedeutung haben nach Angaben der Kirchenglieder medial vermittelte Einflüsse wie Internet (1%), Radio und Fernsehen (7%), bekannte Persönlichkeiten (10%), Bücher und Zeitschriften (20%). Diese wichtige Erkenntnis sollte auch dazu beitragen, die sehr überschätzte Wirkung kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit realistischer zu beurteilen und der leider oft – selbst im EKD-Papier - wiederholten Behauptung zu widersprechen, viele Menschen fänden heute ihr Verhältnis zur Kirche vorrangig über mediale Vermittlungen. (d) PastorInnen sind bekannte und anerkannte Repräsentanten ihrer Gemeinden: So kennen durchschnittlich 85% der Gemeindeglieder ihre PastorIn, selbst in einer Großstadt wie München sind das noch 69%, wie die Umfragen des „Münchener McKinsey-Projektes“ ergaben. Auf dem Lande sind es mindestens 90 %, wie das nordelbische „Eckernfördeprogramm“ herausfand. Denn normalerweise kennt in den Dörfern sogar die gesamte Einwohnerschaft „ihre“ evangelische PastorIn. Das ungewöhnlich gute Image der PastorInnenschaft als Haupterwartungs- und Sympathieträger, als Sozialisationsgaranten und Gemeinderepräsentanten motiviert die klare Mehrheit der Kirchenglieder (und Kirchensteuerzahler), das steht für die 4. EKD-Mitglieder- Befragung von 2002 wie schon für ihre drei Vorgängerinnen eindeutig fest, zu einem eindringlichen Plädoyer für eine „gemeindlich-pastorale Betreuungskirche“, in der die persönliche Begegnung mit PastorInnen keineswegs jederzeit, überall und für alle, wohl aber in Notsituationen und an allen existentiell wichtigen Punkten des Jahreskreises und Lebenslaufes gezielt erwartet wird. Eine „Beteiligungskirche“, wie sie sich auch das Impulspapier so sehnlich wünscht, wird dagegen mit großer Mehrheit ausdrücklich abgelehnt: 64 % der Kirchenmitglieder im Westen (55% im Osten) beteiligen sich dezidiert nicht an den sonntäglichen Gottesdiensten, den wöchentlichen Gruppen und Kreisen oder den jährlichen Gemeinde-Events. Die Ablehnung jeder aktiven Mitarbeit ist noch viel stärker: nur ca. 4% der Kirchenglieder arbeiten ehrenamtlich mit. Hieraus darf jedoch keinesfalls auf ein grundsätzliches Desinteresse an kirchlicher Tätigkeit geschlossen werden: Das ist die übereinstimmende Botschaft der EKD-Mitgliedschafts- Befragungen von 1972-2002. Ganz im Gegenteil: in einer Gesellschaft, in der immer mehr persönliche Begegnungsfelder wegrationalisiert und viele Erfahrungen nur noch medial vermittelt oder dem Dschungel kommerzialisierter Privatisierung überlassen werden, erwarten die Mitglieder von ihrer Kirche weiterhin direkte persönliche und professionell verlässliche Begegnungen durch GemeindepastorInnen, die sie dann auch mit ihren Kirchensteuern gern finanzieren wollen. Darum sollte gerade eine um den organisatorischen Weiterbestand der EKD so besorgte Kirchen-leitung auch für das Jahr 2030 noch die gute pastorale Versorgung der Gemeindeglieder finanziell absichern wollen und sich darüberhinaus glücklich schätzen, dass die PastorInnenschaft – so die entsprechenden Befragungsergebnisse – die große Herausforderung einer umfassenden professionell-pastoralen Betreuung tatsächlich übernimmt und sich dabei auch von den haupt- und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen ihrer Gemeinden tatkräftig unterstützt sieht, wenn pfarramtliche Seelsorge und Verkündigung, vor allem in der großen Kasualgemeinde, die befreiende Botschaft von Gott, dem Schöpfer, Erlöser und Heiliger allen Lebens, ausnahmslos allen Kirchengliedern auf ihrem beschwerlichen Lebensweg immer wieder von Neuem heilsam und heilend versprechen. 2.2 Problematische Argumentationsmuster der Kirchenleitung (a) Unzulässige Zuordnung von gestiegener Pastorenzahl zu verringerter Kirchengliederzahl: Vermutlich wäre die Kirchenglieder-Mehrheit sehr erstaunt, zu hören, PastorInnen hätten – vielleicht weil zu gering qualifiziert - nichts zum Erhalt des Kirchenglieder-Bestandes beigetragen, da die gestiegene PastorInnen-Zahl den Rückgang der Kirchengliederzahl nicht verhindert habe. Dieses von der Kirchenleitung seit über zehn Jahren wiederholt strapazierte Argument sollte endlich aus dem Diskussionsverkehr gezogen werden, weil es mehrere Sachverhalte verzerrt. Unsere hannoversche Pfarrvertretung hat das wiederholt angemahnt: - Es ist soziologisch unzulässig, ohne eingehende Untersuchungen für einen so komplexen sozialen Vorgang wie z.B. die Entwicklung der Kirchenzugehörigkeit nur eine Ursache zu unterstellen. Sonst könnte man auch einmal umgekehrt fragen, wieviele Kirchenglieder wohl noch zusätzlich ausgetreten wären, hätte sich die Zahl der PastorInnen nicht derart erhöht. - Dabei lassen sich in der hannoverschen Landeskirche für die letzten 50 Jahre (1954 - 2004) interessante Zahlenverhältnisse benennen, die vermutlich auch für andere Landeskirchen in der EKD gelten: Die Zahl der Kirchenglieder ist von 3,9 Mio. auf 3,1 Mio, dh um 20,5% gesunken. Die Zahl der GemeindepastorInnen liegt leicht unter dem Stand von 1954, die Zahl der übergemeindlichen PastorInnen ist jedoch um ca. 400% gestiegen. Die Zahl der MitarbeiterInnen stieg sogar um 600%, von ca. 5000 auf ca 30.000, darunter 6000 in Kindertagesstätten; bei Vollzeit-Stellen beträgt die Steigerung 400%, von ca. 1.700 auf ca. 7000, davon 1000 in Kindertagesstätten. - Wenn also eine Erhöhung der Zahl der Mitarbeitenden für den Stand der Kirchengliederzahl bedeutungslos (oder gar schädlich?) sein soll, dann wäre doch zuerst zu fragen, wie sinnvoll für die kirchliche Organisation die extreme Zahlenerhöhung übergemeindlicher Pfarrstellen, insbesondere aber der atemberaubende Anstieg von Mitarbeiterstellen bisher war. Erst danach wäre zu fragen, warum die Zahl der Gemeindepfarrstellen nicht parallel mit der Zahl der Kirchenglieder um 20,5 % gesunken ist. Dieser vergleichsweise bescheidene „Anstieg“ könnte allerdings mühelos mit den gestiegenen Anforderung an pastorale Gemeindearbeit während der vergangenen fünfzig Jahren erklärt werden. - Darum ist es auch eine von den im EKD-Papier mehrfach begegnenden falschen Gewichtungen zulasten der PastorInnenschaft, wenn auf S. 28 formuliert wird: „Obwohl die Zahl der Gemeindeglieder in den letzten dreißig Jahren um mehrere Millionen Menschen zurückgegangen ist, stieg die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, namentlich im Pfarrdienst, erheblich an.“ - Pikanterweise beklagt das EKD-Impuls-Papier - vermutlich auch mit pastoren- kritischer Absicht - den Rückgang der Kasualien in den Jahren von 1991-2003. Doch hier kann man ‚den Spieß’ nun einmal ‚umdrehen’: Denn dies ist nahezu exakt der Zeitraum, in dem viele Gemeinde-Pfarrstellen gestrichen worden sind. (b) Unreflektierte Fortschreibung des Gerüchtes von der „milieuverengten Gemeinde“: Natürlich reicht das EKD-Papier wieder das Gerücht von der „milieuverengten Gemeinde“ weiter, ohne endlich anzuerkennen, was für Gemeinden und Gesellschaft offensichtlich ist: Im Gegensatz zu den kirchlichen Diensten und Werken, die stets nur bestimmte Zielgruppen ansprechen können, erreicht gerade die parochiale Ortsgemeinde durch ihre beiden größten Teilgemeinden im Veranstaltungs- und vor allem im Kasual-Bereich als einzige kirchliche Handlungseinheit wirklich alle Kirchenglieder und Kirchensteuerzahler. Allenfalls die beiden kleinen parochialen Teilgemeinden des Gottesdienstes und der Gruppen könnten als „milieuverengt“ bewertet werden, wenn man die Festgottesdienste übergeht. Erreicht werden alle Gemeindeglieder in erster Linie durch GemeindepastorInnen, die Zugang zu allen vier Teilgemeinden haben, insbesondere zu der Kasualgemeinde, der auch die 70- 80% kirchlich Distanzierten angehören. Freilich „bezahlen“ die GemeindepastorInnen diesen zentralen Brücken- und Vermittlungsdienst zwischen den vier Teilgemeinden mit 55 Arbeitsstunden pro Woche und zahlreichen Konflikten! (c) Verschweigen der Personalkosten für MitarbeiterInnen in Höhe von 4,5 Milliarden Euro: Wieder begegnet im Impuls-Papier eine eigenartige Argumentation, die den Pfarrvertretungen schon mehrfach bei der EKD aufgefallen ist: Die Personalkosten der 20.400 PastorInnen in der EKD werden mit 1,5 Milliarden Euro klar benannt und mit sorgenvoller Miene auf die Kirchensteuer in Höhe von 4 Mrd. € bezogen, ohne zu sagen, dass 1,5 Mrd. € nur 15% der EKD-Gesamteinnahmen von ca. 10 Mrd. € sind. Doch die weitaus bedrohlichere Summe von 4,5 Milliarden € Personalkosten für die 233. 000 MitarbeiterInnen verschweigt das Impulspapier. Ganz im Gegenteil: die erdrückend große MitarbeiterInnen-Zahl wird rasch heruntergerechnet zu 150.000 Teilstellen, ohne Angabe des ungefähren Dienstumfanges (Teildienst beginnt ab 37 W-Stunden) und ohne Erwähnung der dann immer noch verbleibenden 83.000 Vollzeitstellen, doch mit beschwichtigendem Hinweis auf die zu 80% fremd-finanzierten KindergärtnerInnen, die allerdings nur ca. 20% der EKD-Mitarbeiter- schaft ausmachen, was wiederum unerwähnt bleibt. An keiner Stelle nennt das EKD- Papier eine geplante Reduktionszahl von MitarbeiterInnen-Stellen bis 2030! Verdanken sich diese Merkwürdigkeiten und die - im Gegensatz zur sublimen PastorInnen- Schelte - auffallend einfühlsame und wertschätzende Rede über MitarbeiterInnen vielleicht dem Umstand, dass auf EKD-Ebene wohl MitarbeiterInnen, nicht aber PastorInnen eine offizielle Vertretung haben? (d) Selbstreferentielle Haltung der Kirchenleitung als Definitions- und Verteilungsmacht: Dieser kirchenleitende Selbstbezug belegt noch einmal eindrücklich, wie wenig die Kirchenleitung gewillt ist, ihre Definitions- und Verteilungsmacht offenzulegen und hinterfragen zu lassen: Da wird ohne Beleg als „Erfolgsmodell“ gelobt, was die Kirchenleitung initiiert und teilweise sogar selbst durchgeführt hat: Maßnahmen der Personalentwicklung wie Jahresgespräche sowie Aus-, Fort- und Weiterbildung, „Profilgemeinden“, „Citygemeinden“, sog. „Kirchenzentren“ wie Berliner Dom, Dresdener Frauenkirche, Hamburger Michel u.a. mehr. Obwohl das Impulspapier die Parochie-Gemeinde als zentrale Grundlage kirchlich-religöser Beheimatung, insbesondere durch die Kasualien, ausdrücklich anerkennt und auf die extrem wichtige Beziehungsarbeit der GemeindepastorInnen mahnend hinweist, sollen aufgrund kirchenleitenden Selbstlobes ohne jede Erfolgskontrolle die Finanzmittel für Ortsgemeinden halbiert, für „Profil-gemeinden“ mehr als verdoppelt und für sog. „netzwerkorientierte“ Akademie-, Tourismus- und Passantengemeinden sogar verfünffacht werden: abenteuerliche Vorschläge, die man wirklich nur mit Klaus Weber als „Abschied von der Volkskirche“ entlarven kann! Wie deutlich die Kirchenleitung ihre Verteilungsmacht zu nutzen gedenkt, wird nicht zuletzt auch daran deutlich, dass zur Erarbeitung des 3. Arbeitsschrittes der vorgeschlagenen Themenagenda so eben einmal 3 Millionen Euro pro Jahr verlangt werden. Das ist nicht weniger als der Geldwert von immerhin 45 Pfarrstellen für etwa anderthalb Kirchenkreise mit ca. 100.000 Gemeindegliedern! (e) Theologisch ungewichtetes betriebswirtschaftliches Denken: Das organisatorische Handeln der Kirche ist stets an Bibel und Bekenntnis zu messen. Darum muss auch ein betriebswirtschaftliches Denken, wie es das Impuls-Papier in vielen Teilen bestimmt, bei jedem seiner Gestaltungsschritte an der Evangeliumsbotschaft von der in Jesus Christus erschienenen Liebe Gottes zu uns Menschen überprüft werden. Nach dieser kritischen Prüfung könnte unsere Kirche dann jedoch Entscheidendes von moderner Betriebswirtschaft übernehmen wie z. B. - ein transparentes Finanzsystem, das alle Einnahmen und Ausgaben für jedes Kirchenglied und jeden Entscheidungsberechtigten sofort nachvollziehbar darstellt; - eine rationalere Gewichtung kirchlicher Ausgaben, so dass die Hauptausgaben für die Hauptaufgaben verwendet werden,; - eine kritische Kosten-Nutzen-Analyse aller gegenwärtig beliebten Vorhaben wie Fundraising, Stiftungen, Innovationsprojekte u.a. nach den Grundsätzen von Non- Profit-Organisationen; - die erhebliche Reduktion der Verwaltung und anderer kirchlich sekundärer Bereiche: für einen Kirchenkreis haben wir einmal festgestellt, dass in den letzten 30 Jahren die Zahl der Gemeindeglieder um 17%, die der Pfarrstellen um 35% sank, doch die Zahl der Verwaltungsstellen gleich blieb und sogar ein weiterer Mitarbeiter eingestellt worden war. Doch bei all diesem durchaus sinnvollem betriebswirtschaftlichen Bemühen darf das Handeln der Kirche in Seelsorge, Verkündigung, Unterweisung und Diakonie niemals zur organisatorisch opportunen „Mitgliederpflege“ und „Mitgliedergewinnung“ verkommen, sondern muss ein wunder-barer Weg für die Liebe Gottes zu den Menschen bleiben. Auf überraschende Weise wird dann gewiss auch der notwendige organisatorische Bestand der Kirche bewahrt, wie dies schon heute an den in der ganzen volkskirchlichen Breite arbeitenden Gemeinden mit ihren engagierten PastorInnen, hauptamt-lichen MitarbeiterInnen und ihren zahlreichen ehrenamtlich tätigen Gemeindegliedern ablesbar ist. Darum sollten wir mit Professor Christian Möller auch das EKD-Impuls-Papier in Luthers gelassener Sicht lesen und weiter für unsere Kirche arbeiten, als ob alles Beten nichts nützt, und in ihr und mit ihr und für sie beten, als ob alles Arbeiten nichts bewirkt. (f) Ausschluss der PastorInnenschaft von Erstellung und Diskussion des EKD-Impuls- Papiers: Hier ist das Fehlen eines kirchenleitenden Mentalitätswandels am stärksten spürbar. Es scheint, als wolle die EKD-Kirchenleitung selbst bestätigen, was PastorInnen oft genug heftig beklagen: den „kommunikativen Graben“ zwischen der Kirchenleitung und ihnen. Denn es ist nun rational nicht mehr nachvollziehbar, wenn die Kirchenleitung der EKD von der Erstellung des Impulspapiers wie von seiner Bearbeitung auf dem Zukunftskongress in Wittenberg ausgerechnet jene kirchliche Dienst-gruppe ausschließt, die gerade nach kirchenleitender Erkenntnis von zentraler Bedeutung für die Zukunftsgestaltung der Kirche sein soll. Erfolgreich arbeitende Wirtschaftsbetriebe, die im Impuls-papier ja immer wieder unterschwellig auch als Vorbilder für die Kirche fungieren, arbeiten so gerade nicht. Sie beteiligen an betrieblichen Zukunftsprozesse umgehend ihre wichtigsten Leistungsträger, damit sie deren Motivation und vor allem deren Sachverstand nutzen können. Es bleibt darum schlicht unverständlich, warum eine Kirchenleitung, die ihrerseits gegenwärtig kaum über gemeindlich-pastorale Erfahrungen verfügt, unter Ausblendung ihrer eigenen „Good-Practice“- Perspektive die umfangreichen, vielfältigen und für die Zukunftsgestaltung der Kirche dringend benötigten Erfahrungen, Kompetenzen und Ideen der PfarrerInnenschaft nicht intensiv abruft, sondern stattdessen zunächst einmal Hilfe bei Controllern und Qualitätsmanagern von McKinsey sucht! Eine solche irrationale Missachtung eigener Experten und ihres Berufswissens ist im Bereich des modernen Staates und seiner Zivilgesellschaft nicht mehr vorstellbar: hier wirken Ärzte, Richter, Professoren, Lehrer und ihre verschiedenen Berufsverbände an jeder geplanten Umstrukturierung im Gesundheits-, Justiz-, Hochschul- oder Schulwesen selbstverständlich von Beginn an führend mit. Ganz anders die Intention einer evangelischen Kirchenleitung, die zwar in anrührenden Worten für eine neue Kultur der Beteiligung an einer „Kirche der Freiheit“ wirbt, doch damit auf keinen Fall ihre Pfarrerinnen und Pfarrer oder die volkskirchliche Basis der nur noch zur Hälfte erwünschten Orts-gemeinden anspricht, sondern vielmehr einen Reformweg wählt, der bisher nur noch in der katho-lischen Kirche vorstellbar schien: herrschaftliches Top-Down, das schon weiß, was der Kirche gut tut! 3. Diese kritischen Anmerkungen zu mehreren Aspekten des noch ausstehenden Mentalitätswandels der Kirchenleitung wollen nicht das Impulspapier selbst verwerfen. Sie möchten lediglich zu dessen Weiterentwicklung ermutigen und deshalb die EKD- Kirchenleitung bitten, ihre Absicht, PastorInnen und ihre VertreterInnen vom Wittenberger Zukunftskongress Januar 2007 auszuschließen, noch einmal ernsthaft zu überdenken. Doch wie auch immer die Kirchenleitung sich entscheidet: Alle PastorInnen in unseren Landeskirchen sind herzlich eingeladen, genau das in den Diskussions-prozess einzubringen, wonach das Impulspapier so intensiv als „good practice“ fahndet: nachahmenswerte Beispiele gemeindlich-pastoraler Erfahrungen, wie sie im Übrigen in vielen Gemeinden unserer Landeskirchen längst anzutreffen sind. Eine gute Gelegenheit, solche Good-Practice-Beispiele vorzustellen und sich dabei konstruktiv-kritisch mit dem Impulspapier weiter auseinanderzusetzen, möchte der diesjährige „Hannoversche Pfarrertag“ vom 12. März 2007 in Hannover, Mühlenberg, bieten, auf dem Professorin Isolde Karle unter dem Thema: „Durch pastorale Arbeit Ortsgemeinde stärken“ auch zu den Thesen der EKD Stellung nehmen wird. (Pastor i.R. Herbert Dieckmann, Vorsitzender des Pastorenausschusses der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers) Biographische Notiz: H.D: Herbert.Dieckmann@evlka.de, Jg 1940, P.i.R. u. M.A. soz. Theologiestudium in Oberursel, Heidelberg, Münster, Göttingen, 1967-1989: Vikariat in Hannover, Gemeindepfarrer in Ostfriesland und im Landkreis Hannover, sozialwissenschaftl. Zusatzstudium an der TU-Hannover und Mitarbeit im KDA-Hannover, 1989 –2005: Schulpastor an Gymnasien in Hameln, seit 1997 Mitglied des hannoverschen Pastorenausschusses (PA), seit 2003: Vorsitzender des PA, seit 2005 im Hannoverschen Pfarrvereinsvorstand.